Manon Meyers

Reise des Delfins: Prolog ©


November 2011, London
 

 
Minuten ohne Regung vergingen ehe Callie den Schlüssel umdrehte und aus dem Auto stieg. Ihr starrer Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie mit beiden Füssen in eine modrige Pfütze stampfte und ihre tiefe Atmung sich aus ihrer Kehle bahnte.
 
„Phantastisch. Das hast du wieder gut gemacht.“, ermahnte sie sich selbst und schlug die Autotür zu. Ihre in schwarze Stiefel gehüllten Füsse bewegten sich leblos weiter bis sie ein großes Stadthaus erreichte und unmittelbar stehen blieb. Ihre Blicke glitten über die rotbraunen Backsteine und die weissen Fensterrahmen, bis zum dem grauen Schleier der den Himmel bedeckte und von einzelnen Sonnenstrahlen durchbrochen wurde. Callie rollte ihre Augen nach rechts und sah die Bäume am Strassenrand, deren dünne Äste wie gespenstige Arme emprostiegen.
 
Stell dich nicht so an. Du sollst nicht immer soviel Angst haben.
 
Callie betrat den kahlen Flur und ihre Augen tasteten die Umgebung in nur wenigen Sekunden ab. Die Marmorfliesen glänzten und alles war an seinem Platz, doch eine beklemmende Stille erstreckte sich in dem langen Korridor als wäre das hohe Stadthaus menschenleer.
 
Aber ich habe ihr Auto gesehen, erinnerte Callie sich. Als ich einen Parkplatz gesucht habe. Die Erinnerung wirbelte wie ein unhaltbarer Fetzen in ihrem Kopf, als wolle sie sich selbst erinnern warum sie alles stehen und liegen gelassen hatte und einfach nach London gefahren war, statt in Cambridge zu bleiben.
 
Missmutig streifte sie ihre vor Aufregung schweißnass gewordene Winterjacke ab und schnappte mutlos nach Luft.
 
„Mom?“ Ihre Stimme schallte in dem ruhigen Korridor. Callie wankte unsicher ins Wohnzimmer und sah das zerknautschte Sofa und die bestialische Unordnung, die geschlossenen Fenster und zugezogenen Gardinen die kaum Licht in das modern eingerichtete Wohnzimmer liessen. Ein feuchter, niederdrückender Geruch flatterte ihr entgegen und Callie schloss die doppelte Glastür hinter sich. Sie sah auf die Uhr. Sie hatte noch gut zwei Stunden um die Unordnung zu beheben. Das sollte kein Problem sein.
 
Callie ging weiter am Badezimmer vorbei und warf einen Blick in die Küche. Schließlich latschte sie weiter nach oben und sah durch alle Räume. Das nicht besser aussehende Schlafzimmer veranlasste Callie dazu, erst einmal die Rolladen hochzuziehen und die Fenster groß aufzureißen.
 
„Mom…?“, rief sie erneut. „Mom, bist du zu Hause?“ Ihre Finger berührten das Treppengeländer und sie ging die Stufen wieder nach unten. Vielleicht war es ihre Angst, die ihr Kopfkino zum explodieren brachte, doch sie wusste, irgendwas war nicht in Ordnung.
 
In der unbehaglichen Stille durchzuckte es sie wie ein Blitz, als ihr Handy plötzlich in ihrer Hosentasche fordernd zu vibrieren begann.
 
„Hallo Vince.“, stöhnte sie, gleichzeitig erleichtert und überlastet.
 
Mit der freien Hand rieb sie sich über die schweißnasse Stirn. Sie hatte schon fast damit gerechnet, dass es ihr Vater wäre.
 
„Suzy hat mir erzählt, dass du nach London gefahren bist?“
 
„Ja, meine Blockveranstaltung wurde abgesagt.“
 
„Ich schätze dann kommst du heute nicht mit zum bowlen?“
 
„Shit.“, fluchte sie. „Tut mir leid. Ich habe es völlig vergessen.“
 
„Alles in Ordnung bei dir?“
 
Callie riss ihre Augen groß, gar panisch, auf. „Was soll denn nicht in Ordnung sein?“
 
„Keine Ahnung. Du klingst leicht irritiert.“
 
„Nein, alles okay.“, beschwichtigte sie ihn und spazierte wieder in den Flur. Vinces Stimme begann in den Hintergrund zu rücken während ihre Füße sich wieder in die Küche bewegten, jedoch abrupt inne hielten. Ein unwillkommenes, sich zuspitzendes Bauchgefühl holte sie ein und sie machte ein paar Schritte zurück bis ihr Blick auf die halbgeöffnete Badezimmertür fiel. Wie versteinert stand sie vor der hölzernen Tür. Die Unbehaglichkeit die sich wie ein Schatten an ihre Seele klammerte, war ihr nicht neu, und doch fühlte sie, dass heute etwas anders war. Ein schmaler Lichtstrahl fiel in den Flur und berührte die Spitze von Callies schwarzen Stiefeln.
 
„Callie hörst du mir überhaupt zu?“ hörte sie Vince sagen, doch sie antwortete nicht sondern näherte sich unmittelbar der Tür. Ihre Finger berührten die kühle, goldene Klinke und schoben die Tür leicht nach innen.
 
Die Welt um sie herum, die ihr so vertraut und fest erschien, zerfiel in ein heilloses Chaos. Sie schrie wie von Sinnen, aber brachte keinen Ton hervor. Sie geriet ihn Panik, wollte mit den Füßen treten und den Händen schlagen um sich zu befreien, doch ihr Körper verharrte an Ort und Stelle, spürte das Wogen und Reißen einer unsichtbaren Kraft in ihrem tiefsten Innern. Blasse Sonnenstrahlen kämpften sich durch die grauen Wolken bis ins Badezimmer hindurch, und sie hörte nicht, wie ihre Telefon zu Boden krachte. Die roten Flecken auf den weißen Fliesen waren trüb, wie durch einen verschwommenen Nebelschleier betrachtet, daneben silbrige, schneidige Ende wie Splitter, die sich durch das Leben schimmerten.
 
Ein Moment voller Stille.
 
Callies müde Knochen zwangen sie zum sitzen. Ihr Körper sackte neben der Tür zu Boden, die Luft um sie herum klebte, war schwer wie Blei. Gedankenlos starrte sie auf das dunkle Rot, wagte es nicht den Blick wieder zu heben.
 
Reißerische Tränen strömten über ihre Wangen und ehe sie sich versah klangen hallende Schritte durch den kalten Korridor.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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