Rachida Zoubid

Meine Halbgeschwister mütterlicherseits

 
Im Jahre 1950, kurz nach der ersten Scheidung meines ältesten Onkels, wurde meine Mutter einem anderen älteren, jedoch liebevollen, und ebenfalls farbigen Geschäftsmann aus der städtischen Azrou im mittleren Atlas verheiratet. Sie wusste, dass es diesmal nicht mehr möglich war, ihn abzulehnen und wieder von seinem Zuhause abzuhauen. Derzeit wusste sie, was auf sie zukommen würde und, dass sie eine eigene Familie haben würde. Trotzdem hörte sie nicht auf, an die Todesumstände ihrer verstorbenen Schwester zu denken. Sie dachte, sie würde auch bei der Entbindung umkommen.
Die neue Hochzeit war noch feierlicher und ehrenvoller als die Erste. Dabei durfte sie einen lichtdurchlässigen Schleier tragen, weil sie bereits verheiratet war bzw. geschieden war. Sie dachte, es war ihr Schicksal schwarze Bräutigams zu haben und vor eigenem Schicksal, meinte sie, kann eine Frau nicht fliehen. Sie sah ihr Bräutigam zum ersten Mal und fand ihn anziehend und liebevoll trotz seines farbigen Teints. Er hatte schön aussehende Gesichtzüge und war groß und schlank. Seine Stimme klang herzlich. Meine Mutter mochte ihn und fühlte sich zum ersten Mal seit dem Verschwinden ihres Vaters und dem Tod ihres Großvaters geborgen.
Zehn Monate nach der Hochzeit brachte sie einen matthäutigen schönen Sohn zu Welt. Er war der Stolz der Familie. Ihr Ehemann war sehr glücklich und verwöhnte sie rund um die Uhr. Er und seine Brüder waren Händler und besaßen seit Generationen Lebensmittelläden in Azrou sowie Dattelpalmenplantagen in den Oasen von Ghriss, ein Gebiet nächst der Stadt Errachidia in der Region Tafilalt. Die Geschäfte liefen sehr gut. Ein Jahr nach der Geburt meines Halbbruders Mohammed Rafik gebar meine Mutter ihr zweites Kind, meine dunkelhäutige Halbschwester Najma. Der stolze zweifache Vater war sehr glücklich und feierte jede Geburt, als wäre sie eine Hochzeit. Er hatte eine gute Beziehung zu den Brüdern meiner Mutter. Doch dauerte auch dieses Glück nicht lang. Er wurde bei einem Unfall in seinem Laden getötet, als viele große überfüllte Tonkrüge auf ihn fielen und ihn töten, während er bettete.
Sein Tod war ein Schock für seine Familie und vor allem für meine Mutter, die im frühen Alter verwitwet war. Obwohl er wohlhabend war bekam meine Mutter kein Erbe, da seine Brüder wussten, dass sie noch jung war, um alles selbst richtig verwalten zu können. Außerdem befürchteten sie, dass sie wieder heiraten würde und aus dem Familienbündnis käme.
Als sie sich entschied im Hause ihres Vaters mit ihren kleinen Kindern zu leben, lehnte ihr ältester Bruder dies endgültig ab. Ihre Mutter bejahte die Entscheidung ihres ältesten Sohnes und unterstützte sie überhaupt nicht bei ihrem Vorhaben. Sie ging zurück mit ihren Kindern nach Azrou, wohnte noch einige Monate im Hause ihres verstorbenen Ehemannes und suchte sich eine bezahlte Arbeit bei einer französischen Familie in Azrou. Tagsüber schickte sie die kleinen Kinder in die Koranschule. Manchmal durften sie sie sogar zur Arbeit begleiten. Die Familie bei der sie als Küchenhilfe arbeitete war im College Tarik Ibn Ziad angestellt. Sie waren beide Lehrer und hatten Kinder. Nach einigen Monaten wurde die französische Familie nach der Städtischen Gemeinde Ifrane versetzt.
Meine Mutter zog auch dorthin um. Sie fand, dank der französischen Familie, eine besser bezahlte Stelle als Küchenhilfe in einem Hotel. Dort lernte sie mein Vater kennen. Er war als Chefkoch angestellt und sie war seine Aushilfe. Ab und zu schleppte sie die beiden Kinder mit in die Hotelküche. Der Chefkoch, bewunderte ihre Schönheit, ihre Geschicklichkeit und Ordentlichkeit sowie ihre Zurückhaltung und nicht zuletzt die Art, wie sie mit ihren Kindern umging. Sie tat ihm auch meistens sehr leid, da sie selbst noch ein Kind war und bereits eine große Verantwortung tragen musste. Sie sollte sich und die Kinder versorgen sowie auf sie aufpassen. Sie sprach auch wenig, war sehr zurückhaltend und erzählte wenig von ihrer Familie bzw. von ihren Brüdern. Eines Tages besuchte sie ihr ältester Bruder, um ihr mitzuteilen, dass er zum zweiten Mal heiratete und sich scheiden ließ, da ihm wieder die zweite Ehefrau eine Tochter gebar. Er verließ sie und die neugeborene Tochter mittellos. Meine Mutter war wieder enttäuscht von ihm, weil er sein Blut und Fleisch vernachlässigte und sogar ablehnte. Ihr Vater und ihr verstorbener Ehemann liebten ihre Töchter genauso wie ihre Söhne. Sie konnte nicht erklären, warum er sich so benahm. Sie selbst ist weiblich und wollte nicht auf ihre Kinder verzichten und sie ihrer Schwiegerfamilie anvertrauen. Er ist männlich und verzichtete auf seine Frauen und seine frisch geborenen Töchter. Und wieder wurde eine dritte Enkelin meiner Großmutter von ihr in Stich gelassen. Als der verantwortungslose Bruder bemerkte, dass seine verwitwete Schwester gutes Geld verdiente, wurde er gierig und fragte sie immer wieder nach Bargeld, angeblich für die Mutter und für die Ausbildung ihres jüngsten Bruders. Doch glaubte sie ihm kein Wort, da sie bereits von ihrer Mutter erfuhr, dass er Vieles des Familienlandguts verkaufte und das Geld bei seinen nächtlichen Sünden verschwendete.
Es verliefen kaum zwei Jahre nach der Verwitwung meiner Mutter, dass sie sich traute, wieder zu heiraten. Der Chefkoch des Hotels, wo sie als Küchenhilfe arbeitete verliebte sich von Kopf bis Fuß in sie. Er verliebte sich gleichzeitig in ihrer waisen Kinder und versprach ihr, ihnen ein guter fürsorglicher und zuverlässiger Vater zu sein. Er hielt um ihr Hand ganz offiziell bei ihrer Familie in Mrirt. Meine Mutter wollte keine dritte Hochzeit feiern, da sie dachte, Feierlichkeiten würden der Familie und ihr insbesondere Unglück bringen. Trotz des großen Seelenschutts verging ihre Schönheit nicht. Sie blieb optimistisch bis ihrem unerwarteten Abschied von diesem Leben. 
Sie erzählte uns Mädchen ungern davon. Ich war immer neugierig und wollte immer mehr wissen, aber immer wenn sie sich an dieser Lebensabschnitt erinnerte, wurde es ihr schlecht und sie litt sehr oft an starken Migräneanfällen.  

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