Rachida Zoubid

Aller Anfang ist nicht schwer

 
Wir besuchten Behnam, als gerade seine Freundin Angela aus Nies bei ihm war. Sie begrüßte uns herzlichst und bot uns Kaffee und Käsekuchen an; seit diesem Tag liebe ich Käsekuchen am meisten von allen Kuchensorten! Sie gaben uns danach die Zimmerschlüssel ihres Freundes und wir verabredeten uns für den nächsten Tag, um die Krankenversicherung abzuschließen, unser marokkanisches Geld zu wechseln und die Universität zum ersten mal zu besuchen, wo unser Deutschkurs stattfinden würde.

Oh ja! All dies wollte Behnam und seine Freundin mit uns unternehmen. Es ist unglaublich aber wahr. Solche freundlichen, hilfsbereiten Menschen gab es tatsächlich und gibt es immer noch in Deutschland! Ich dachte, ich wäre im Paradies angekommen. Und es gelang uns alles auf Anhieb.

Das Zimmer, wo wir wohnen sollten, lag im siebenten Stock eines Hochhauses. Behnam wohnte im dritten Stock. Ich war tatsächlich niemals an  so einem hohen Ort in meinem ganzen Leben. Wir haben immer in Häusern gewohnt, die nur ein Parterre haben. Einmal versuchte ich in dem Zimmer aus dem ausgedehnten breiten Fenster nach unten zu schauen; ich  wünschte ich hätte dies nie getan, weil ich seit diesem Tag Höhenangst habe. Vielleicht hatte ich schon immer Höhenangst und bemerkte dies erst in Deutschland! Beim Schlafen hatte ich das Gefühl, ich befände mich an irgendeinem unbekannten, unsicheren Ort zwischen dem Himmel und der Erde. Ich riss mich zusammen, beschloss, nie wieder aus dem Fenster zu schauen und tröstete mich, zum ersten Mal für eine ganze Nacht mit meinem legitimen Gemahl Mal unter einem Dach zusammen zu sein,  ohne dass ich Angst haben musste, jemand könnte uns dabei erwischen und in meiner Intimsphäre eindringen oder mich sogar hart dafür bestrafen.
Wir freuten uns darüber, im Zimmer einen kleinen Schwarz-weiß Fernseher zu haben und  zum ersten Mal die chte
Nachrichten auf Deutsch hören und sehen zu können:Obwohl wir kein Deutsch beherrschten, verstanden wir einige Wörter, die lateinischen Ursprungs waren. Abdou freute sich auf Fußball im Fernsehen, zumal er ein begeisterter und eifriger Fußballspieler war. Am Abend gingen wir zwei spazieren. Vor lauter Aufregung und all der neuen Erlebnisse vergaßen wir, dass wir auch etwas essen mussten. Hätte sich der große Hunger nicht gemeldet, hätten wir tatsächlich nicht daran gedacht!  Wir entschieden uns dann unseren ersten Tag im Studentenwohnheim mit einem sättigendem Essen zu feiern, egal wie teuer es sein mochte.Wir trafen dan die Entscheidung, ein gegrilltes Hähnchen ins Zimmer mitzunehmen und vor dem schönen Fernseher zu essen.
Wir liefen bis zum Stadtzentrum. Vor einem  Geschäft sahen wir, wie Menschen aus einem Ort mit Hähnchen heraus kamen. Wir standen vor der Kasse, begrüßten die Verkäuferin auf Englisch und bestellten daraufhin ein gegrilltes Hähnchen. Sie verstand kein Wort, dann fragten wir sie auf Französisch. Sie verstand wieder kein einziges Wort und machte Mimik mit ihrem Gesicht, um dies zum Ausdruck zu bringen. Ich machte dann die Krähen eines Huhns, nämlich: "Kukuousche!". Sie beobachtete mich belustigt und lachte lauthals; ich wusste in diesem Moment nicht, dass die Laute der Tiere von Land zu Land unterschiedlich waren. Plötzlich händigte sie einem Kunden ein gegrilltes Hähnchen aus. Ich zeigte darauf und sagte wieder: "this is chicken!!!» Sie schaute auf das Hähnchen, lachte wieder und sagte: " Warum sagen Sie das nicht gleich?". Seit diesem Tag wussten wir, dass "chicken"Hähnchen heißen. Wir bedankten uns bei ihr und gingen zurück zum Wohnheim. Kaum waren wir dort, als es anfing ganz heftig zu schneien und sehr kalt zu werden. Wir beeilten uns dann ins Zimmer, machten es uns bequem auf dem schönen Einzelbett und aßen unser Hähnchen.
Im Fernsehen lief gerade ein Film auf Französisch in irgendeinem belgischen Kanal. Wir konnten tatsächlich Belgien empfangen, weil Aachen an der belgischen Grenze lag. Für mich war das Ganze unvorstellbar: Man empfängt viele Kanäle, die Programme laufen vormittags und auch nach Mitternacht und man hört verschiedene Sprachen im Fernsehen.
