Jürgen Berndt-Lüders

Endstation Grenzbahnhof.

Der Zug hatte eben den Kölner Hauptbahnhof verlassen, als ein Uniformierter das Abteil betrat. Er sah den jungen Mann am Fenster, und er erschrak. Sein Gesichtsausdruck zeigte das blanke Entsetzen. Der Herr ihm gegenüber wirkte dagegen seriös, und er präsentierte auch prompt seine Fahrkarte.
 
„Also gut“, seufzte der junge Mann. „Hat sich’s also doch gelohnt, das letzte Geld....“ Er sprach nicht weiter, sondern zog seine Brieftasche aus der Jacke. Er klappte sie auf und zeigte den Inhalt. Der Bahnbeamte nickte freundlich und wünschte eine gute Reise.
 
„Sie würden also lieber schwarz fahren?“, fragte der gut situierte Herr, schon um die Fahrzeit durch eine Unterhaltung angenehmer zu gestalten. „Der Kontrolleur schien Sie zu kennen.“
 
„Nein, nicht generell“, sagte der junge Mann. „Wenn ich Geld für Fahrkarten hätte, würde ich sie auch kaufen. Aber  allein für den Preis für diese Fahrt könnte ich mir endlich neue Jeans besorgen, second hand, versteht sich,  und ich könnte mich zwei Wochen lang ernähren. Nun muss ich zusehen, wie ich zurecht komme.“
 
Der Herr überlegte. „Und weil Sie das Risiko, ohne Ticket erwischt und auf dem Bahnsteig ausgesetzt zu werden, nicht eingehen wollten, haben Sie sich für die Fahrkarte entschieden.“
 
„So kann man’s sagen.“
 
Schweigen.
 
„Sehen Sie mal“, dozierte der Herr. „Sie haben eben marktwirtschaftlich gedacht und gehandelt. Sie haben das Risiko und den möglichen Profit gegeneinander abgewogen und sich gegen das Risiko entschieden.“
 
„Klar, das ist doch normal, oder? Warum erwähnen Sie das?“
 
„Weil ich mich frage, weshalb Sie kein besseres Einkommen haben. Das zeigen Ihre Klamotten, wenn auch Ihre Gesichtszüge Anderes vermuten lassen. Sie sind doch clever und hätten alle Möglichkeiten. Faul sind Sie sicherlich auch nicht...“
 
„Nein, bin ich nicht. Ich möchte mein Geld nur für Dinge ausgeben, die sich für mich lohnen.“
 
„Genau wie ich, aber Ihr Weg ist nicht der richtige. Beschaffen Sie so viel wie möglich Geld und horten Sie es. Und gleichzeitig sorgen Sie dafür, dass alle anderen möglichst viel Geld bei Ihnen ausgeben. Irgendwann können Sie dann tun, was Sie wollen, und keiner kann Ihnen mehr etwas aufzwingen.“
 
„Das schafft aber auch nicht jeder...“
 
„...doch, ich bin bestimmt nicht klüger als Sie, aber ich habe die richtigen Ideen gehabt. Vor zwanzig Jahren habe ich mein Lachen aufgenommen und die Ton-Konserve in einen grob zusammen genähten Sack getan. Dann bin ich durch die Kölner Innenstadt gelaufen und habe ständig den Sack gedrückt. Der Sack hat gelacht und alle Leute haben sich umgedreht.“
 
Der junge Mann schmunzelte. „Und alle wollten diesen Sack haben. Kann ich mir gut vorstellen.“
 
„Ja. Anfangs habe ich den Sack selber gebastelt und dann in der ehemaligen DDR produzieren lassen, weil da die Löhne geringer sind. Später ließ ich sie in China herstellen. Ganze Schiffsladungen voll.“
 
„Und jetzt?“
 
„Heute habe ich massenhaft Kuriositäten im Angebot, die eigentlich kein Mensch braucht, die aber jeder haben will.“
 
„Und was machen Sie mit dem Geld? Ich meine, teure Autos werden Sie nicht haben. Sie fahren Bahn...“
 
„...das hat einen anderen Grund. Nein, ich pflege meinen Lebensplan: sorgsam mit dem Geld umgehen, aber auf jede erdenkliche Art Neues einsammeln.“
 
„Da müssen Sie doch sicherlich eine Menge Steuern zahlen. Dazu hat auch nicht jeder  Lust.“
 
„Ich auch nicht. Der Staat gibt mein Geld nur für unnütze Dinge aus. Was meinen Sie, weshalb ich in die Schweiz fahre?“
 
Der junge Mann sah nach draußen. Eben lief der Zug in den letzten Bahnhof vor der Schweiz ein. Er zückte seinen Dienstausweis. „Steuerfahndung. Das eben war ja fast ein Geständnis. Bitte öffnen Sie Ihre Reisetasche, Herr Riebesahm.“
 
Riebesahm war verhaftet. Der Steuerfahnder verließ den Zug. „Schauen Sie nicht immer so entsetzt“, rief er und drehte sich zum Fahrkartenkontrolleur. „Irgendwann verraten Sie mich noch damit.“
 
Der Bahnbeamte zuckte mit den Achseln. „Irgendwie ist schließlich jeder Steuerzahler.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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