Vroni Gruber

Aus dem Übernatürlichem


Prolog
 
Vor 30 Jahren
 
Sie war schon immer sehr naturverbunden gewesen, und am meisten liebte sie den Wald. Die Stille dort drin war so unzerstörbar und vollkommen, wie in einer anderen Welt. Bei jedem Wetter suchte sie den Wald auf, einfach um Ruhe zu haben. Der Wald in der Nähe ihres Dorfes hatte keine festen Wege, man musste sich schon selbst seinen Weg suchen. So wurde jeder Spaziergang einzigartig, und sie entdeckte jedes Mal aufs Neue unbekannte Facetten, die sie vorher noch nicht gesehen hatte. Sie sog die würzige Luft ein und summte die Melodie ihres aktuellen Lieblingsliedes, "Help" von den Beatles. Etwas störte sie jedoch nach kurzer Zeit an der Musik und sie hörte auf. Wenn sie Musik hören wollte, konnte sie auch eine Schallplatte auf dem alten Plattenspieler ihres Opas anhören. Stattdessen hörte sie auf die Geräusche des Waldes. Bei diesem Wetter zwitscherten die Vögel nicht, denn es stürmte und regnete kräftig. Außerdem war es für einen späten Herbstnachmittag eiskalt, bestimmt nur 5 Grad. Ein kräftiger Windstoß fegte durch einen Ast direkt vor ihr, der ihr deshalb fast ins Gesicht peitschte. Sie wich dem Ast gerade noch aus und zog ihre Jacke fester um sich. Sie hörte irgendwo eine Krähe schreien. Krähen waren ihr unheimlich, sie brachte sie immer mit Tod und gruseligen Geschichten in Verbindung. Auch wenn sie gruselige Geschichten für ihr Leben gern hörte, sie mochte das Gefühl, wenn ihr eine Gänsehaut wie kaltes Wasser den Rücken herab kroch und sie angenehm schauderte. Abends sah sie selten fern, sie las oder setzte sich mit ihrer Oma in die Küche. Oma zündete dann schwarze Kerzen an und schaltete das Licht aus. Und dann begann die Vorstellung. Sie wurde von der plötzlich rauen Stimme ihrer Oma in dunkle Zeiten versetzt, sah bei Hexenverbrennungen zu und hörte die Schreie dieser unschuldigen Frauen. Ihre Oma kannte so viele schaurige Geschichten, dass es nie langweilig wurde. Bestimmt dachte sie sich einen großen Teil einfach aus, man konnte doch nicht so viele Gruselgeschichten kennen! Denn seit sie 10 Jahre ! alt war, hatte Oma noch keine Geschichte bei ihrer wöchentlichen Erzählrunde zweimal erzählt, und sie hatten dieses Ritual jetzt schon seit 7 Jahren. Ihre Oma und ihr Opa waren wirklich ein guter Elternersatz, denn ihre eigentlichen Eltern waren plötzlich verschwunden, als sie noch ganz klein war. Keiner konnte sich erklären warum sie das getan hatten, und sie hatte auch keine Erinnerungen an ihre Eltern. Ein Geräusch ließ sie in die Höhe fahren: Jemand hatte gepfiffen! Es war eine ganz simple Melodie gewesen, die sie von irgendwoher kannte. Da war noch jemand in der Nähe! Aber das konnte nicht sein, niemand war je in diesem Wald, nicht einmal Waldarbeiter! Das hatte sie sich bestimmt nur eingebildet, ganz bestimmt...Es war jetzt eh Zeit, nachhause zu gehen, bald gab es Abendessen...Sie ging wieder in Richtung Dorf. Hinter ihr knackte ein Zweig. Sie drehte sich um. Das war bestimmt ein kleines Tier. Tatsächlich, sie sah nichts, was aber auch an der einsetzenden Finsternis liegen konnte...Hastig beschleunigte sie ihre Schritte, sie begann zu rennen. Sinnlos...das bilde ich mir nur ein, weil ich gerade an Oma Gruselgeschichten gedacht habe! Sie verlangsamte ihr Tempo wieder und atmete tief durch. Sie war 17, von solchen Geschichten brauchte sie sich nicht verrückt machen lassen. Manchmal ging wirklich ihre Fantasie mit ihr durch. Wenn sie wieder zuhause wäre, würde sie sich einen Tee machen und diese Geschichte einfach vergessen. Knacks. Wieder ein Zweig, diesmal lauter, weil er näher bei ihr war. Sie drehte sich wieder um. Nichts. Alles schwarz, es war innerhalb weniger Minuten Nacht geworden. Und die Nacht war nicht alleine, sie hatte einen guten Freund von ihr, die Kälte mitgebracht. Wieder ein Geräusch. Sie blieb stehen. Eine Gänsehaut rieselte ihren Rücken hinunter, und es war keine angenehme, wie bei den Gruselgeschichten, sonder eine unangenehme, die ihr Angst machte. Irgendwas in ihr sagte ihr, dass sie in Gefahr war. Ihr stockte der Atem. Atme weiter, raunte die heisere innere Stimme, die sich in diesem M! oment in ihr zum ersten Mal bemerkbar machte. Sie atmete weiter, zog die Luft stoßweise ein und stieß sie dann wieder aus. Sie hörte Schritte auf dem Waldweg. Lauf!, schrie es in ihr. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Links. Rechts. Links. Rechts. Eins. Zwei. Eins. Zwei. Doch die Angst lief ihr hinterher. Sie hörte sie, als die Gestalt hinter ihr sich in Bewegung setzte. Schneller! Einszweieinszweieinszwei...Sie war nicht schnell genug. Sie spürte den warmen Atem ihres Verfolgers im Nacken, und ganz kurz fühlte sie sich geborgen. Sie hatte vor nichts mehr Angst. Ein letztes Mal blickte sie hinauf zu den schwarzen Bäumen und atmete die Waldluft ein. Dann ließ sie sich fallen, in einen schwarzen Tunnel, ab und zu blinkte ein Licht auf, ein kurzer Schmerz, ein Tunnel, dessen Ausgang sie nicht kannte...Sie schwebte über sich selbst und sah sich beim Fallen zu....Bis nichts mehr blieb.