In Marokko konnte man nur bei Sonnenuntergang den Fernseher anschalten, um dann als Programmeröffnung Koranverse zu hören und dann Zeichentrickfilme zu sehen; danach gab es meistens eine ägyptische Fernsehserie, dann kamen die Nachrichten auf Französisch oder Arabisch, dann wieder eine Serie auf Französisch oder Marokkanisch oder häufiger auf Ägyptisch oder manchmal ein amerikanischer oder französischer Film, dann die zweite Ausgabe der Nachrichten. Manchmal gab es wöchentlich Unterhaltungssendungen.
Die Nachrichten begannen immer mit dem Bild des verstorbenen Königs Hassan II. und dann mit einer ausführlichen Darstellung seiner offiziellen Unternehmungen innerhalb und außerhalb Marokkos. Mein Vater verlangte immer Totenstille, wenn die Nachrichten gerade liefen. Meine Mutter segnete immer den König, wenn er gezeigt wurde und wünschte ihm samt seiner Familie Schutz vor seinen Feinden, Sieg und Gottessegen. Ich habe immer gedacht, der König wäre genauso heilig wie die Propheten und fragte einst meine Mutter, ob er auch, wie alle Gesandten Gottes bestimmte Wunder vollbrachte.
Statt eine Antwort zu bekommen, wurde ich sofort eingeschüchtert und sollte meinen Eltern versprechen, nie wieder solche Fragen zu stellen. Ich wollte immer vieles erfahren, zumal das, was  im Fernsehen gezeigt wurde für mich abstrus klang, aber es war hoffnungslos zu Fragen.
Im Laufe der Jahre wusste ich sogar, dass  ich mit meinen Fragen eine Gefahr für mich und für meine Familie darstellen würde und dadurch könnten meinen Vater, ja sogar mich, obwohl ich minderjährig war, ins Gefängnis stecken. Einstmals erzählte ich, dass es nicht richtig war, den König zu lieben, wenn es den Menschen nicht erlaubt war, frei von jeder Gefahr Fragen politischer Natur zu stellen; meine Mutter konterte daraufhin, dass der König selbst in Gefahr sei und nicht alle ungerechten Haftbefehle stoppen konnte, da er keine Kenntnis davon hätte. Inwieweit dies stimmte oder nicht stimmte, konnte ich zu jener Zeit noch nicht wissen. 
Während der religiösen Feste und der nationalen Feierlichkeiten wurden gar keine Filme ausgestrahlt, stattdessen gab es nur Koranlesungen und Lieder zu hören und selbstverständlich königliche Unternehmungen in den Nachrichten. Bei den Geburtstagen des Königs und des Thronfolgers hatten wir schulfrei und wurden dann für die Feierlichkeiten in unseren Schulen vorbereitet, um bei den offiziellen regionalen Festen teilzunehmen.   
Während der ganzen Nacht war der Schneesturm sehr heftig. Ich hatte das Gefühl, die Fenster würden jederzeit vom stürmischen Wind zertrümmert. Diese Windstärke und die damit verbundenen Witterungsverhältnisse waren neu für mich. Ich wusste dann, dass ich mich wohl noch vielen neuen Wirklichkeiten und Umständen anpassen musste, um hier glücklich und unabhängig und furchtlos leben zu können.
Abdou bemerkte meine große Angst vor dem Schneesturm und beschloss, die Gardinen zuzuziehen, obwohl er von dem Schneesturm völlig begeistert war. Er beruhigte mich mit seiner unendlichen Zärtlichkeit und leuchtenden Herzenswärme, bis ich einschlief. Am nächsten Tag bedienten wir uns von dem Vorrat des Freundes von Behnam, um zu frühstücken, weil wir noch keine eigenen Lebensmittel gekauft hatten. Wir nahmen dann unser Frühstück in der Gemeinschaftsküche des Wohnheims ein und gingen ins Behnamszimmer. Angela und Behnam warteten gerade auf uns im Fernsehraum des dritten Stocks, wo die beiden uns wieder ein richtiges Frühstück einservierten: Frische Brötchen mit verschiedenen Käsesorten, Bienenhonig, Marmelade, zahlreiche Wurstsorten und selbstverständlich frisch gekochten duftenden Bohnenkaffee. Es war alles so majestätisch vorbereitet, als wären wir Ehrengäste. Wir brachten dies natürlich zum Ausdruck und sie antworteten darauf,  wir wären wirklich Ehrengäste, dieses Frühstück sei einmalig und wurde aus Anlass unserer Hochzeitsnacht vorbereitet. Die beiden wussten alles über uns, weil ich Angela alles erzählt hatte. Ich war überglücklich.

