Christa Astl

Der schneeweiße Hase


 
 
Es war einmal ein kleines Häschen, das lebte mit seiner großen Hasenfamilie mitten drin im dichten Wald. Es hatte viele Geschwister und viele Cousins und Cousinen, mit denen es spielen konnte und hätte ein glückliches Hasenleben führen können, wenn, ja wenn es nicht weiß gewesen wäre.

Bei seiner Geburt hatte es zwar wie alle Hasen vier Beine und zwei lange Ohren, aber keine braune Farbe mitbekommen. Braune Hasen können sich im Wald leichter verstecken, sie werden auf dem braunen Waldboden nicht so gut gesehen, aber ein weißer Hase leuchtete ja direkt heraus und jeder Fuchs und jeder Raubvogel würde ihn sofort entdecken. Und so musste der kleine weiße Hase immer in seinem Versteck unter einem dichten Strauch bleiben; nur ganz selten einmal, wenn genügend erwachsene Hasen zum Aufpassen da waren, durfte er mit ihnen für kurze Zeit durch die Wiesen tollen. Aber beim Fangen spielen war er stets der Langsamste, und bei den Versteckspielen wurde er sofort gefunden. So machte es ihm auch keine Freude, mit anderen zu spielen. Was aber sollte er tun den ganzen Tag?

Er beschloss, Forscher zu werden. Stundenlang lag er unter seinem Busch und sah zu, was sich um ihn herum so bewegte. Bald kannte er alle Käfer, die Bienen, die benachbarten Mäusefamilien, den Specht vom daneben stehenden dürren Baum, und auch die Wohnung des großen Uhus wusste er, die ebenfalls nur ein paar Bäume entfernt war. Vor diesem musste er sich ganz besonders hüten. So ein kleines Häschen wäre für den Uhu eine Festmahlzeit gewesen, aber unser Häschen war schlau.   

Als es größer geworden war, wechselte es seine Wohnstätten unter den Sträuchern. Früher hatte es auch versucht, sich in der feuchten Erde zu wälzen, damit es etwas Farbe bekommen könnte, - aber sobald es getrocknet war, fielen Sand und Erde ab und es war wieder weiß, so sehr es sich auch bemühte, seine Dreckfarbe zu behalten, denn Hasen mögen normalerweise gerne sauber sein.

Inzwischen war es Sommer geworden, das Gras wurde höher und der Hase musste sich nicht mehr so verbergen, auch war er inzwischen schon ziemlich groß geworden, da er sich genug Zeit ließ, nur die schmackhaftesten und nahrhaftesten  Gräser und Kräuter zu suchen. Seine Hasengeschwister und Cousins und Cousinen waren nun alle erwachsen geworden und suchten sich wen, um eine neue Familie zu gründen. Doch wer wollte einen weißen Hasen und dann vielleicht auch weiße oder gar gefleckte Kinder? – Nein, er musste allein bleiben.

Zuerst war er sehr traurig darüber, doch wie ich euch schon gesagt habe, er war ja ein Forscher. Und wie er als Hasenkind alle Sträucher der Umgebung erforscht hatte, so wurden seine Wege nun weiter und er erforschte den Wald bis zu seinem Ende. Da der Wald so riesengroß war, dauerte das lange und inzwischen war der bunte Herbst ins Land gezogen. Das Gras wurde dürr, die Blätter an den Bäumen bunt, bald blies sie der Wind zu Boden, es kam wieder eine gefährliche Zeit für den Hasen.

Und eines Tages fiel der erste Schnee. Als der Hase unter seinem Strauch hervorhüpfte, staunte er über die weiß verzauberte Welt! Aber dann wurde er ganz glücklich, denn die Wiese hatte nun dieselbe Farbe wie er selber! Übermütig sprang und purzelte er zwischen den Bäumen herum, und bald war ihm dort der Platz zu klein für seine Freudensprünge. Aber er war ja schon am Waldrand, wo im Sommer die Almwiese begann. Nun kannten seine Freude und sein Übermut keine Grenzen mehr. Bergauf hoppelte er mit großen Sprüngen, sank manchmal tief ein und versteckte sich kurz, um ein wenig zu Atem zu kommen, im nächsten Moment ging es mit Riesensprüngen weiter und bergab, dass die Ohren nur so flogen. Dazwischen machte er sogar Purzelbäume und hohe Luftsprünge oder schlug Haken, denn er war ja allein, so dass er alles Mögliche ausprobieren konnte.

Doch er war gar nicht allein: ganz in der Nähe saß ein Hasenmädchen und schaute ihm die längste Zeit voller Bewunderung zu. Er sah sie zunächst gar nicht, nicht nur weil er so mit seinen Kunstsprüngen beschäftigt war, sondern weil auch dieses Hasenmädchen weiß war wie der Schnee. – Und weiß wie er, bemerkte er erschrocken, als er sie beinahe überrannt hätte. Das Hasenmädchen lachte, als er so plötzlich vor ihm abbremste, dass er mit der Nase im Schnee landete. Fast hätte er sich geärgert über dieses Missgeschick, das ein anderer beobachtet hatte, aber die Häsin hoppelte herbei und schaute ihn so lieb an, dass er sich schnell den Schnee von den Barthaaren wischte und ihr nach Hasenart einen Nasenkuss gab.

Dann sprangen beide miteinander zu einer windgeschützten Mulde an den Felsen und richteten sich dort die Wohnung für ihre neue Familie ein und schon bald hüpften ein paar junge Schneehasen mit ihren glücklichen Eltern über die Wiesen.
 
 
ChA 2011

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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