Florence Siwak

Das warme Nest



Wenn doch die Beerdigung bald vorbei wäre, dachte Lena verzweifelt. Wenn doch alles schon vorbei wäre – auch ihr Geburtstag morgen -  
und sie zurückkriechen könnte in ihr Zimmer, in ihr Bett, zu ihrem kleinen Lukas.
Automatisch strich sie immer wieder ihre rotblonden lockigen Haare aus der Stirn, die Haare, die so sehr denen ihres kleinen Sohnes glichen.
Mit denen alles angefangen hatte. Nein – angefangen hatte es schon früher, als sie Kai kennenlernte. Kai –viel älter als sie, der sie bedingungslos liebte
und sie sofort geheiratet hatte, als sie schwanger war. Vor vier Jahren war das. Sie hatte sich nie Rechenschaft darüber abgelegt, ob wirklich ihr Mann
der Vater war oder Alex, der immer mal wieder zwischen zwei Gefängnisaufenthalten bei ihr reinschaute; vor ihrer Heirat natürlich.  Kai wusste von ihrer
Vergangenheit und hatte sie vor seiner Familie immer in Schutz genommen.
Aber – wie würde er reagieren, wenn Lukas nicht sein Sohn wäre? Er würde sie fallenlassen, sie würde rausfallen aus dem Nest, in dem sie sich so
warm eingerichtet hatte.
Zu ihrem Geburtstag morgen wollten sie zu Dritt nach Norwegen fahren. Und vielleicht wären sie ja dort geblieben. Sie hatte so sehr darauf gehofft.
Weg von seiner Familie, in ein neues Leben. Nur sie drei. Kai hatte schon Geschäftsbeziehungen angeknüpft und ihr das Land in leuchtenden Farben geschildert.
 
Und dann die Nacht vor zwei Wochen. Ihr Mann hatte sich ins Kinderzimmer geschlichen. Sie war ihm gefolgt und sah ihn im Mondlicht,
wie er sich mit einer Schere über das schlafende Kind beugte. Erschrocken hatte sie die Faust auf ihren zum Schreien geöffneten Mund gepresst.
Eine kleine Bewegung nur – und er hatte Lukas eine seiner goldenen Locken abgeschnitten.

Lena war wie gelähmt. Später wusste sie nicht mehr zu sagen, wie sie es ins Bett zurück geschafft hatte.

Die nächsten Tage kreisten nur um einen Gedanken.
Vaterschaftstest! Kai wollte einen Vaterschaftstest machen. O, mein Gott, dachte sie, was mache ich nur?
Morgen für Morgen lauerte sie auf den Briefträger. Wie lange dauerte so ein Test eigentlich? dachte sie eine ganze Woche lang.
 
Dann – als sie Kais geheimnisvolles Lächeln und seine verschmitzten Seitenblicke kaum noch ertragen konnte, klingelte abends ihr Handy.
Es war Alex. Wie immer bestens gelaunt und gnadenlos optimistisch.
‚Nein‘ sagte sie energisch zu seinem Vorschlag, sich zu treffen. ‚Um über alte Zeiten zu reden‘ wie er laut lachend bemerkte.
Wie jedes Mal gab sie schließlich doch nach, zog ihren ältesten Mantel über und machte sich eilig auf den Weg in das kleine Café,
das zu bescheiden war, um einen von Kais Verwandten anzulocken.
Sie hatten sich in die hinterste Ecke gesetzt; Lena mit dem Rücken zur Tür.
‚Wie nervig doch ein schlechtes Gewissen ist‘ dachte sie müde. ‚Dabei ist da gar nichts mehr, gar nichts!‘ Sie hasste Alex‘ prahlerische Art,
sich auf dem Stuhl zu platzieren, beide Beine weit von sich gestreckt, die Arme hinter dem Nacken verschränkt. Sie verabscheute sein breites
Grinsen, die groben Hände, die ständig damit beschäftigt waren, seine blonden Haare hinter die Ohren zu streichen.
‚Ob Lukas diese Angewohnheit von ihm hat – oder doch von mir?‘ dachte sie zerstreut und verschränkte ihre Finger ineinander.
 
„Was ist los mit dir?“
Er blickte sie aus halb geschlossenen Augen prüfend an.
 