Abdou beobachtete mich innig, glückselig und Freude erfüllt. Er sprach mit mir mit seinen Augen und ich wusste sofort, dass  er diesen Akt  von Behnam und Angela, genauso rührend und faszinierend fand iwe ich. Ich ging  mit Angela die Stadt besichtigen und Abdou und Behnam gingen die übrigen bürokratischen Angelegenheiten für uns zu erledigen.
Die Stadtbesichtigung mit Angela war sehr aufschlussreich. Die materiellen Dinge, wie Kleidung und so weiter interessierten mich überhaupt nicht. Faszinierend fand ich dagegen die gothische Architektur der Kirche am Marktplatz, die schönen Bistrogardinen an den Fenstern der Häuser und Wohnungen, die kurzen Gitter an den Gartengrenzen, die Sauberkeit der Straßen, die Ordnung der wartenden Menschen vor den Schaltern und den Bushaltestellen und vor den Kassen in den Supermärkten und vor allem die Höflichkeit der Menschen, die jedem und jeder einen schönen Guten Morgen oder Tag wünschten, als ob sich die Menschen in den Straßen alle kannten oder sogar miteinander verwandt wären. Am Anfang antwortete ich nicht auf ihre Begrüßung, da ich sie nicht kannte und manchmal dachte, sie wären wohl geistesgestört- bis ich bemerkte, dass auch Angela dies tat und weil  ich wusste, dass sie niemand außer Behnam und seine Freunde in Aachen kannte, begann ich dann auch damit zurück zu grüßen. Nichtsdestoweniger hatte ich noch nicht den Mut dazu, selbst mit dem Guten-Tag-Sagen zu beginnen.
Ich befreundete mich sehr schnell mit Angela und sie auch mit mir. Einzelheiten über die Familie von Angela und ihr berufliches Leben in Neuss wollte ich noch nicht oder vielleicht gar nicht wissen; wichtig waren für mich ihre starke Persönlichkeit, ihrer Scharfblick, ihre Menschenfreundlichkeit und ihre Liebenswürdigkeit. Alles Übrige hatte für mich in diesem Moment keinen Wert. Sie erzählte mir sehr viel über die deutsche Kultur, über Politik und vor allem über die regierende politische Partei. Wir sprachen unendlich kange miteinander. Sie erzählte mir von Ihrer Liebe für Behnam und ich von meiner großen Liebe für Abdou.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Rachida Zoubid).
Der Beitrag wurde von Rachida Zoubid auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Rachida Zoubid als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Poetische Träume ....Gedichte und Zeichnungen von Edeltrud Wisser



Unser Leben ist geprägt von Gefühlen, Träumen, Eindrücken und Begegnungen, welche die Autorin in Worte gefasst hat.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Autobiografisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Rachida Zoubid

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Meine Halbgeschwister mütterlicherseits von Rachida Zoubid (Autobiografisches)
Autobiographie *b* ER-LEBEN * I I * KLEINKIND * Kap.1-15 von K.N.Klaus Hiebaum (Autobiografisches)
Bayr. Konjunktiv & Grammatik von Paul Rudolf Uhl (Skurriles)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen