Jürgen Berndt-Lüders

Graue Kindheits-Traumata und ihre Auswirkungen auf heute

Eine tiefgraue Zeit war vorüber. Tiefgrau die Mauern, tiefgrau die Kleidung und tiefgrau das Denken der Menschen.  Mir graut noch heute vor den strengen Reden meiner Eltern. Dies tut man und dies tut man nicht. Alles war innerhalb scharf gezogener Grenzen geregelt. Um so mehr wunderte mich, den Zwölfjährigen, was meine Onkels Gerd und Werner aus dem Kriege berichteten.
 
Eine nunmehr nur noch blassgraue Zeit war 1955 angebrochen. Werner war als Erster zurück aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Adenauer hatte ihn geholt. Er saß am Küchentisch meiner Großmutter, hielt den Kopf  gesenkt und starrte in das graue Regenwetter, als ich ihm vorgestellt wurde. Seine tiefgraue Uniform war grob zu grauer Straßenkleidung umgeschneidert. Wie tiefgrau sein Denken immer noch war, erfuhr ich erst, als ich seinen Erzählungen lauschte, ganz hinten von der Stubentür her, wo mich keiner der Männer sehen konnte.
 
Frauen waren nicht zugegen.
 
Gerd war auch bald zurück gewesen. Er hatte im fernen Sibirien dahin vegetiert, und sein Viehwaggon hatte länger gebraucht als  Werners Güterzug. Sie tauschten Erfahrungen aus, jeder mit einer Flasche Bier vor sich und einer fetten Havanna zwischen den Fingern. Die erste nach Jahren wahrscheinlich. Für die beiden begann das Wirtschaftswunder etwas verspätet.
 
Die Männer meiner Familie und der Nachbarschaft, die größeres Glück gehabt hatten und früher zuhause gewesen waren, lauschten gebannt. So wie ich, auch wenn ich in meinem Alter nur die Hälfte verstand.
 
Mein Vater begrüßte die Onkels und freute sich im Namen aller, dass sie die grauenvolle Zeit des Krieges und der Gefangenschaft heil und gesund überstanden hatten.
 
Wahrscheinlich haben mich die Erzählungen meiner Onkels nachhaltig geprägt. Ich weiß heute noch, was sie erzählten, und wie sehr ihre Schilderungen im Widerspruch zu den Doktrinen meiner Erziehung standen. Diese Widersprüchlichkeiten haben den sensiblen, aufnahmebereiten und merkfähigen Jungen misstrauisch gemacht. Für die Zeit seines Lebens. Und seine Eltern haben’s nicht gemerkt und nicht begriffen, so wie noch heute Eltern häufig nicht begreifen, wie sie ihren Kindern durch ihr schlechtes Vorbild schaden.
 
Ich saß also auf der ausgetreten Schwelle zur Stube jenes strohbedeckten Bauernhauses meiner Großeltern und lauschte.
 
„Wir kamen schnell voran damals“, rief Werner stolz. „Die Iwans waren ja so dusslig. Die hatten ihre Panzer und Flugzeuge  direkt hinter der Grenze in Bereitschaft gestellt. Unser Angriff kam für die so unverhofft, dass wir den größten Teil innerhalb weniger Stunden aus der Luft kaputt ballern konnten. Ich war Panzergrenadier, also mit in vorderster Linie. Dorf für Dorf haben wir erobert.“
 
„Und ich war mit dabei, als wir die Ukraine aufgemischt haben“, rief Gerd, der unbedingt mithalten wollte. „Die Leute haben uns als Befreier bejubelt, weil sie glaubten, wir würden sie von den Sowjets erlösen. Aber platt gemacht haben wir sie trotzdem.“
 
„Ja, Feind ist Feind. Ich habe mal ein Dutzend Iwans vor dem MG gehabt, die uns mit Steinen vom Bauernhof vertreiben wollten.“
 
„Klar, Kohldampf schieben wollte keiner.“
 
„Und die Juden haben sie einbuddeln müssen. Und hinterher die Löcher der  Fliegerbomben dicht machen, damit wir die Straßen nutzen konnten.“
 
„Hattet ihr Plünderungs-Verbot?“
 
„Nee, bei uns hat sich jeder besorgt, was ihm in den Weg kam. Was wir vor Ort kriegten, musste nicht per Nachschub rangeschafft werden.“
 
„Obwohl der Nachschub bis Stalingrad noch geklappt hat. Und die Matruschkas?“
 
„Manche waren ja so schlau, dass sie sich von sich aus freiwillig hingelegt haben. Dann tut’s wohl weniger weh.“
 
„Richtig.“ Gerd war Tierarzt. Der musste das wissen. „Und hast du immer mitgemacht?“
 
„Anfangs wollte ich nicht, aber als mich die Kameraden ausgelacht und als impotenten Versager beschimpft haben, blieb mir ja nichts anderes übrig. Spaß hatte ich weniger dabei.“
 
„Unser Kompaniechef schrie, kommt, Leute, nun wollen wir den Weibern mal richtige, germanische Kinder machen.“
 
Und so ging das weiter. Stundenlang. Ich zitterte und bebte. Der Tonfall änderte sich, als die beiden von der Gefangenschaft berichteten.
 