 
Kapitel 1
 
Klopf. Klopf. Klopf. So hörte sich der Regen an, der an diesem Abend gegen unser Fenster gepeitscht wurde. Wie eine kleine Kinderfaust, die dauernd dagegen schlug. Ich hatte dieses Geräusch schon gehört, als ich über meinem Buch eingeschlafen war. Es hatte mich die ganzen Stunden, die ich schlief, begleitet. Und nun war ich aufgewacht. Klopf. Klopf. Klopf. Es hatte sich wie ein akustisches Tattoo in meine Gehörgänge gebrannt, und bis heute habe ich dieses Geräusch nie vergessen. Langsam öffnete ich die Augen und sah mich um. Überall auf unserem Fußboden standen Kartons herum, nun verpackt in Dunkelheit. Meine Eltern waren anscheinend schon ins Bett gegangen und hatten mich in weiser Voraussicht weiterschlafen lassen, und das war auch gut so. Nach dem ganzen Umzugsstress war ich fix und fertig. Ich wusste nicht, was ich von meiner neuen Heimat halten sollte. Es war ein kleines Dorf, umgeben von Wäldern. Kein einziges neues Haus, nur alte Bauernhäuser, genauso wie unseres. Unser altes neues Haus war gemütlich, und sobald man es betrat, fühlte man sich, als wäre man in eine frühere Zeit gekommen. Das war meiner Mutter zu verdanken, die ein Händchen dafür hatte, die guten Seiten eines Raumes zu unterstreichen und zu betonen. Auch diesmal war es ihr wieder perfekt gelungen. Keiner wusste, woher sie diese Möbel hatte, aber wenn man mit den Fingern darüberstrich, konnte man den Baum dahinter fühlen und riechen. Nichts war zu kitschig oder übertrieben, alles wirkte echt. Man konnte sich einfach wohlfühlen. Zumindest, sobald die Umzugskisten weg sein würden. Im Dorf wurde schon wieder getratscht und getuschelt über die neuen Bewohner, jede mögliche Information wurde zusammengekratzt und interpretiert. Dann wurde eine Schlussfolgerung gemacht, und schon hatte die Einwohner ein Bild von uns oder glaubten zumindest eines zu haben. Naja. Morgen musste ich unbedingt die Ergebung erkunden und vor allem den Wald, denn ich war noch nie zuvor in einem richtigen Wald gewesen, außer im Urlaub. Und dort war jeder Punkt durch! Wanderw ege und Markierungen festgelegt. Nein, unter einem Wald stellte ich mir was anderes vor, etwas, das nicht einfach in verschieden Wegweißer und Karten zu unterteilen ist, sondern einfach nur aus purer Natur besteht, wo sich fast nichts nach den Regeln der Menschen richtet. Ich freute mich schon richtig darauf. Aber erst mal war es Zeit ins Bett zu gehen, die Zeiger der alten Uhr aus Holz mit dem Uhu als Pendel zeigten schon auf halb zwei. Bei dem Blick auf die Uhr fröstelte mich ein wenig, irgendwie fühlte ich mich zwischen Mitternacht und vier Uhr früh dem Tod näher als sonst. Ich wusste nicht warum, aber das war schon immer so gewesen. Mein Vater schob das einfach auf zu viel Fantasie. Na gut, wenn er unbedingt meinte. Das Pendel mit dem Uhu schwang weiter von links nach rechts, und mir schien, als würden mich die Augen des Vogels beobachten. Sie waren so groß und so schwarz. Schnell wandte ich den Blick ab. Du brauchst nicht überall Gespenster zu sehen, Mia. Das tun nur kleine Kinder, raunte mein Verstand und befahl meinem Herzen, langsamer zu schlagen und sich zu beruhigen. Doch das verstand es nicht, es schlug immer noch viel zu schnell in meiner Brust. Ich versuchte so ruhig wie möglich über den eiskalten Fußboden zu gehen. Die ganze Zeit spürte ich diesen Blick im Rücken, was mich wirklich aufregte, denn dieser Pendeluhu war ja nicht echt, er hatte nur schwarze, unheimliche Augen. Es war echt bescheuert, wegen einer Uhr Angst zu bekommen. Die totale Stimme umfing mich und drückte auf meine Trommelfelle. Ich spitzte die Ohren und versuchte irgendein beruhigendes Geräusch zu hören, zum Beispiel das Schnarchen meines Vaters. Nichts. Dafür nur das rhythmische Ticktack der Uhr. Und das Prasseln des Regens. Ich musste aus dem Wohnzimmer, denn dieses Ticken war echt furchtbar. Also ging ich mit ruhigen Schritten raus und schloss erleichtert die Tür. Ich hoffte, ich würde mich nicht mehr beobachtet fühlen, aber das war nicht so. Der Blick fühlte sich so an, als würde mir jemand kleine Nadeln ins Genick boh! ren. Ein fach nur unangenehm und beängstigend. Ich schüttelte mich, vielleicht wurde ich dieses Gefühl so los, wie man ein lästiges Insekt loswird. Tapfer setzte ich meinen Weg in mein neues Zimmer fort und stieg die knarrende alte Treppe hoch. Immer noch dieses Gefühl der Beobachtung. Langsam fragte ich mich, ob ich nicht an Verfolgungswahn litt. Ich wollte oben das Licht einschalten, aber es ging nicht. War etwa eine Sicherung rausgeflogen? Egal, ich wollte nicht nochmal runter und versuchen, die Sicherung einzubauen. Bloß nicht. Aber es war eh nicht mehr weit im Zimmer und diese paar Meter konnte ich ja wohl oder übel noch zurücklegen, ohne vor diesem Gefühl der Beobachtung verrückt zu werden. Möglichst leise glitt ich in die Dunkelheit hinein, ich wollte ja meine Eltern nicht wecken. Rund um mich herum tiefste Schwärze. Ehrlich gesagt hatte ich noch nie eine schlimmere Dunkelheit erlebt als diese, und das war auch gut so. Und als ob das nicht reichen würde, begann über mir ein Geräusch, bei dem sich mir sämtliche Haare aufstellten: Es war ein Rumpeln und Poltern und Kratzen, aus der Richtung des Dachbodens. Wie als hätte jemand alle beängstigenden Geräusche um halb zwei in der Früh zusammengemischt und sie jetzt auf meine Ohren losgelassen. Jetzt bestand für mich kein Zweifel mehr: Da war noch jemand im Haus. Ich musste sofort meine Eltern wecken und ihnen Bescheid sagen. Ich spurtete über den Holzboden zum Schlafzimmer meiner Eltern, während das Poltern und Kratzen immer lauter wurde und zu einem richtigen Konzert anwuchs. "Mama! Papa!", rief ich. "Da ist jemand im Haus, auf dem Dachboden!" Meine Mutter setzte sich im Bett auf. "Wie kommst du denn darauf?"  "Ja, hörst du diesen Lärm im Dachboden nicht?" Immerhin war das schwer zu überhören. Es fühlte sich an, als würde das ganze Haus und die letzte Faser meines Inneren vor Lärm vibrieren. "Ihr jungen Leute seid schon ein wenig verrückt, was du dir da bloß wieder einbildest.", murmelte mein Vater und drehte sich auf die andere Seite. "Was für ein seltsam! er Traum . Wenn ich das morgen Mia erzähle.", kam es von meiner Mutter, die schon wieder halb eingeschlafen war. Seltsam, dass diese beiden den Lärm nicht hören konnten. Ich hatte jedenfalls zu viel Angst, um nachzusehen, was dort oben vor sich ging. Also ging ich ins Bett und blieb stundenlang wach liegen, bis das Geräusch kurz vor Sonnenuntergang aufhörte und ich vor Erschöpfung einschlief.