Wie immer hatte er sofort den Finger in die offene Wunde gelegt und entsetzt bemerkte sie, dass die Tränen ungehemmt zu fließen begannen.
Sie hatte sich in einen Weinkrampf hinein gesteigert, der sogar den abgebrühten Alex fassungslos werden ließ.
Ihre Befürchtungen in bloße Worte gefasst, machten ihr das Hoffnungslose ihrer Situation noch bewusster.
Aber seltsamerweise erleichterte sie dieser Ausbruch und sie ging etwas ruhiger zurück, nachdem sie Lukas bei der Nachbarin abgeholt hatte.
‚Mach dir keine Sorgen, Kleines‘ hatte Alex sie beruhigt. ‚Da kann gar nichts passieren. Verspreche ich dir.‘
 
Und nun? Einen Tag nach diesem Treffen hatte Kai diesen Unfall. War es überhaupt ein Unfall? Die Polizei ging davon aus. Ihre Ermittlungen hatten ergeben,
dass ein rücksichtsloser Raser den 50-jährigen Kai Felsner an einer unübersichtlichen Kurve von der Fahrbahn abgedrängt hatte, was dazu führte,
dass der Geschädigte mit hoher Geschwindigkeit gegen einen  Baum prallte und noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb. So hieß es im trockenen
Amtsdeutsch.
 
Wie sie ihn doch vermisste, den „Geschädigten“. Er hätte sie in die Arme genommen und beruhigt. ‚Dir kann nichts passieren‘ hätte er zu ihr gesagt und sie –
sie hätte ihm geglaubt.
 
Aber – das Leben ging ja weiter. Ihr Körper straffte sich. Jedenfalls waren sie in Sicherheit, sie und Lukas. Sie durfte nur nicht zulassen,
dass einer von Kais Verwandten, die mit falschem mitleidigem Lächeln um sie herum schwirrten, die Post in die Hände bekam.
Aber morgen – an ihrem Geburtstag würden alle wieder das Haus verlassen, um sie in ihrer Trauer nicht zu stören.
 
Lena blickte zur Uhr, als es an der Tür klingelte. Nur noch eine halbe Stunde bis zum Bestattungstetermin. Wer konnte das sein?
 
Sigrid, Kais Schwester, hatte schon die Tür geöffnet und flüsterte mit einem eleganten, älteren Herrn, der sie mitleidig anblickte, als sie auf ihn zutrat.
 
„Mein herzliches Beileid, Frau Felsner. Mein Name ist Kühne. Von Kühne & Co. Ich habe heute erst erfahren, dass Ihr Gatte…“ Er stockte.
„Ich wollte nicht versäumen, Ihnen das hier persönlich vorbei zu bringen.“ Er reichte ihr ein kleines Päckchen, das in glitzerndes rotgoldenes Papier gewickelt war.
„Ihr Mann wollte es heute abholen. Das geht ja nun…“
Verlegen schwieg er.
Mit großen Augen drehte sie das Päckchen in den Händen.
„Nun mach doch schon auf“ schimpfte Sigrid ungeduldig und schlug mit einer gemurmelten Entschuldigung dem konsterniert blickenden Herrn die Tür vor der Nase zu.
Mit zitternden Händen nestelte Lena das goldene Bändchen auf. Langsam, fast als wollte sie den Augenblick hinauszögern.
Schließlich aber kam eine nachtblaue kleine Schatulle zum Vorschein.
Blitzschnell ergriff Sigrid das Kästchen, öffnete es und stieß kleine Schreie des Entzückens aus.
„Sieh nur, Lena. Wie hübsch dieses Medaillon.“
Lena öffnete mit fiebrigen glänzenden Augen das rotgoldene, antike Schmuckstück. Links war – winzig klein – ihr Hochzeitsfoto und auf der rechten Seite Lukas‘ Locke, die Kai seinem Sohn abgeschnitten hatte.
Weinend brach Lena zusammen, presste das Schmuckstück gegen ihre Brust und wiegte es wie ein Kind vor und zurück.
„Kai – o Kai, warum nur. Warum hast du mich allein gelassen?“
Sigrid blickte erschüttert auf ihre Schwägerin hinab.
„Mein Gott“ flüsterte sie und wandte sich ihrem Mann zu, der eben ins Zimmer gekommen war.
„Sie hat ihn ja wirklich geliebt. Die Arme.“
Sie kniete sich neben ihre junge Schwägerin und breitete mütterlich ihre molligen Arme um sie.
„Ganz ruhig, Liebes, alles wird gut“ murmelte sie in Lenas lockiges Haar.
„Alles wird gut“.
Lena fühlte sich seltsam getröstet. Sie hatte wieder Arme, in die sie flüchten konnte.
Und vielleicht – vielleicht hatte Alex ja nichts mit dem Unfall zu tun. Sicher nicht. Wie sollte er auch an ein Auto kommen?
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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