Ich lauschte und begriff, dass es sich ab jetzt um wichtigere Dinge ging, und was ich nicht verstand, reimte ich mir zusammen.
 
„Als wenn wir Hitler persönlich gewesen wären“, schimpfte Gerd. „So haben die Russen uns behandelt. Wenig zu fressen und massenhaft Arbeit. Rabotti rabotti hieß es bloß. Hunderte, was sage ich, Tausende sind verreckt.”
 
„So war es bei uns auch. Allerdings hatte ich es besser, weil ich Tierarzt bin“, fügte Gerd hinzu. „Vergessen wir das Ganze. Ich habe schon eine Praxis in Aussicht. In Wuppertal, das liegt irgendwo im Westen.
 
Hier ist ja alles so viel besser als bei den Ruskies. Keine Hungerleider am Straßenrand, jeder hat oder kriegt Arbeit, alles anständige Leute. Da weiß man, für wen man gekämpft hat...“
 
„...und die Kinder gehen früh ins Bett“, kommandierte meine Mutter, die wohl unbemerkt gelauscht hatte. „Komm, kleine Jungs müssen das nicht hören.“ Sie zog mich in die Kammer, wo ich noch stundenlang wach lag und zitternd über das Gehörte nachdachte.
 
Hatte mich meine Mutter nicht erst kürzlich erwischt, als ich meinen pubertierenden Körper erforschte? Hatte sie nicht nach Papa gerufen, der mir dann einen Vortrag darüber hielt, dass dieses Körper-Erforschen krank mache? Südlich des Bauchnabels sei „ba“? Und dass der junge Mann gegenüber, der heute Multiple Sklerose hat, so was bestimmt auch gemacht habe?
 
Über Frauen und Männer, und dass Frauen so was wie Engel seien, die man schützen müsse und nicht verletzen dürfe? Und dass das Eindringen in ihren Körper auch eine Verletzung sei, es sei denn, man sei mit ihnen verheiratet?
 
...und dass das menschliche Leben überhaupt unantastbar sei und man dafür mit Gefängnis und später in der Hölle bestraft würde, wenn man es nicht schonte?
 
Was gab es da für Widersprüche. Habe ich meine Eltern und die Generation der damals Erwachsenen überhaupt jemals wieder so richtig ernst genommen?
 
Ich glaube nicht. Ich bin nur halbherzig  ihrem Druck ausgewichen.
 
Mir bleibt die Frage: sind wir Menschen Monster, die mit unterschiedlichen Maßstäben messen? Erwarten wir für uns, was wir anderen nicht gönnen? Sind wir uns dessen bewusst und handeln demnach gegen unsere Einsichten? Aus reinem Egoismus? Müssen wir dann nicht dafür bestraft, zur Rechenschaft gezogen werden, und wenn nicht hier, dann im Jenseits? Wer etwas erkennt, hat die Pflicht, nach der Einsicht zu handeln, oder so...
 
Meine Einschätzung zu diesen Punkten hat sich im Laufe der Jahre geändert. Heute bin ich der Meinung, dass die Fähigkeit, unser Bewusstsein den jeweiligen Voraussetzungen anzupassen, seit Millionen von Jahren das Überleben garantiert. Auf der jetzigen Entwicklungsstufe der Evolution sind wir nicht fähig, den neutralen Überblick über unsere Lage und die Lage anderer zu behalten. Wir handeln spontan, impulsiv und notfalls destruktiv.
 
Irgendwann wird es keine Kriege mehr geben. Keine Menschen werden mehr mit leichter Hand getötet, Frauen nicht mehr vergewaltigt,  und weder private Rachefeldzüge noch staatlich motivierte werden stattfinden. Dies wird aber erst dann soweit sein, wenn wir uns gegenseitig das Überleben ermöglichen, wenn wir bspw. bereit sind, unsere Nahrungsüberschüsse kostenlos in Hungergebiete Afrikas zu transferieren. Erst dann, wenn sich niemand mehr gezwungen fühlt, das Leben anderer für den Erhalt des eigenen zu opfern. Fangen wir jetzt damit an, jeder Einzelne für sich, und üben wir uns täglich in Empathie für Andersdenkende.
 
Nehmen wir doch endlich andere so wichtig wie wir uns selber nehmen. Machen wir keinen Unterschied mehr zwischen unseren Interessen und denen anderer. Seien wir endlich menschlich.
 

 
 
Danke für den Denkanstoß, Christiane Mielck

Etwas schwer, der Stoff, ich weiß, aber weshalb soll man nicht mal eine Kurzgeschichte schreiben, die wirklich in die Tiefe geht?Jürgen Berndt-Lüders, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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