 

 
Als ich wieder aufwachte, fror ich fürchterlich. Die dicke Decke, mit der ich eingeschlafen war, war anscheinend nach und nach aus dem Bett gerutscht. Fröstelnd rieb ich mir die Arme und schlurfte zum Fenster, um die Vorhänge aufzuziehen. Es hatte zu regnen aufgehört, aber der Himmel war immer noch grau und wolkenverhangen. Von meinen Fenster aus konnte ich den nicht weit entfernten Kirchenturm sehen, die Zeiger der Uhr zeigten halb vier Uhr nachmittags. Toll, jetzt hatte ich mehr als die Hälfte des Tages verschlafen, dabei wollte ich doch heute in den Wald gehen! Deshalb schlüpfte ich in Windeseile in einen alten, schwarzen und unheimlich bequemen Wollpulli und zog meine Lieblingsjeans an, die am Knie ein großes Loch hatte. Das Outfit sah zwar ziemlich alt und abgewetzt aus, aber das war ja egal, ich würde so rasch wie möglich aus dem Dorf verschwinden, um in den Wald zu kommen. Ich polterte die Treppe hinunter und stieß dabei fast mit Papa zusammen. "Hallo, Mia! Jetzt bist du auch endlich wach, du Schlafmütze! Es ist schon Nachmittag!" Ich grinste. "Morgen, Papa!" "Mama hat dir Essen aufgewärmt, für den Fall, dass du jemals aufstehst!", rief er mir nach, als ich ausgehungert in das Esszimmer sprintete. Der Geruch nach Gyros und dem besten Tzaziki der Welt ließ meinen Magen nur noch mehr knurren. Schnell belud ich einen Teller und fing an, zu essen. Mit dem Essen kam mein Gehirn in Schwung und damit leider auch die Erinnerung an letzte Nacht. Sofort war meine gute Laune verdampft und machte einem unruhigen Gefühl in der Magengrube Platz. "Hallo, Mia! Wenn ich doch je so viel essen könnte wie du und trotzdem nicht zunehmen würde..."Mama erschien im Türrahmen. "Hallo Mama", erwiderte ich leicht abwesend. Mir war gerade ein beruhigender Gedanke gekommen. Vielleicht hatte ich das alles gestern nur geträumt und war gar nicht verrückt. Und ich schlief ja öfters bis Nachmittag, weil ich einfach ein ziemlicher Langschläfer war. "Mia, ich hab ja gestern so was Seltsames geträumt!"Mama riss mich aus meinen Gedan! ken. "Wa s denn?", fragte ich desinteressiert. "Ich habe geträumt, dass du mitten in der Nacht in unser Schlafzimmer gekommen bist und behauptet hast, auf dem Dachboden wäre ein Einbrecher! Was man bei Vollmond nicht alles zusammenträumt!", meinte sie kopfschüttelnd. Ich verschluckte mich an meiner Gabel Gyros und mir wurde eiskalt. Es stimmte also, ich wurde tatsächlich verrückt. Mühsam versuchte ich mich unter Kontrolle zu halten und Mama nicht zu sagen, dass das letzte Nacht alles andere als ein Traum gewesen war, realer als alles, was sie sich vorstellen konnte. Auch wenn es nur für mich real war und für sonst keinen. "Echt unglaublich, was der Vollmond mit manchen Menschen anstellt..." war mein gehusteter Kommentar dazu. Das Grauen packte mich ganz langsam und drückte seine harte, kalte Hand immer stärker zu. Stocksteif saß ich auf meinem Stuhl. "Mia? Ist irgendwas?", fragte Mama besorgt. "Nein, nein, es ist nichts....", sagte ich tonlos. Mamas Augenbrauen schnellten in die Höhe, aber sie wusste, dass es keinen Sinn machte, weiter zu bohren. Also verschwand sie achselzuckend aus dem Zimmer und überließ mich mir selbst und der Angst. Kaum war sie draußen, spürte ich wieder diese allgegenwärtigen, grusligen Blicke im Nacken. Ich schloss die Augen für eine Sekunde und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Dann öffnete ich sie wieder und fühlte mich nicht viel besser. Heute kommt es mir vor, als würde dieser ständige, ungewohnte Beobachtungszustand, der mir so viel Angst gemacht hatte, Ewigkeiten zurückliegen, obwohl es erst ein paar Wochen her ist. Bevor ich in die Welt der Ewigkeit und Unendlichkeit abtauchte. Auf jeden Fall hatte ich jetzt eine Abwechslung nötig und beschloss deshalb in den Wald zu gehen und endlich was Neues zu sehen und beinahe unberührte Natur zu erleben. Ich räumte mein Frühstücksbesteck auf und nahm mir ein Croissant als Wegzehrung mit. Quasi als Frühstückersatz. Dann mümmelte ich mich in meine Regenjacke ein und verlies zum ersten Mal mein neues Zuhause. Es gab im ganzen Dorf nur zwei ! größere Straßen und sonst lauter Seitengässchen. Manche Leute würden dieses Dorf als "malerisch" und "rustikal" bezeichnen, doch als ich an diesem Tag aus dem Haus ging, war mir dieser Ort einfach nur fremd und ich konnte mir nicht vorstellen, mich dort jemals zuhause zu fühlen. Jetzt kenne ich jeden Winkel dieses Dorfes und fühle mich richtig wohl, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich will ja schließlich diese Geschichte erzählen. Ich machte mich jedenfalls auf den Weg in Richtung Wald, mein Croissant mümmelnd und mit den Händen in den Taschen. Eine Zeit lang hörte ich nur meine Schritte und sah die Häuser links und rechts an mir vorbeiziehen, doch plötzlich spürte ich was. Es war wie so eine Schwingung, wie ein kleines, leichtes Erdbeben. Es kam von vorn auf mich zu. Vor mir ging