Christine Wolny

BERTA UND IHR SCHNECKENHAUS

 
Eigentlich rechnete niemand mehr damit, dass Berta jemals ihr Schneckenhaus wieder verlassen würde.
 
Gertraud, ihre Freundin, hatte schon nicht mehr daran geglaubt.
Es war nicht das erste Mal, dass sich Berta für Monate in ein Schneckenhaus zurück zog. Aber so lange wie dieses Mal dauerte es nie.
 
Sie, die eigentlich gerne unter Menschen geht, Spaß am Erzählen hat, aber auch gern Neuigkeiten erfährt, verschwindet plötzlich von der Bildfläche.
Ohne ersichtlichen Grund für die anderen bleibt sie den Treffen fern.

Im Mai war es immer das Waldschwimmbad, wo sie sich täglich zu einer Schwimmstunde und anschließendem Plausch bei einem Kaffee trafen. Auch da erschien sie nicht einmal. 
Der Rückzug ins Schneckenhaus fing schon vor Weihnachten an, und war besonders hartnäckig.
 
Ab und zu wurde ihr Name erwähnt, und Gertraud gefragt, ob sie etwas Näheres wusste.
Doch auch sie konnte nichts Besonderes berichten, außer, dass sie mehrmals angerufen hätte und Berta nicht ans Telefon ging.
 
Einmal fuhr  Gertraud mit dem Rade, das mit jungen Pflanzen beladen war, zu Berta. Sie wollte ihr eine Freude machen, denn Berta liebte Blumen.
Sie klingelte mehrmals, keine Berta öffnete. Nur ihr Hund hatte die Klingel gehört und kam schon beim ersten Klingelton an das Gartentor.
„Wo ist denn Berta?“ fragte Gertraud den Hund.
Der kannte sie, denn oft gingen sie zu dritt durch die Felder. Gertraud hatte ihn meist an der Leine, denn Berta konnte nicht so schnell laufen. Sie graulte seinen Kopf, und hatte das Gefühl, dass der Hund sich freute.
Noch einmal klingelte Gertraud und klopfte auch tüchtig an das Fenster. Kein Lebenszeichen.
Sie konnte nicht die Blumen über das hohe Tor heben, also schwang sie sich samt Pflanzen wieder auf das Fahrrad und war enttäuscht, dass Berta nicht aufmachte.
„Selber schuld dachte sie, ich hätte ihr die blühenden Tagetes und anderen Stecklinge gerne geschenkt.“
Innerlich grollte sie, dass Berta kein Lebenszeichen gab.
„Die rufe ich so schnell nicht wieder an, und jetzt reicht es mir, dass sie mich schon dreimal am Tor stehen ließ.“

Der Sommer verging und somit auch der Groll.

Gertraud rief irgendwann wieder an, erkundigte sich nach dem Befinden, dieses Mal  hob Berta ab und erzählte ihr dies und das. Berta hatte ein gutes Gedächtnis, wollte auch einiges wissen, und Gertraud sagte ihr, wo sie sich wöchentlich treffen, sollte sie mal Sehnsucht nach uns haben.
Wieder vergingen Wochen, nichts geschah.

An einem heißen Sommertag machten Gertraud und deren Bekannte auf einer Radtour einen Abstecher, um nach Berta zu sehen. Wieder meldete sie sich nicht. Nur der Hund reagierte wieder.
Nach lautem Rufen ihres Namens öffnete die Nachbarin das Fenster und bot sich an, das Tor mit einem Schlüssel zu öffnen. Es war wie bei Dornröschen eingerostet. Zu dritt versuchten sie, es zu öffnen, und mit viel Kraft gelang es auch. Durch die große Hitze hatte sich das Metall verzogen.
 
Dabei riefen sie ständig ihren Namen, damit sie der Überfall nicht so sehr überrascht.
Sie kam aus dem hintersten Winkel ihres Gartens hervor, deshalb hatte sie die Klingel nicht gehört.
Die Pflanzen in den Kübeln waren vollkommen verwelkt und noch vom Vorjahr.  Nur im Garten blühten einige unverwüstliche Rosen.
Eben Dornröschen.
 

Nur kurze Zeit blieben sie im Garten und redeten mit Berta. Sie waren froh, sie zu sehen.
 
Der Herbst kam, und somit auch Berta. Ein Jahr war vergangen. Im November rief sie plötzlich Gertraud an, erzählte ihr einiges aus ihrem Alltag und wollte wissen,
wann und wo der nächste Treff sei.
Da stand sie nun.
 
Sie hatte ihr Schneckenhaus verlassen.
 
Das tat ihr scheinbar so gut, dass sie auch das nächste Mal wieder anwesend war. 
 
© C.W. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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