Jürgen Müller

Lilly und ihr neuer Stock

Sie gefällt mir vom Scheitel bis zur Scheide. Die Beine sind nicht so der Bringer. Kurz und krumm, wie stets bei Kleinwüchsigen von knapp einem Meter. Das Gehen fällt ihr schwer. Ich nenne sie Lilly Liliput. Eigentlich heißt sie Liliane Völk. Sie ist frisch zugezogen, neu in der Stadt. Ich heiße Bodo Sterz und wohne schon lange hier.
 
Man kann Lilly übersehen. Aber nicht überhören. Nicht nachvollziehbar, wo an diesem Persönchen der Platz für ein so großes Mundwerk sein soll.
 
Lillys Stimme ist nicht piepsig, wie erwartet, sondern kräftig und laut, dröhnt und tönt durch Räume, Straßen und Plätze. Da steckt Druck dahinter. Lilly besteht aus linkem Lungenflügel, rechtem Lungenflügel und Rest. Die Lungenflügel sind hübsch nach außen gewölbt und gefallen mir sehr.
 
Lilly hält nichts von Krücken mit Achselauflage oder Unterarmstütze. Sie geht lieber am „lebendigen Stock“.
 
Der lebendige Stock bin seit Neuestem ich, einen Meter achtzig groß und wohlgebaut. Vor mir hatte sie ein Stöckchen: Benny Franzen, satte einen Meter neunzehn hoch, Zirkusclown, zumeist unterwegs und sonst wohl auch nicht so der Bringer. Deshalb hat sie aufgestockt. Ich weiß bis heute nicht, wie es geschah, aber plötzlich waren wir ein Paar. Meine Idealvorstellung war immer eine Frau bis unters Kinn. Dazu muss ich jetzt in die Hocke.
 
In der Hocke bin ich nur selten. So vermuten die Leute erst Vater und kleine Tochter, sehen dann Lillys Lungenflügel und ihr reifes Gesicht, glotzen, tuscheln, kichern, lachen, verletzen. Verletzen Lilly und mich. Wir haben nur wenige Freunde. Die meisten Menschen wollen nichts von Lilly und mir wissen.
 
Ich will Verschiedenes von Lilly wissen, wo sie wohnt, was sie macht, doch sie sagt stets: „Das erfährst du noch früh genug“, taucht unerwartet vormittags bei mir auf und fährt wie angekündigt, aber von mir nicht gewollt, zum Spätnachmittag in einem Taxi davon, lässt mich ratlos zurück, da kann ich betteln und flehen, dass sie über Nacht bleibt. Andere Leute führen eine Wochenendbeziehung, wir eine Tageslichtromanze. Nur dass es für mich längst keine Romanze mehr ist. Ich fühle mich wie eine Krücke, von Lilly ab und zu mal gebraucht und benutzt, und wenn nicht, achtlos beiseite stellt.
 
Was ist es für Lilly? Was fühlt Lilly für mich? Und was, zum Teufel, macht sie jede Nacht? Ich denke an Pornodreh und Prostitution und komme doch nicht los von ihr, will es auch nicht, hoffe aber, sie ist zum Wenigsten ein Clown im Zirkus oder Varietee, schämt sich bloß dafür.
 
Ansonsten verstehen wir uns prächtig, streiten uns nur über Musik. Ich liebe Rock und Pop, sie Klassik.
 
Neulich gingen wir Hand in Händchen zu einem Ständchen. Blaskapelle. Wochenmarkt.
 
Ein Angedröhnter schwankte auf uns zu, deutete hämisch grinsend auf Lilly. „Toll, deine Puppe, Alter! Sogar mit Mechanik. Einmal einwickeln bitte und dann ab mit der Post zu mir, ich sammle Nippes. Was macht das?“
 
„Zwei blaue Augen, eine gebrochene Nase und weitere diverse Kleinigkeiten“, wollte ich gerade sagen, aber Lilly war schneller. Sie brach in so gewaltiges Gelächter aus, dass es die Blaskapelle glatt überschallte und den Dirigenten mitten in der Bewegung verharren ließ. Die Musik wurde zu Missklang, verstummte. Alle wandten uns den Kopf zu.
 
Da begann Lilly zu singen, klassisch, irgendeine Opernarie. Die Leute waren hin und weg, wollten mehr und mehr. Und Lilly sang und sang, abwechselnd in Alt und tiefem Mezzosopran. Die Blaskapelle stimmte ein. Es wurde ein voller Erfolg. Der Angedröhnte starrte Lilly mit dummem Gesicht an und ich ebenso. Dann strahlte ich: Von wegen Pornodreh, Prostitution oder Clown!
 
Das war letzten Monat.
 
Lilly fährt weiterhin jeden Nachmittag in einem Taxi davon, kommt aber immer nach ihren Auftritten gegen Mitternacht zurück, huscht zu mir ins Bett.
 
Oft besuche ich auch die Vorstellung und ergötze mich an Lillys Anblick und Gesang. Kein Problem, auf Wunsch steckt sie mir Freikarten für die besten Plätze zu. Auftritte auf drei Kontinenten stehen an, und wie ihr Manager sagt, sei sogar das Fernsehen interessiert; die Autogrammkarten gehen zu Tausenden weg. Am meisten aber genieße ich die Proben und Generalproben, wo noch nicht alles rund läuft – Pleiten, Pech und Pannen frei Haus. Was haben wir gelacht! Und ich dachte immer, Operndarsteller sind der Ernst pur.
 
Wir haben jetzt viele Freunde und Bekannte, laden oft Leute ein oder werden von ihnen eingeladen.
 
Ich bin stolz auf Lilly. Niemand hat an sie geglaubt, als sie Gesangsunterricht nahm, nicht mal dann, als sie ihre Ausbildung begann. Doch sie hat ihren kleinen Brustkasten in Hochform gebracht, ihre Lungenflügel gewölbt und geformt, und jetzt zeigt sie es uns allen.
 Neuerdings lege ich Oper auf, und Lilly lächelt mir zu. Wir streiten uns über nichts mehr.
 Ich bin Lilly keine Krücke mehr. Ich bin ihr Stock.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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