jemand. Ich wusste sofort, dass mit dieser Person etwas nicht stimmte, dass ich eigentlich Angst haben sollte, doch ich war einfach nur fasziniert. Es war ein Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Sie trug sehr ungewöhnliche Klamotten, sie erinnerten mich an einen Nachmittag, an dem ich Mamas alte  Kleiderkiste durchsucht hatte und Kleidung gefunden hatte, die sie wahrscheinlich mit Anfang 20 getragen hatte. Mitten aus den Achtzigern. Die Kleidung meiner Mutter war knallbunt gewesen, doch die Kleidung des Mädchens hatte komischerweise denselben Farbton wie der graue Himmel und die irgendwie heute ziemlich blassen Häuser. Sie wirkte wie aus einem Schwarz-Weiß-Streifen, sogar ihre Haare waren schwarz. Irgendwie flirrte die Luft um sie herum, wie in diesen Wüstendokus. Als würde die Luft sich nur in Bröckchen bewegen. Ein paar Sekunden starrte ich dieses komische Mädchen von hinten an; hatte sich nicht gerade ihre Rockfarbe an die Farbe des nächsten Hauses angepasst? Die Fremde schien mich nicht zu bemerken, und sie war mir zu unheimlich um mich ihr vorzustellen oder so. Doch in diesem Moment löste sich das Mädchen auf. Ja, sie löste sich auf! Ihre Umrisse verschwammen immer mehr, plötzlich bestand sie nur noch! aus Vie recken, und dann war diese Erscheinung verschwunden. Spielten mir jetzt nicht nur meine Ohren einen Streich, sondern auch meine Augen? Dort wo das Mädchen verschwunden war, blieb nur ein kleiner Rest flirrender Luft und ein Hauch dieser ungewohnten Schwingungen zurück. Ich wollte durch diese Luft hindurchgehen, aber ich kam nicht näher als fünf Zentimeter heran. Und dann war die Luft auch schon weg. Total perplex starrte ich minutenlang auf die Stelle hin; dann dämmerte mir, dass das jetzt unglaublich dämlich aussehen musste, und ging leicht wankend weiter. Ich zitterte am ganzen Körper. Dieses Dorf machte mich jetzt schon wahnsinnig. Von außen sah es ja richtig gemütlich und einladend aus, man konnte gar nicht erahnen, was unter der Oberfläche für seltsame Dinge vor sich gingen. Schnellen Schrittes verließ ich die schützende Reihe aus alten Häusern, es war innerhalb weniger Minuten so kalt geworden, dass mein Atem weiße Wölkchen bildete, wie der dampfende Atem eines kleinen Drachens. Außerhalb des Dorfes war es sehr zugig, so dass ich die Jacke enger um mich wickelte, um mich warm zu halten. Zusätzlich beschleunigte ich meine Schritte, damit ich nicht auskühlte. Mit größter Kraft versuchte ich diese Erlebnisse, die mich innerhalb weniger Stunden psychisch so sehr zermürbt hatten, zu verdrängen. So ruhig wie möglich sog ich die kalte, klare Luft ein. Vor mir sah ich die dunklen Spitzen der Bäume in die Höhe ragen. Sie wirkten irgendwie abwehrend, wie Speere. Ihre Umrisse waren scharf und kantig. Dieser Wald wirkte in keiner Weise einladend, aber ich wollte rein. Auch wenn irgendwas in mir flüsterte: Tu's nicht! Nein, ich brauchte mich nicht wegen jeder Kleinigkeit fürchten, bis jetzt hatten Bäume noch keinem Menschen was getan, außer die Peitschende Weide in den Harry-Potter-Romanen. Die Luft roch würzig, nach Tannennadeln und Zapfen und Baumrinde. Dieser Geruch war einfach nur Entspannung für meine geplagte Seele, es tat unheimlich gut. Ich wählte irgendeinen Weg, der in den Wald hineinführte. Mal sehen! , wo er endete. Wenn ich mich in diesem Wald verlaufen würde, musste ich einfach immer in die gleiche Richtung gehen, bis ich aus dem Wald rauskam, mich dann orientieren, wo ich mich befand und dann meine Eltern anrufen. Sie würden mich dann holen. Also hatte ich keinen Grund zur Sorge, und ich konnte mir auch einfach die Wege einprägen. Der Weg, den ich zuerst gewählt hatte, war ziemlich gewunden und machte sehr oft einen Schlenker. Anscheinend wurde er sehr selten benutzt, da man ihn teilweise überhaupt nicht erkennen konnte und er unter einer dicken Laubschicht verschwand. Dummerweise war das immer öfter der Fall und so war ich am Schluss ganz auf mich allein gestellt. Ich musste mir selbst den Weg suchen. Überall um mich herum Bäume, alles sah gleich aus, ich konnte nicht mehr sagen, woher ich gekommen war. Scheiße, schoss es mir durch den Kopf, jetzt habe ich mich echt verlaufen. Langsam sickerte Dunkelheit durch die Bäume hindurch, im Wald wurde es schneller Nacht wie im Freien. Sofort sank die Temperatur nochmal um ein paar Grad. Und plötzlich kam mir die Geräuschkulisse viel lauter vor, jedes Knacken im Unterholz, jedes Rascheln vergegenwärtigte sich mir mit einer Präsenz, die einfach beängstigend war. Der Wald erwachte zum Leben. Ich wusste nicht, ob es in diesem Teil von Deutschland Wölfe gab oder nicht. Und eigentlich wollte ich es auch nicht wissen. Na gut, das war ja auch nur ein Kindermärchen, dass Wölfe gefährlich sind. Deshalb brauchte ich mich auch nicht zu fürchten. Trotzdem war es mir äußerst unangenehm, zu dieser Tageszeit alleine mitten in einem riesigen Wald zu stehen, ohne zu wissen, wo ich war, und ich glaube, das kann jeder verstehen. Jedenfalls stolperte ich in der einsetzenden Dämmerung weiter, auf der Suche nach irgendeinem unverwechselbaren Orientierungspunkt, an dem mich meine Eltern abholen konnten. Wie sehr vermisste ich nur das gemütlich knisternde Kaminfeuer, meine selbstgestrickten Kuschelsocken und mein warmes Bett. Dazu noch eine schöne Tasse Pfefferminztee und ein spannendes! Buch od er ein schöner Film im Fernsehen...Mit diesen Gedanken versuchte ich mich von dem ständigen Knacken abzulenken. Ein Uhu stürzte vor mir auf eine Maus oder was auch immer nieder und mir blieb fast das Herz stehen. Das Tier flatterte aufgeschreckt von meiner Anwesenheit an mir vorbei und hätte mich fast mit seinem Flügel gestreift. Ruhig bleiben, redete ich mir ein. Einfach nur ruhig bleiben. Stück für Stück tastete ich mich weiter und musste mich immer wieder aufs Neue überwinden, nicht panisch loszurennen. Auf einmal befand ich mich auf einer Lichtung. Das Licht des Vollmondes ergoss sich wie eine silbrige Flüssigkeit darüber, und mitten darin glitzerte eine alte, verfallene Kapelle. Ein paar Ziegel waren schon vom Dach gefallen und der Putz blätterte ab. Doch sie bot zumindest Schutz. Schnurstracks steuerte ich darauf zu. Die Eingangstür zur Kapelle war so niedrig, dass ich den Kopf einziehen musste. Spinnen rieselten von der Decke, und die Heiligenbilder waren vergilbt, die Bilderrahmen angelaufen. Ich konnte keinen einzigen Heiligen identifizieren, abgesehen von der Maria mit dem Jesuskind. Sogar Kerzen waren noch da, vielleicht konnte ich ja irgendwie Licht machen. In der Mitte des kleinen Raumes war eine typische Kirchenbank und in der Ecke lehnte seltsamerweise eine verrostete Schaufel. Alles war nur unscharf und schwer zu erkennen, obwohl durch die Fenster Mondlicht fiel. Hastig kramte ich mein Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Mist, kein Netz. Naja, was soll man in einem Wald in der Nähe eines Kaffs auch erwarten. Ich ging nochmal aus der Kapelle raus und suchte die ganze Lichtung nach einem winzig kleinen Funkstrich ab. Nichts. Sollte ich die Polizei rufen? Notrufe konnte man schließlich überall absetzen. Doch in diesem Moment verschwand der letzte Akkustrich meines Handys, kurz blinkte die Meldung "Akku leer" auf, dann schaltete es sich aus. Hektisch versuchte ich, das Handy wieder einzuschalten. Aber es hatte keinen Sinn, es blieb ausgeschaltet. Bevor das Handy sich au! sgeschal tet hatte, hatte ich einen Blick auf die Uhr geworfen. Sie hatte sieben Uhr abends gezeigt. Meine Eltern mussten sich schon ziemlich Sorgen um mich machen und hatte bestimmt schon versucht, mich zu erreichen. Scheißescheißescheiße. So, wie es aussah, musste ich die Nacht hier verbringen! In dieser Eiseskälte in diesem unheimlichen Wald in einer alten, einsturzgefährdeten Kapelle! Eine Panik ergriff von mir Besitz, wie ich sie noch nie gefühlt hatte. Mein Magen wurde zu einem riesigen Eisklumpen und die Luft, die ich einatmete, stach in meinen Lungen. Mein Gehirn ratterte mechanisch im Rekordtempo die Möglichkeiten hinunter. Es waren nur zwei. Hierbleiben oder Weitergehen. Würde ich hierbleiben, würde ich womöglich erfrieren oder die Kapelle könnte über meinem Kopf zusammenbrechen. Wenn ich weiterging, würde ich mit viel Glück den Heimweg finden oder mich nur noch mehr verirren. Das war jetzt nicht unbedingt viel Auswahl. Trotzdem entschied ich mich dafür, auf der Lichtung zu bleiben. Vielleicht fand ich ja irgendwas, um die Kerzen anzuzünden. Also kehrte ich wieder in die Kapelle zurück und suchte nach Zündhölzern oder etwas Ähnlichem. Tatsächlich fand ich eine Packung, sie lag hinter der rostigen Schaufel. Ich zündete die Kerzen an und das Bild der Maria erstrahlte in ihren ein wenig ausgebleichten Farben. Aber vor ein paar Jahrzehnten sah sie bestimmt toll aus. Das Licht verbreitete einen kleinen Hauch Wärme, und ich rückte näher ran. Ich wusste nicht, wie lange ich dort gesessen war, vielleicht wenige Minuten, vielleicht auch eine halbe Stunde, als es passierte. Ich betrachtete eine Kerzenflamme, wie sie sich verformte und nie gleich aussah. Ich war so sehr versunken, dass ich zuerst nicht bemerkte, wie sich die Flamme sehr stark veränderte. Sie bekam oben in der Mitte zuerst einen kleinen Keil, der dann immer größer wurde. Schließlich wurde aus der einen Flamme eine zweite, beide hingen gleichzeitig am Docht. Ich hatte die letzten Stunden so viel Wahnsinn erlebt, da haute mich so eine banale zweite K! erzenfla mme nicht mehr vom Hocker. Meine Aufmerksamkeit wurde erst erregt, als die zweite Flamme plötzlich über dem schmutzigen Kapellenboden schwebte. Sie bildete einen kleinen Feuerball, der sich permanent drehte. Er sah wunderschön aus. Der Feuerball schwebte auf mich zu und sah dabei so nach Geborgenheit und Wärme aus, dass ich meine Angst fast vergas. Ich streckte die Hand aus und berührte den Ball, und für mich war es irgendwie ganz selbstverständlich, dass er mich nicht verbrannte. Der Ball schwebte aus der Kapelle hinaus und ich wusste, dass ich ihm folgen musste. Es war, als hätte er neuen Mut in mir entzündet, und das tat richtig gut. Langsam wanderte der Ball über die Lichtung und blieb immer wieder stehen, als wäre er ein treuer Hund, der auf seinen Besitzer wartet. Er bewegte sich in das Wirrwarr aus Gestrüpp hinein, aus dem ich gekommen war, und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass dieses seltsame Erlebnis das erste war, dass mich nicht schockierte und das mir sogar helfen würde, den Heimweg zu finden. Tatsächlich schien mich der Ball auf exakt den Weg zurückzuführen, den ich zu Beginn gewählt hatte. Die Äste zerkratzten mir das Gesicht und die Arme, aber das war mir egal. Hauptsache, ich kam nachhause. Langsam breitete sich in mir Vorfreude auf ein warmes Zimmer und die erleichterten Gesichter meiner Eltern aus, und mit neuer Kraft stieg ich über aus dem Boden ragende Wurzeln, Dornen und spitze Steine hinweg. Meine Atmung war jetzt ruhiger und ausgeglichener, so dass ich kein Seitenstechen bekam. Jetzt hatte ich keinen einzigen störenden Gedanken mehr im Kopf, ich wollte einfach nur noch heim. Meine Augen fixierten sich nur noch auf den Ball, registrierten jede noch so kleine Richtungsänderung und die Seiten des Weges wurden zu einem verschwommenen etwas aus Schwärze. Ich fühlte mich total beschützt und das immer noch gut vernehmbare Rascheln und Knacken brachte mich nicht mehr aus der Fassung. Nach ein paar Minuten kannte ich mich wieder aus, ich und der Ball hatten diesen gewundenen Weg wie! der gefu nden. Bald verließen wir den Wald und darüber war ich sehr froh. Mit dem Wald verschwand auch gleichzeitig beruhigender weise dieses Rascheln und Knacken. Kaum war ich aus dem Wald draußen, verschwand auch der Feuerball. Jetzt erst fiel mir auf, dass diesen Ball auch dieselbe flirrenden Luft umgeben hatte wie das Mädchen heute Nachmittag. Auch diese Schwingungen waren da gewesen. Doch ich war zu erschöpft, um mich über diesen Zusammenhang zu wundern.
 
Kapitel 2
 
"Da bist du ja endlich! Wir hätten schon fast die Polizei gerufen, Mia!" Mama stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Nur Papa sah immer noch leicht besorgt aus. "Ist dir irgendetwas passiert?", fragte er. "Nein, gar nichts, überhaupt nichts.", sagte ich eine Spur zu schnell. Doch meine Eltern schöpften keinen Verdacht, sie waren zu froh, mich wiederzuhaben. Doch über Papas Gesicht huschte kurz ein zweifelnder Ausdruck, er kannte mich einfach zu gut und merkte es sofort, wenn ich log. "Wirklich nichts?", hakte er nach. "Nein, wenn ich's euch doch sage! Was hätte schon passieren können?" Papa runzelte kurz die Stirn. Trotzdem antwortete er: "Stimmt, du hast Recht." Es war zwar erst halb acht, aber ich war todmüde und sehr hungrig. "Ich kann dir ein wenig Lasagne warm machen, wenn du willst.", schlug Mama vor. "Oh ja, danke!", strahlte ich sie an. Lasagne war mein absolutes Lieblingsessen. Schon nach wenigen Minuten erfüllte der Geruch nach Hackfleisch und italienischen Gewürzen das Esszimmer. Mir lief das Wasser im Mund zusammen und stürzte mich sofort auf den dampfenden Teller. In Rekordzeit schlang ich zwei Stücke Lasagne hinunter. Dann schnappte ich mir das Haustelefon und verzog mich damit auf mein Zimmer. "Ich rufe mal Sonja an." meinte ich auf den fragenden Blick meiner Eltern hin. Sonja war meine beste Freundin, doch wegen des Umzugs wohnten wir jetzt viele hundert Kilometer weit auseinander. Wir hatten ausgemacht, sooft wie möglich miteinander zu telefonieren. Trotz meiner Erschöpfung brauchte ich jetzt einen Menschen, mit dem ich alles teilen konnte, der mir zuhörte, wie ich meinen Wahnsinn erzählte und einfach für mich da war. Sonja war wahrscheinlich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mich nicht für verrückt erklären würde. "Hallo?", klang es aus den Telefonhörer. "Hallo Sonja, ich bin's!", verkündete ich mit matter Stimme. "Ach, Mia, du bist es! Ich hätte dich auch gerade angerufen! Du fehlst mir ziemlich." "Du mir auch, Sonja." "Du hörst dich ziemlich fertig an, Mia, was ist! los? Is t es, weil der Umzug so anstrengend war oder wegen etwas anderem?" Sonja war sofort besorgt, sie brauchte nur meine Stimme zu hören, um zu wissen, wie es mir ging. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten und hatten schon vieles gemeinsam durchgestanden. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie würde mich besser kennen als ich mich selbst. "Wenn ich dir das erzähle, darfst du mich nicht für verrückt halten, okay?" "Das würde ich doch nie!" An ihrer Stimme hörte ich, dass sie lächelte. Sie würde mich verstehen. "Also gut. Aber du musst in einen anderen Raum gehen, damit deine Eltern nichts mitkriegen." "Ich bin eh in meinem Zimmer."Okay. Ich atmete tief durch. Und dann begann ich zu erzählen.
