Tina klopfte das Herz bis zum Halse, als sie ihre Wohnung betrat. Was würde ihr Mann und die Kinder sagen? Gerade kam sie vom Friseur, was im Grunde nicht so besonders aufregend war. Aber ihre Lieblingsfriseuse hatte sie am Ende ihrer Arbeit gefragt, ob Tina denn nicht ein paar rote Strähnen und Streifen in ihrem blondgefärbten Haar haben wolle.
„Sieh mal“, hatte sie gesagt. „Wir kennen uns nun schon seit Jahren, und ich finde, dass du dich mal ein wenig aufpeppen solltest. Du spielst das Hausmütterchen in deiner Familie, opferst dich auf, bist für alle da, und was kriegst du dafür? Rüffel, wenn mal etwas nicht wie erhofft verlaufen ist.“
„Ach, und eine rote Strähne soll das ändern?“, hatte Tina zweifelnd gefragt.
„Nein, aber du findest Beachtung und vielleicht sogar Anerkennung. Man wird dich mit neuen Augen betrachten. Wann hast du das letzte Mal den Eindruck gehabt, dass dein Mann Freude empfindet, wenn er dich anschaut?“
Tina hatte einen Verdacht. „Du meinst, wenn er abends heimkommt?“
„Nein, wenn ihr den Tag beendet. Wenn ihr ins Bett geht.“
Stimmt, dachte Tina. Freude empfand Thomas sicherlich weniger, wenn er sie ansah, eher so wie, ach ja, heute ist ja ‚dies und das’ und nicht ‚soundso’, oder in der Art. Es war mehr der Blick, mit dem der Bauer seine Milchkuh taxiert um zu sehen, ob sie wohl noch lange genügend Milch geben wird oder nicht.
Das Argument hatte Tina überzeugt, und sie hatte sich die Strähnchen machen lassen.
Nun stand sie in der Küche und bereitete das Essen vor. Bald kamen die Kinder von der Schule, zuerst die Jaqueline und dann der Marcel, der kurz vorm Abitur stand.
„Mama“, rief Jackie und warf ihre Schulmappe in die Ecke. „Was gibt’s denn heute zu essen?“ Jackie hatte immer Hunger wenn sie kam, weil sie keine Pausenbrote mitnahm. Sie glaubte, das sei 'dislike'.
„Das, was ich gekocht habe“, antwortete Tina schnippisch. Das war wieder typisch. Jackie wollte nicht etwa wissen, was Tina sich für die Familie hatte einfallen lassen, sondern was ‚es gab’, woher es auch immer gekommen sein mochte.
„Und was hast du gek...“
Jackie unterbrach sich selber, als sie die roten Strähnchen sah. „Eh, das finde ich aber uncool. Wenn ich mal was Besonderes will, Klamotten oder so, oder wenn ich mich für deinen Geschmack zu sehr schminke, haust du auf den Putz dass die Heide wackelt.“
Das war Reaktion Nummer eins, registrierte Tina. Nicht besonders positiv.
„Du darfst dir jetzt auch rote Strähnchen machen lassen“, schlug Tina vor. Jackie verkroch sich heulend in ihrem Zimmer.
Marcel bemerkte die Strähnchen sofort, weil Tina vorm Küchentisch stand, an dem er saß, und ihm Salzkartoffeln, Spiegeleier und Spinat auf den Teller tat.
„Mama, du hast doch einen Mann. Willst du etwa noch einen?“
Das war hart. „Nee, ich wollte einfach nur mal was für mein Aussehen tun“, rief sie. „Findest du die Strähnchen denn nicht schön? Die Mädels in deiner Klasse...“
Marcel unterbrach. „Die Mädels in meiner Klasse sind keine Frauen, sondern unfertige Möchtegern-Zicken. Die können meinetwegen rumlaufen wie sie wollen. Nein, du bist meine Mutter, und ich will dich möglichst natürlich.“
Dann kann ich die Farbe ja rauswachsen lassen und grau tragen, dachte Tina. Dann passe ich auch besser zu Thomas.
Gegen Siebzehn Uhr kam Thomas heim. Tina hatte schon eine halbe Stunde vorher keinen vernünftigen Satz mehr formulieren können. Würde er sie kritisieren wie die Kinder, oder würde er ihr Motiv anerkennen und akzeptieren?
Wie üblich gab es das Begrüßungs-Küsschen, aber Thomas schien sie dabei gar nicht anzusehen. Er ließ sich in seinen Fernsehsessel fallen und schlug die Zeitung auf. Die Mikrowelle brummte und machte das Essen warm, und in zehn Minuten würde Tina den Spinat auf den Tisch stellen und Thomas die Zeitung weg legen. Sie würde ihn fragen, wie denn sein Tag gewesen sei und er würde so knapp wie möglich Belangloses berichten.
Thomas hatte Tina gegenüber gesessen und gegessen, und Tina hatte ein wenig mit gegessen, damit sie sich nicht so überflüssig fühlte. Thomas ließ kein Wort über die Strähnchen fallen.
„Weißt du, dass neben meinem Frisör ein Reisebüro eröffnet hat?“, fragte Tina, um Thomas auf das Stichwort Frisör zu bringen.
„Das hast du mir letzte Woche schon erzählt.“
„Meine Frisöse meint auch, dass sie da mal eine Reise buchen will.“
„Soll sie doch. Ich freue mich jetzt schon auf die kleine Pension im Sauerland.“
„Meine Frisöse war auch schon im Sauerland. Da hat sie an einem Seminar teilgenommen; an einer Fortbildung in ihrem Beruf.“
„Aber eine ruhige Hand hat sie immer noch nicht“, fand Thomas.
Tina war klar, dass Thomas längst verstanden und nur keine Lust hatte, auf ihre Strategie herein zu fallen.
„Eigentlich wollte ich Spaghetti mit Tomatensoße machen“, fing Tina an.
Thomas lachte. „Dachte ich mir, und da hast du versucht, die Tomatensoße nicht einfach nur umzurühren, sondern wie einen Pfannkuchen durch Hochschleudern zu wenden. Und da ist dir die Hälfte...“
„...Quatsch“, rief Tina. Das ging ihr nun zu weit. „Ich wollte mal was Besonderes für dich tun.“
„Ach, und da hast du lieber Spinat mit Spiegeleiern gemacht“, rief er und lachte. Er ging um den Tisch herum und nahm sie liebevoll in den Arm. „Stehen dir gut, die Strähnen. Unterwäsche in korallenrot würde gut dazu passen.“
Und die wurde am nächsten Samstag besorgt.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Jürgen Berndt-Lüders).
Der Beitrag wurde von Jürgen Berndt-Lüders auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.11.2012.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Jürgen Berndt-Lüders als Lieblingsautor markieren
The power of butterflies - Geschichten und Gedichte zum Thema Liebe
von Jürgen Berndt-Lüders
Die Kraft der Liebe führt und verführt uns ein Leben lang. Der Autor schwelgt in Empathie.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: