Jan Schönherr

Das Mädchen und der Tod


Die Sonne lächelt mir mit Wonne entgegen, als ich aus der Haustür trete. Es ist einer der warmen Herbsttage, an denen man denkt, dass man einfach einen Spaziergang machen muss, um die Natur für dieses Jahr zu verabschieden. Während der Woche hat es ziemlich oft geregnet und gestürmt, sodass sich nun die Sonnenstrahlen in den Pfützen spiegeln, wenn ich meinen Sonntagsmarsch vollziehe. Ich gehe gerne sonntags spazieren, man kann nicht verleitet werden irgendetwas zu kaufen und es sind nur halb so viele Menschen unterwegs, wie in der zeitgeplagten Woche. Wegen dieser zwei Gründe hat man auch nichts Besseres vor.
Somit beginne ich mit meiner üblichen Runde. Sie führt mich erst meine Straße ein Stück herab und dann durch einige Gassen zu einer idyllischen Gegend am Rande der Stadt. Kleine Häuser reihen sich hier aneinander, sodass sich die Nachbarn fast aus den Fenstern lehnen könnten, um sich so die Hand zu reichen. Das wäre zwar nicht meine Vorstellung vom gemütlichen Wohnen, aber die Menschen hier scheinen zufrieden zu sein. Es kommt mir fast so vor, als würden sie für die ganze Stadt mit lächeln, wenn sie sich um ihre kleinen Gärten kümmern oder darin mit ihren Kindern und Haustieren spielen. Oftmals werde ich ein wenig traurig wenn ich alleine an diesen Menschen vorbei gehe. Aber heute nicht, heute will ich mich nicht von meinen üblichen Gedanken einnehmen lassen. Das habe ich schon zur Genüge getan.
So gehe ich also weiter, bis die Häuser auf der einen Seite verschwinden und sich ein Waldstück an die Straße angrenzt. Dann überquere ich die Straße, um unter den Bäumen zu laufen. Ich weiß auch nicht warum ich das mache, aber es ist einfach eine Angewohnheit, die ich mir auch heute nicht abgewöhnen werde. Es wäre in der Sonne zwar wärmer, doch ich gehe unter den letzten bunten Blättern der Bäume, wie wir es immer taten, früher.
Nach wenigen Minuten sehe ich schon die Mauer, die sich durch die Bäume schlängelt und an der Straße mündet. Ich lege meine Hand auf das kalte Gestein und lasse sie ein Stück beim Laufen darauf entlang streifen. Dann schaue ich sie mir an, alles normal, nur ein paar kleine Kratzer sind hinzugekommen. Ja, die Steine sind kalt, wie immer zu dieser Jahreszeit, obwohl sie auch im Sommer noch einen kalten Schauer über den Rücken jagen können, da sie immerhin einen Friedhof eingrenzen. Es ist wahrlich der schönste und friedlichste Friedhof, den wir je gesehen haben, aber trotzdem ändert das nichts an seinem Sinn. Ruhelose Geister sollen hier ihren letzten Standort akzeptieren und verstummen. Auf jeden Fall habe ich hier noch nie eine Stimme vernommen. Selbst die Lebenden sind leise auf einem Friedhof. Nur das Zwitschern der Vögel verstummt nicht, aber das ist im Herbst nun mal auch eine seltene Angelegenheit. Es kann einen schon Angst einjagen oder zumindest Ehrfurcht erwecken, wenn man das alles betrachtet, aber trotzdem trete ich durch das große Metalltor und gehe hinein.
Verschiedenste Grabsteine und Gruften stehen in Reihe aufgestellt und erinnern uns an die Menschen, die es einmal gab. Wahrlich nicht schön, wenn aus einem Lebenden nur noch ein kalter Stein wird, der denselben Namen trägt. Ich gehe über die einzelnen Schotterwege und bewundere die schönen Gräber der erst kürzlich Verstorbenen. Es ist interessant, wenn man beobachtet wie in den ersten Monaten immer weniger Blumen auf die frische Erde gelegt werden, bis vielleicht nur noch aller drei Monate eine Firma kommt, die sich mehr oder weniger liebenswert darum kümmert.
Ich weiß noch, wie sie immer meinte, dass es wichtiger ist an den Menschen zu denken anstatt Blumen dem gleichen Schicksal auszuliefern, indem man sie herausreißt und ihnen das menschliche Verwelken innerhalb weniger Tage nachspielen lässt. Das fand sie schon immer zu grausam. Lieber sollte man ein paar kleine Blumen richtig einpflanzen, sodass sie Kraft aus dem menschlichen Dünger ziehen können. So kann der Mensch auch als materielle Sache seinen Nutzen erbringen, wie es die Natur vorgesehen hat.
Nachdem mein Geist wieder Ruhe vor dem Gedanken gefunden hat, laufe ich die letzten Schritte mit Wehmut bis zu der Bank, auf der ich immer eine kleine Verschnaufpause einlege. An sich ist heute alles wie immer, wie jeden Herbst. Mit dem Gedanken der Vertrautheit und Ruhe beginne ich etwas zu dösen...
Doch dann mit einem Schlag werde ich aus dem Halbschlaf gerissen. Ein lauter Schrei war zu hören. Ich springe sofort auf und schaue mich schreckhaft um. Nichts zu sehen, nichts außer fallenden Blättern, die von davon fliegenden Vögeln gelöst wurden. Dann wieder ein Schrei. Es muss ein Kind sein und es klingt als wäre es in Gefahr. Ich laufe los, in die Richtung, aus der ich den Schrei vermute. Ich springe durch die Bäume und Gräber, dann um eine Gruft am Ende des Friedhofes herum. Ich halte noch einmal inne, um zu lauschen. Nichts, nichts dringt an mein Ohr. Ich schaue schnell umher, um etwas zu erkennen. Kurz darauf höre ich ein leises Stöhnen. Ich laufe ein Stück weiter. Dann entdecke ich hinter einem großen Baum eine Leiter, die an der Mauer des Friedhofes lehnt. Darunter befindet sich ein kleines Loch. Ich springe auf das Loch zu und lasse mich an seinem Rand auf die Knie fallen. Ein kleines Mädchen liegt reglos darin. Ich steige in das nicht einmal ein Meter tiefe Loch, umfasse das Mädchen und hebe sie heraus. Dann lege ich sie auf weiches Laub und erfühle ihren Puls. Ihr Herz schlägt sehr schnell, aber das ist nach dem Sturz wohl normal. Ich hebe ihren Kopf etwas.
„Bist du okay? Kannst du mich hören?“, frage ich. Keine Reaktion. Ich schlage ihr sanft auf die Wange.
„Hallo? Kannst du mich hören?“. Dann eine Bewegung, sie öffnet leicht das eine Auge.
„Pssssst“, macht sie nur und schließt das Auge wieder. Ich schaue sie fragend an.
„Ich verstehe das nicht“, sage ich. Da sie nicht verletzt zu seien scheint, hebe ich sie auf meinen Schoß und schaue sie verwundert an. Sie versucht sich nicht zu bewegen. Ihr Gesicht ist etwas unter dem blonden Haaransatz zerkratzt. Ein wenig roter Glanz tritt hervor, den ich mit einen Taschentuch wegwische.
„Wie geht es dir? Ich verstehe nicht, was du hier gemacht hast“, sage ich, um die entstandene Stille zu durchbrechen.
Sie schlägt die Augen auf und entgegnet mir lautstark: „Ihr Erwachsenen versteht doch nie etwas!“. Die Worte scheinen wie tausendmal geprobt aus ihr heraus zu sprudeln und doch schwer auf dem Herzen zu liegen. Sie presst die Augen wieder zusammen und ich sehe wie sich kleine Seen voller Trauer füllen und dann in Flüssen die Wangen herab kullern. Ratlos, was jetzt die richten Worte wären, halte ich sie einfach fest und biete ihr Wärme bei ihrem kalten Schluchzen.
Erst nach Minuten scheint sie sich langsam wieder zu beruhigen. Ihre Finger lösen ihren festen Griff von meiner Jacke und sie richtet sich auf. Mit großen Hundeaugen schaut sie mich nun an.
Nach kurzer Stille unterbreche ich das Schweigen; „Was machst du hier und was verstehen wir Erwachsenen denn nicht?“
Auf die Frage scheint sie etwas gereizt zu reagieren, fängt sich dann aber wieder und beginnt zu erzählen. „Es klingt vielleicht komisch, aber ich bin hier jeden Tag, jeden einzelnen Tag seit drei Wochen, obwohl hier keiner liegt, den ich kenne. Soweit soll es ja auch nicht kommen, deswegen bin ich hier. Ich schütze meine Mum davor hier ihr letztes Bett zu beziehen. Du musst wissen, dass sie früher immer zu mir gesagt hat, dass auf diesem Friedhof der Tod zuhause ist. Da hatte ich auch immer Angst, wenn wir hier vorbei gelaufen sind, dass er mich holt. Dann meinte meine Erzieherin im Kindergarten, dass der Tod nur die holen darf, die einen Unfall hatten oder krank sind. Seitdem konnte ich ohne Herzklopfen an dem Friedhof vorbei gehen. Doch kaum, dass ich das überstanden hatte, lies mich das Thema nicht wieder los. Denn vor vier Wochen ist meine Mum krank geworden. Nun bin ich jeden Tag hier und versuche den Tod zu beschäftigen.“ Dann wurde sie ruhig.
Ich lasse das Gesagte etwas setzen und überlege wie ich nun richtig auf sie eingehen kann, da ich nicht möchte, dass sie wieder weint. „Du hältst also den Tod hin? Liegt das an deiner Mum?“, frage ich sie und sie antwortet wie aus der Pistole geschossen; „Genau, also immer wenn er vielleicht gerade aus seiner Gruft steigt und losgehen will, um meine Mutter aus dem Krankenhaus zu holen, lenke ich ihn ab.“
„Du hast dich also vorhin absichtlich in das Loch geworfen?“, frage ich.
„Ja genau, der Tod holt ja nur diejenigen, die krank sind oder einen Unfall haben. Also täusche ich einen Unfall vor, damit er von meiner kranken Mum absieht. Ich habe ihn zwar noch nicht gesehen, aber ich glaube, dass es klappt. Immerhin lebt sie noch, obwohl die Ärzte meinten, dass es schlecht aussieht. Ich habe sie nämlich belauscht, als sie mit meiner Tante geredet haben.“
„Was sagt denn dein Vater dazu?“
„Mein Vater ist schon seit über einem Jahr tot. Ein rücksichtsloser Autofahrer hat ihn mit dem Auto erwischt und er ist kurz darauf im Krankenhaus gestorben. Immer, wenn ich deswegen traurig war, meinte meine Mutter 'Gott hat ihn zu sich geholt.'. Wenn ich sie dann fragte, ob Gott ins Krankenhaus kam, meinte sie nur, dass der Tod alle Menschen holt. Seitdem habe ich Angst vor ihm gehabt, aber nun musste ich die Angst überwinden. Wenn meine Mum stirbt, habe ich niemanden mehr.“ Sie beginnt wieder zu weinen. Ich kann sie verstehen, es ist eine tragische Geschichte, die sie durchmachen muss.
Sie weint und weint, aber ich weiß nicht wie ich ihr Trost spenden soll. Ihre Tränen dringen langsam durch meine Sachen, aber sie kann nicht aufhören. Minuten vergehen, ich lasse das Erzählte noch mal durch meinen Geist schwirren und bemerke dann, dass auch mir eine Träne entweicht. Es wühlt alte Geschichten von mir wieder auf.
Ich blieb den Tag noch lange bei ihr sitzen und streichelte ihr durchs Haar, bis sie dann, als die Sonne unterging, meinte, dass sie jetzt zu ihrer Tante gehen müsse. Die Tante sei zwar nicht gerade nett, aber irgendwo muss sie ja hin. Ihre Mum hat ihr nicht erlaubt alleine zuhause zu bleiben, was meiner Meinung nach auch richtig ist. Ein kleines Kind braucht jemanden der aufpasst, auch wenn sie mir teilweise schon ziemlich reif für ihr Alter zu sein scheint.
Es ist schon tiefste Nacht als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschließe. Ich habe meinen Spaziergang noch um ein zwei Stunden erweitern müssen, da ich so keine Ruhe finden konnte. Nun, kurz vor Mitternacht, lasse ich meine Schuhe stehen, die Jacke hängen, mache einen kurzen Abstecher ins Bad und lege danach meinen kraftlosen Körper und meinen unruhigen Geist in die kalten Laken meines Bettes. Obwohl ich müde bin und kein Leben in der Wohnung ist, finde ich keinen Schlaf. Wenn ich mich mal nach langer Zeit von dem Gedanken lösen kann, verfolgt mich das Schicksal des Mädchens im Traum und ich bin kurz darauf wieder wach.
Wie es immer ist, scheucht einen der Wecker dann aus dem Bett, wenn man gerade die Augen geschlossen hatte. Ich stehe auf, mache die Seite des Bettes in der ich gelegen habe und stelle mich dann unter die Dusche. Als ich abgetrocknet vor dem Spiegel stehe, streiche ich mir über die Wange.
„Wie es aussieht, sollte ich mich an einen Montagmorgen wohl mal rasieren“. Mein Spiegelbild schaut gelangweilt auf diese Aussage zurück. Dann öffne ich den Spiegelschrank und greife in das dritte Fach, das schon immer meins war und hole mein Rasierzeug heraus. Als ich es nach Vollendung der Schönheit wieder zurück stelle, fahre ich mit dem Finger über die Holzplatten der anderen Fächer und bewundere die Staubschicht zwischen den Cremes und Parfüms. „Wie es aussieht, muss ich mich wohl mehr daran gewöhnen alles selbst putzen zu müssen.“
Der Arbeitstag zieht sich lange und träge hin. Obwohl ich zu nichts komme, fühle ich mich die ganze Zeit überfordert. Als es endlich 16 Uhr ist, entscheide ich mich dazu nach diesen Strapazen einen Spaziergang zu machen. Kaum eine Stunde später bin ich wieder an der kalten Mauer, dem riesigen Tor und den Grabsteinen. Ich weiß nicht, warum ich hier bin oder was ich erwartet habe zu finden, aber irgendwie kam mir kein anderes Ziel in den Sinn. Ich laufe die Wege ab und betrachte die Tiere, die ganz normal herumtollen, als wenn hier nichts wäre. Ich gehe weiter und komme um die Gruft herum, wo gestern das Mädchen war. Das Loch ist noch da und die kleine Leiter auch, von der sie sich wohl herunter fallen lassen hat, aber diesmal kann ich sie nirgends entdecken. Schade, irgendwie hatte ich gehofft sie wieder zu sehen. Etwas enttäuscht laufe ich weiter. Sie hatte doch gesagt, dass sie jeden Tag...
Bevor ich den Gedanken zu Ende bringen konnte, schrecke ich auf. An einem anderen Baum, nicht weit entfernt, hängt ein Seil herab, an dem sie sich aufgehängt hat. Wie von Sinnen springe ich dahin. Erst ein Meter davor und Sekunden später bemerke ich, dass sie mit den Zehenspitzen auf einem kleinen Kasten steht und das Seil nicht einmal straff hängt. Erleichtert schlage ich mir die Hände ins Gesicht und lasse ein leises Stöhnen erklingen. Dann wird mir auf einmal ganz flau im Magen. Ich gerade ins Wanken und lasse mich erst einmal auf den Boden fallen.
„Ist alles okay?“, höre ich sie fragen. Ich mache meine Augen wieder auf und sehe sie vor mir knien.
„Du hast mir wieder einmal einen großen Schrecken eingejagt, da ist es mir kurz schwarz vor Augen geworden.“, sage ich leise.
„Aber ich habe dir doch gesagt,“ entgegnet sie, „dass ich den Tod ablenken muss. Er wird ja sicherlich nicht jeden Tag erneut auf das Gleiche hereinfallen. Da hab ich mir heute das einfallen lassen und ich sehe an deiner Reaktion, dass es wohl glaubwürdig aussah.“
„Wenn du nur wüsstest. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht.“
„Gut, gut“, sagt sie darauf nur.
Als ich dann wieder zu Kräften komme, setzen wir uns auf eine Bank und reden. Sie erzählt mir, dass sie Caro heißt und ihren Nachnamen auf Bitten ihrer Mutter nicht an Fremde weitersagen soll. Sie hat früher in einem Dorf gewohnt und ist dann nach dem Tod ihres Vaters mit der Mutter hergezogen, da der Weg zur Arbeit so kürzer war. Caro selbst fand das schade, da früher auf dem Dorf alles schöner war. Die Menschen waren glücklicher, sie hatte viele Freunde zum Spielen und es sah alles schöner aus. Die Stadt hingegen sagt ihr gar nicht zu.
Noch eine Stunde erzählt sie mir von den schönen vergangenen Tagen, wie ihre Familie immer auf der Veranda gefrühstückt hatte, wie sie ihre Eltern überraschen konnte und einiges mehr. Dieser Glanz in ihren Augen war Freude, Glück und Trauer zugleich. Die Trauer kam immer dann, wenn sie wieder mit dem Wörtchen 'früher' anfangen musste. Es zerbricht einem das Herz anzuhören, wie diese wundervolle Welt von ihr Monat für Monat weiter zerbrach. Beim Sonnenuntergang verabschieden wir uns und es ist klar, dass wir uns morgen wiedersehen werden.
Die Nacht gestaltet sich sehr wechselhaft und mit wenig Schlaf. Immer mehr Geister scheinen mich des Nachts zu besuchen. Ich wälze mich hin und her, das ganze Bett wird zur Spielwiese meiner Bewegungen. Somit kann ich nach dem Aufstehen, gleich beide Seiten des Bettes machen und gehe nach der morgendlichen Routine auf Arbeit. Diesmal scheinen mir die Aufgaben leichter von der Hand zu gehen. Trotzdem ist die Freude groß, als die Arbeit zu Ende ist. Ich kralle mir schnell meine Jacke und es geht hinaus in die Natur. Kurz darauf komme ich wieder beim Friedhof an.
Ich sehe Caro diesmal schon nach einigen Minuten und schaue zu, bis sie ihr Spiel mit dem Tod beendet hat. Sie hat sich mit viel Ketchup beschmiert und mit einen Messer in der Hand vor eine Gruft gelegt. Als sie nach wenigen Minuten aufsteht, entdeckt sie mich und lächelt zu mir herüber. Ich gehe auf sie zu und gebe ihr ein Taschentuch in die Hand.
„Auftrag heute erledigt?“, sage ich und wische ihr mit einen anderen Taschentuch die rote Soße aus dem Gesicht.
„Ja, ich glaub, dass es ganz gut aussah. Was denkst du denn?“, fragt sie mich.
„Es sah schon sehr blutig und echt aus.“ Diesmal kann ich es auch etwas gelassener betrachten als am Tag zuvor. Es ist ihre Überzeugung, dass sie so ihre Mutter schützen kann und ich möchte ihr die Illusion nicht nehmen. Wenn sie so nachts schlafen kann, was mir nicht mehr zusteht, dann ist es gut. Ich kann nur hoffen, dass ihre Mutter doch noch zu Kräften kommt und zu ihr nach Hause zurückkehrt.
„Weißt du Caro, ich habe die Nacht schlecht geschlafen und dabei einen Entschluss gefasst. Ich werde dir meine Geschichte erzählen. Du musst wissen, ich war nicht nur spazieren am Sonntag, ich wollte viel mehr auf alten Pfaden wandeln.“
Sie schaut mich etwas verwundert an. Daraufhin lege ich meine Hand auf ihren Rücken und gehe mit ihr los. Wir laufen die einzelnen Wege entlang, bis wir vor einem Grab stehen bleiben. Ich knie mich hin und beginne zu erzählen: „An sich wollte ich mich am Sonntag wieder hier niederlassen und an sie denken. Du musst nämlich wissen, dass ich schon verheiratet bin, war oder wie man es sehen möchte. Meine Frau ist an einer Krankheit gestorben, von der wir schon lange wussten, aber wir haben zusammen jede Minute genossen. Dann ist sie vor mehreren Monaten gestorben.“
Mir stockt der Atem und ich halte inne. Eine Träne bahnt sich ihren Weg und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ihr Bild schwebt immer noch vor mir, wenn ich die Augen schließe. Nach einer Weile fahre ich dann fort: „Es ist schwer einen Menschen zu verlieren, aber das muss ich dir ja nicht sagen. Das wichtigste ist jedoch, dass man ihn nie vergisst und ich werde sie niemals vergessen.“
„Ich werde meine Eltern auch nie vergessen“, sagt Caro leise und verstummt dann. Sie kuschelt sich an mich und scheint dann wieder zu weinen. Das war das erste Mal, dass ich bei ihr einen Zweifel vernommen habe, ob sich das Spiel mit dem Tod lohnt.
Die folgenden Tage war ich immer bei Caro, habe ihr die ersten Minuten zugesehen, wie sie ihr Spiel weiterführte. Erst waren die Unfälle sehr kreativ und angst- einflößend, aber dann, nach ein paar Tagen schien sie langsam die Hoffnung aufzugeben. Ihre Tode wurden immer unspektakulärer, bis sie sich nach einer weiteren Woche nur noch in ein leeres Grab legte oder bei Regen in eine Pfütze. Zum Glück hatte ich an dem Tag noch drüber nachgedacht, dass sie wohl nass sein würde und habe ein Handtuch dabei gehabt. Nach ihrem täglichen Akt haben wir uns immer unterhalten, ohne auch nur einmal etwas außerhalb des Friedhofes zu machen. Gegen Abend ist sie dann zu ihrer Tante gegangen und ich ging alleine nach Hause.
Zwei, drei Wochen später ist es schon fast Winter geworden. Ich gehe, wie nun jeden Tag, zum Friedhof, um Caro zu besuchen. Doch diesmal war sie nicht da. Ich suche überall, von der einen Mauer zur anderen, schaue hinter jeden Stein, aber sie ist nicht da. Gegen Abend, als ich in meinem Bett liege, mache ich mir Sorgen um sie. Nicht, dass ihr etwas passiert ist. Wieder finde ich keine Ruhe in der Nacht.
Die Folgetage machen mir zu schaffen. Jeden Tag suche ich nach ihr. Schaue auch in der Gegend herum, aber sie ist nicht zu finden. Weit und breit Stille und keine Caro. Trotzdem gehe ich weiter zum Friedhof. Es ist Anfang Dezember geworden, die ersten Schneeflocken sind vom Himmel gefallen und der Boden ist weiß bedeckt. „Früher habe ich immer in unserem Garten einen Schneemann gebaut und mich dahinter versteckt, bis mich meine Mum suchte und wenn sie mir dann den Rücken zudrehte, habe ich sie mit einem Schneeball beworfen. Das war immer sehr lustig und sie konnte es mir nie böse nehmen.“ Diese Geschichte schießt mir durch den Kopf, als ich die Kinder beobachte, die sich an dem Wetterwandel erfreuen. Ob Caro jetzt wieder lacht? Ist ihre Mutter vielleicht wieder gesund? Mit diesen Fragen beschäftigt stapfe ich durch den Schnee und komme kurz darauf wieder beim Friedhof an. Die Gräber sind nur noch durch ihre Grabsteine zu erkennen, da die Blumen und die Erde um sie herum eine weiße Einheit bilden. Nach ein paar Schritten entdecke ich ein Stück entfernt, dass sie ein neues Grab ausgehoben haben. Das erkennt man leicht daran, da inmitten der einheitlichen weißen Schicht ein dunkles Loch festzustellen ist. Ich gehe darauf zu und als ich mich über das Loch beuge, läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter. Unten, in dem gut eineinhalb Meter tiefen Loch, liegt Caro in einen sommerlichen T-Shirt und einer ausgeleierten Hose. Sie ist schon blau angelaufen. Ich springe sofort in das Loch herab und hole sie aus der Tiefe. Dann trage ich sie zu einer Bank. Schnell ziehe ich meinen Mantel aus und lege ihn um sie. Sie zittert nur und schaut mich nicht an.
„Hey Caro, das hätte nun aber wirklich schief gehen können, da wärst du doch von alleine nicht mehr heraus gekommen.“
„Ich wollte auch nicht mehr dort weg. Ich wollte da bleiben!“, selbst ihre Stimme zittert wegen der Kälte.
„So etwas darfst du nicht sagen. Du holst dir nur den Tod“, entgegne ich.
„Mich holt der Tod nicht, egal was ich mache, er war nie da. Ich glaube der Tod lebt nicht auf dem Friedhof. Er wohnt im Krankenhaus, er wartet nur, dass er sich wieder jemanden holen kann. Du müsstest es sehen. Vor einer Woche war ich das letzte Mal im Krankenhaus. All diese leidenden Menschen, an denen man vorbei geht, bis man vor dem richtigen Zimmer steht und dann kommt so ein böser Mann mit seinem weißen Kittel heraus und behauptet, dass der Tod meine Mum geholt hat. Ich sage noch, dass es nicht möglich sei, da ich ihn gerade auf den Friedhof abgelenkt habe, aber er meinte nur, dass es zu spät ist. Er meinte, dass man sie nicht mehr retten kann. Das war an dem Abend nach unseren letzten Treffen.“ Sie beginnt wieder zu weinen. Ich drücke sie an mich und warte ein bisschen bis ich etwas darauf sage. „Ich weiß, dass es weh tut. Lass deine Trauer ruhig raus. Deine Mum hat es sicherlich verdient, dass man um sie weint.“
„Das Schlimme ist noch, dass sie nie auf mich gehört hat. Die Erwachsenen verstehen halt nichts. Nachdem mein Dad gestorben ist und wir umgezogen sind, ging es ihr immer schlechter. Sie hat mit Rauchen angefangen und immer mehr getrunken, sie wurde gereizter. Am Ende habe ich sie nicht mehr wieder erkennen können, aber ich weiß doch, dass sie ein guter Mensch war. Angeschrien habe ich sie, damit sie aufhört, damit sie mit Rauchen und Trinken aufhört, aber es hat nichts genützt. Dann kam sie ins Krankenhaus und nun... nun ist sie tot.“
Die arme Caro musste für ihr Alter schon wirklich viel mitmachen. Ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll. Soviel Leid macht so mancher Mensch in seinem ganzen Leben nicht durch, wie sie in einen Jahr erlebt hat und trotzdem ist sie noch so ein toller Mensch. Ich wäre froh so eine Tochter zu haben. Wir wollten ja immer Kinder haben, aber meiner Frau war es nicht vergönnt dieses Glück zu haben.
„Und was noch das Schlimmste daran ist,“ sagt sie unter schluchzen, „dass ich nun für immer bei meiner Tante bleiben soll, die mich überhaupt nicht leiden kann. Sie hatte mich nur aufgenommen, weil meine Mutter es so wollte und nun weiß ich nicht, was sie mit mir vor hat. Ich will nicht in ein Waisenhaus. Ich wette sie will mich los werden.“
„Sie weiß wohl nicht, was sie an dir hat?“
„Was meinst du damit?“
„Na du bist doch so ein tolles Mädchen, dich kann man doch nur gern haben.“
„Nein sie mag mich nicht, sie mag mich wirklich nicht!“
Wir unterhalten uns noch lange über ihre Tante und von Minute zu Minute wird mir klarer, dass Caro wohl recht hat. Ihre Tante muss ein Scheusal sein, mit der man sie nicht allein lassen könnte. Als es Abend wird, habe ich noch einige Gedanken hinter mich gebracht. Nun stehen Caro und ich an den eisernen Tor des Friedhofes. Die Sonne geht gerade im Westen unter und färbt den Schnee rot. Caro schaut traurig in die andere Richtung, wo wohl ihre Tante wohnt.
„Weißt du Caro, ich erzähl dir mal etwas. Jeden Abend steige ich in ein riesiges Bett, zu groß für einen Menschen. Jeden Morgen schaue ich in meinen Spiegelschrank und bemerke, dass ich die Hälfte darin, die meine Frau gehörte, nicht gebrauchen kann und dass es mir zu leise daheim ist. Ich dürfte auch noch genug Essen für zwei daheim haben.“ Caro schaut mich mit großen Augen an. „Komm mit zu mir!“, sagte ich in einem bestimmten Ton.
Sie beginnt bis über beide Ohren zu lächeln und springt mir in die Arme. Ich weiß, dass noch einige rechtlichen Dinge zu klären sind, aber wie ich aus den Geschichten von Caro entnehmen kann, wird die Tante wenig dagegen auszusetzen haben. Zusammen gehen wir zum Sonnenuntergang und laufen einer gemeinsamen Zukunft entgegen.
 
 
Vielen Dank fürs Lesen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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