 
Als ich geendet hatte, war es am anderen Ende mucksmäuschenstill. Ich dachte, Sonja, meine allerbeste Freundin, hätte einfach aufgelegt, weil es mir zu viel wurde. "Sonja?", flüsterte ich. "Ja?" "Was denkst du?" "Ach, Mia..." "Sag schon!" "Ich kann das einfach nicht glauben!" "Musst du aber! Ich würde dich nie belügen!" "Weißt du, das alles kommt mir so übernatürlich vor...Das überfordert mich total!" "Ich kann es mir vorstellen, ich kann es ja selbst kaum glauben.", sagte ich leise. "Aber ich habe eine Idee, was mit dem Mädchen sein könnte..." "Was denn?" "Denk mal nach...Normale Leute lösen sich nicht in Luft auf...Sie könnte...naja...du weißt schon.." Nein, ich hatte keine Ahnung. "Sonja, worauf willst du hinaus?" "Also, es könnte sein, dass das Mädchen gar nicht wirklich existiert oder das nicht mehr tut." "Das heißt, ich bin verrückt." "Ach, ich weiß es doch auch nicht! Ich meine, sie könnte...ein Geist sein!" Mir verschlug es die Sprache. Geister gibt es nicht! Das ist doch nur ein Kindermärchen! Ein Schauer breitete wie ein schwarzer Vogel von innen nach außen seine Flügel aus, und auch wenn mein Verstand "Nein!" sagte, wusste mein Instinkt, dass ich es mit etwas zu tun hatte, das nicht von dieser Welt war. "Mia?" "Geister gibt es nicht! Das ist doch nur ein Kindermärchen!", sagte ich erstickt und wenig überzeugend. "Mia, ich würde jetzt alles geben, um bei dir zu sein und dir zu helfen. Wir müssen uns so bald wie möglich treffen. Aber ich glaube, es ist am besten, du machst dich mal über das Thema schlau. Und vielleicht war ja alles doch nur Zufall oder Einbildung. Doch sicher ist sicher." Ich wusste nie, wie Sonja das machte, dass sie immer die richtigen Worte fand. "Danke, Sonja, dass es dich gibt!" "Kein Ding, Mia." Ich hörte durchs Telefon hindurch, dass sie grinste. "Leg dich am besten hin und schlaf eine Nacht drüber, dann sieht morgen die Welt schon anders aus." "Du hörst dich an wie meine Mama!", lachte ich. "Aber ich glaube, es ist echt besser, wenn ich mal schlafe. Und morgen google ich! Geister . Gute Nacht, Sonja." "Gute Nacht, Mia." Kaum hatte ich aufgelegt, wankte ich von meinem gemütlichen alten Sessel zu meinem Bett und lies mich auf mein Bett fallen, ohne das Schlafshirt anzuziehen, das Sonja mir zum Abschied geschenkt hatte und auf das sie ein wunderschönes Portrait von uns zwei gemalt hatte. Nach wenigen Sekunden war ich eingeschlafen.
 
Die Internetrecherche am nächsten Tag war nicht sonderlich erfolgreich. Sobald ich das Stichwort "Geister" eingab, fand ich zig Seiten, die oft ziemlich esoterisch waren und die Naturwissenschaften in Frage stellten. Dazu noch ein paar Fotos von "Geistern" die von ihrem Erscheinungsbild her tatsächlich dem Mädchen ähnelten. Zudem gab es auch Berichte, nach denen viele Personen tatsächlich schon Geister gesehen hatten. Also war ich vielleicht doch nicht die einzige Verrückte. Aber was war mit diesen Geräuschen auf den Dachboden? Laut Internet musste das ein Poltergeist gewesen sein. Eigentlich hatte ich ja Antworten auf alle meine Fragen bekommen, außer darauf, warum ich scheinbar als Einzige etwas von diesem Übernatürlichem mitbekam. Aber ich wollte es einfach nicht glauben, dass es in diesen Zeiten Gespenster und Geister gab. Schließlich wurde dieser Glaube jedem Kind schon im Kindergarten ausgetrieben. So etwas war einfach unbegreiflich für mich, und ich glaube, das wäre es auch für jeden anderen gewesen. Natürlich hatte ich, ich während ich das Internet durchsucht hatte, wieder das Gefühl gehabt, jemand würde mir über die Schulter schauen. Ich gewöhnte mich so schnell an dieses allgegenwärtige Beobachtet werden, das es schon gar nicht mehr gruslig, sondern einfach nur nervig war. Zum Glück verfolgten mich diese Blicke nicht bis unter die Dusche. Seufzend klappte ich meinen Laptop zu und ging nach unten zum Frühstücken. Über Nacht war es plötzlich Winter geworden, obwohl Halloween erst wenige Tage zurücklag. Eine dünne Schneeschicht lag auf dem Gras und glitzerte im Sonnenlicht. Das Thermometer zeigte knapp unter 0C° und im Kamin knisterte ein Feuer. Beim Anblick der Schneedecke führte ich einen kleinen Freudentanz auf, sobald ich den ersten Schnee sah, wurde ich sofort wieder ein kleines Kind, fröhlich und unbeschwert. Ich musste heute unbedingt noch raus. Vielleicht waren heute auch mehr Leute draußen, dann könnte ich auch neue Mitschüler kennenlernen. Denn morgen war Montag und da musste ich zum ers! ten Mal in die neue Schule in der nächsten Stadt gehen. Anscheinend waren meine Eltern gerade nicht da, denn niemand hatte mich bemerkt. In der Küche fand ich einen Laib Brot und ein Glas Nutella. Dazu noch eine Banane und eine Tasse heiße Schokolade, fertig war mein perfektes Frühstück. Auf dem Tisch lag die heutige Zeitung und ich vertiefte mich sofort in den Sportteil, während ich mein Brot aß. Als ich gerade einen Artikel über das Spiel meines Lieblingsfußballvereins las, hörte ich plötzlich einen Laut, der mir das Blut in den Adern gefrieren lies. Der Laut wiederholte sich nochmal und ich hörte genauer hin. Ich atmete auf. Es war nur eine Katze. Aber anscheinend eine Katze, der es nicht gut ging, und ich als Katzenfreundin musste nachschauen, ob ich ihr helfen konnte. Schnell beendete ich mein Essen und zog meine dicke Winterjacke an. Ich stürmte in den Garten und folgte dem immer dringlicher werdenden Geräusch. Es war richtig langgezogen und hörte sich ziemlich klagend an. Gut, dass Schnee liegt. Vielleicht finde ich Spuren. Die Welt um mich herum war groß, weiß und schweigend. Als wäre alles in Watte getaucht und gedämpft. Meine Schritte knirschten über den Boden, vorbei an dunklen Bäumen, die ihre kahlen Äste wie mahnende Finger in den Himmel streckten. Ich hatte gar nicht gewusst, dass unser Garten so groß war. Der Zaun war immer noch ziemlich weit weg, und langsam dämmerte mir, dass das viel Arbeit für Mama werden würde Ich kämpfte mich durch einen der verschneiten Sträucher hindurch und suchte nach irgendeinem kleinen Tier mit weichem Fell. Ich musste schon ganz nahe da sein. Eine Wurzel eines ziemlich alten und großen Ahornbaums ragte aus dem Boden, und darunter lag eine kleine, magere Katze mit struppigen, grau-braun gestreiftem Fell. Doch sie war nicht allein. Sie war wieder da. Das Mädchen. Sie beugte sich über die Katze und sah sie an. alles an ihr war weiß, sogar ihre Haare. Sie sah nur der Katze zu, wie sie litt und schwach war. Sie berührte sie nicht und machte auch sonst keine Anstalten, ihr ! zu helfe n. Vorsichtig und so leise wie möglich ging ich auf sie zu. Mein Herz pochte wie verrückt. Das Mädchen bemerkte mich, hob den Kopf und sah mich an. Ich erschrak. Ihr Gesicht war sehr schmal und die Wangen waren leicht eingefallen. Doch das erschreckendste an ihr waren ihre Augen. Sie waren groß und schwarz, und irgendwie herrschte in ihnen Leere. Halt, ihre Augen waren nicht ganz schwarz. In ihnen waren graue Wirbel, die sich unablässig drehten. Ich folgte diesen Wirbeln und mir war ganz ruhig zu Mute. Es war dieselbe Ruhe, wie ich sie gestern auch gespürt hatte, als ich dem Feuerball nachging...Sekundenlang starrten wir uns an. Es kam mir vor wie eine kleine Ewigkeit. Das Mädchen verzog bei meinem Anblick den Mund zu einem leichten Lächeln. Im Hintergrund war ein immer lauter werdendes Grollen zu vernehmen, ich hatte keine Ahnung, woher das kam, aber das war mir egal. Ich war die Ruhe selbst. Doch das Mädchen drehte sich erschrocken um. Anscheinend sah sie etwas, das ich nicht sehen konnte. Ich dachte nicht im Entferntesten daran, mich zu fürchten, obwohl dieses Geräusch einem Wesen Angst einjagte, das eindeutig nicht von dieser Welt war. Das Mädchen gab einen seltsamen, hohen Ton von sich. Das Grollen hörte auf. Sie drehte sich nicht mehr zu mir um und verschwand auf der Stelle. Und ich stand da und starrte ins Nichts. Ein nochmaliges "Miau" riss mich aus meinen Gedanken. Ich schüttelte mich. Meine Nerven spielten total verrückt, wahrscheinlich lag das an dem Umzug. Ich verdrängte jeden Gedanken an diese schockierenden Ereignisse und wandte mich der Katze zu. Ihre Augen waren verstört und hatten anscheinend schon viel Schlimmes gesehen. Sie tat mir sofort leid. Bestimmt hatte sie Hunger. Hoffentlich durfte ich sie aufpäppeln und auch noch behalten. Bis jetzt hatten sich meine Eltern immer gegen ein Tier gesträubt. Langsam beugte ich mich zu der Katze hinunter und streichelte ihr glanzloses Fell. Sie zuckte bei meiner Berührung zusammen, lief aber nicht weg. Wahrscheinlich fehlte ihr dazu die Kraft. "Sc! hscht, g anz ruhig. Ich tu dir nichts.", sagte ich zu ihr. Dann hob ich sie vorsichtig auf. Sie wog fast nichts, man konnte deutlich ihre Rippen spüren. Überraschenderweise versuchte sie nicht, mich zu kratzen oder zu beißen. Sie lag einfach nur schlaff in meinen Armen. Im Haus legte ich sie auf eine alte Decke und stellte ihr eine Schale Milch hin. Dummerweise war heute Sonntag, also konnte ich nicht in den Dorfladen gehen und Katzenfutter kaufen. So ein Mist. Obwohl, ich könnte ja unsere neue uralte Nachbarin fragen. Die hatte eine ganze Katzenherde, aber ich glaubte nicht, dass dieses Exemplar von ihr stammen könnte. Unsere Nachbarin liebte ihre Katzen über alles und so sahen diese auch aus. Bestimmt hatte sie eine Dose Katzenfutter für mich. Ich lief zum nächsten Haus und klingelte. Die alte Frau öffnete und sah mich fragend an. "Hallo, ich habe mich ja schon mal vorgestellt, ich bin Mia, die neue Nachbarin. Ich habe gerade eine Katze gefunden, sie ist kurz vorm Verhungern. Aber heute hat der Dorfladen zu und im Haus haben wir kein Katzenfutter. Ähm, könnte ich welches von Ihnen haben?" "Wie bitte? Du musst lauter reden, Kindchen!"Ich seufzte und wiederholte den Satz lauter. "Ach so, natürlich bekommst du ein wenig was!" Sie wuselte zurück ins Haus und kam mit zwei Dosen Futter wieder raus. Eigentlich hätte eine auch gereicht, aber so hatte ich wenigstens einen kleinen Vorrat. "Dankeschön, das ist sehr nett von Ihnen, Frau...Entschuldigung, wie heißen sie auf einmal?" "Keine Ursache, Mädchen. Mein Name ist Bertha Hohenstein." "Also, danke, Frau Hohenstein." Die Alte sah mich nachdenklich an. "Du erinnerst mich stark an meine Enkelin. Sie war nur ein bisschen älter als du." "Sie war..?" "Sie ist vor 30 Jahren gestorben, mit 17. Sie...sie wurde umgebracht, im Wald." Warum bekam ich jetzt so ein mulmiges, wissendes Gefühl in der Magengegend? "Oh, das tut mir sehr leid für Sie..." Es braucht dir nicht leid tun, es ist ja nicht deine Schuld...Auf Wiedersehen." "Auf Wiedersehen." Die Alte schlug die Tür zu. Auf dem! Rückweg zu unserem Haus zog mein Gehirn die unangenehme Verbindung zwischen der Enkelin von Frau Hohenstein und dem unheimlichen Mädchen, das in Klamotten aus den Achtzigern rumlief...Sie ist vor 30 Jahren gestorben, mit 17. Der Satz schoss mir durch den Kopf. Ja, das Mädchen sah aus wie 16 oder 17...Aber wer sagte, dass sie wirklich existierte? Langsam konnte ich eh nicht mehr mir selbst trauen...
 

 

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