Michael Reißig

Gebrochener Lebenswille

An einem Montagmorgen, zu völlig ungewohnter Zeit, klingelte gegen fünf Uhr plötzlich das Telefon.
Aufgeschreckt schlug ich die Bettdecke nach vorn, stürzte aus dem Bett und zischte wie von Geisterhand gesteuert zum Telefon, während meine treue Lisa wie ein Igel im Winterschlaf immer noch tief in sich versunken war.
Dass es keine gute Nachricht sein konnte, war mir schon von vornherein klar, zumal das Telefon mit diesen unaufhörlich langen Tönen gehörig nervte.
Bevor ich den Hörer aus der Gabel nahm, ließ ich die Tür zum Schlafzimmer um einen breiten Spalt offen, ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, dass Lisa womöglich aufwachen könnte.
Zu Wort meldete sich eine Frauenstimme, die mir schon seit langem sehr vertraut war. Es war Frau Peschke, die herzensgute Frau von nebenan.
Abrupt sagte sie einen Satz, der mich sofort zusammenfahren ließ. Einen Satz, den ich zwar erwarten konnte, den ich aber absolut nicht hören wollte. Und dies mit lauter hektischer Stimme...
„Michael! Dein Vater ist soeben eingeschlafen!“
Ich war total perplex und hatte nur halb im Trance mitbekommen als sie mir sagte, dass er kurz zuvor sehr aufgeregt war und sogar noch versucht hatte, mit dem letzten Körnchen Kraft sich aus seinem vertrauten Bett zu würgen.
Ich versuchte Lisa mit einem sanften Streicheln an ihrer linken Wangenhälfte zu wecken, um sie nicht abrupt aus dem Schlafe zu schrecken. Denn von all den panischen Worten, die wie wild aus meinem starken Organ sich bahnten, hatte sie nicht mal ein Wort verstanden.
Nur ganz allmählich erwachte Lisa aus ihrem Murmeltierschlaf. So langsam, als müsste es so sein!
„Lisa, Vater lebt nicht mehr!“, sagte ich sehr gerührt. Ich schluckte gleich mehrere Male und versuchte mit diesem bewährten Mittel den Fluss von Tränen zu unterdrücken, was mir nur mit äußerster Mühe gelang.
Auch Lisa zuckten anfänglich ihre Knochen und Glieder, dennoch war die Erleichterung aus ihrem Gesicht abzulesen.
„Endlich ist er eingeschlafen, endlich muss er sich nicht mehr quälen!“, entschlüpfte es ihr ehrlichen Herzens. Wie Recht sie doch hatte!
Monatelang musste sich Roland quälen, wurde von einem Krankenhaus in das andere verfrachtet. Nur kurzzeitig machte er zwischendurch einen etwas stabileren Eindruck. Ansonsten hustete er nur noch die mickrigen Speisereste aus seinem Rachen. Nur noch ein paar lächerliche Gramm machten sich auf den Weg, durch die Speiseröhre, in seinen ständig rebellierenden Magen und dies meistens begleitet von ungeheuerlich anmutenden Hustenanfällen, die mir förmlich Schauer der Angst aus meinem Herzen trieben.
In den letzten Tagen seines Aufenthaltes in der Abteilung Pulmologie des Chemnitzer Krankenhauses besuchte ich ihn noch nochmals, ahnte aber noch nicht, dass es mein letzter Besuch in einem Krankenhaus werden würde. Obwohl er nach meinem Geschmack einen noch desolateren Eindruck machte, sagte er zu mir mit einem merkwürdig gequältem Lächeln:
„Michael, am Freitag werde ich entlassen und fahre heim!“
Mir fehlten die Worte. Ich erstarrte wie eine Salzsäule, verharrte mindestens eine Minute lang an ein und demselben Fleck. Als sich die Tür um einen breiten Spalt öffnete, betrat ein gutaussehender junger Mann mit sportlicher Figur den Raum.
Er stellte sich als ein Herr Heilmann vor und das er als Logopäde regelmäßig auch die Krankenhäuser in der Region besucht, um deren Patienten mit wichtigen Informationen zu füttern.
Schon von Beginn an redete der Herr mit strengen Gesichtszügen Klartext und versuchte gar nicht erst, um den heißen Brei herumzureden. Er stellte klar, dass sämtliche erschlaffte Muskeln, die sowohl auf den langen Krankenhausaufenthalt als auch auf das überquellende Wasser in seiner Lunge zurückzuführen wären, trainiert werden müssten und er sich nach seiner Entlassung unbedingt in die Obhut eines Physiotherapeuten, eines Logopäden und sogar eines HNO-Arztes – wegen seiner andauernd krächzenden Stimme – begeben sollte...
Doch es schien so, als wollte Roland sich diese Plackerei nicht mehr antun, weshalb er vermutlich versuchte, sich mit irgendwelchen Ausflüchten über Wasser zu halten.
Als ich zu dem Logopäden sagte, dass er bereits übermorgen entlassen werden würde, wölbten sich seine glasigen Augen noch strenger als zuvor aus seinen Höhlen. Dennoch wiederholte er in etwas kürzerer Ausführung nur das, was er ihm unmittelbar zuvor schon unter's Kinn geschoben hatte...
Zum Schluss legte der Logopäde Roland noch ans Herz:
„Ich würde ihnen dringendst davor abraten! Ihnen fehlen doch jegliche Kräfte, um den Alltag zu Hause selbständig meistern zu können!“
„Der Chefarzt hat es doch so gewollt!“
Vater hatte zwar die richtigen Worte gefunden – dennoch ließ die Antwort des Therapeuten nicht lange auf sich warten.
„An ihrer Stelle würde ich mit ihrem behandelnden Arzt unbedingt nochmals darüber reden!“
Vater nickte nur zaghaft...
Ich versuchte mir den Mund fusselig zu reden. Doch all mein Tacheles bewirkte nur das Gegenteil. Sein gesunder Lebensmut, der ihn sein ganzes Leben lang vor den Wirren einer grausigen Resignation bewahrt hatte, der auf Grund dreier überstandener Herzinfarkte gleich mehrere Bewährungsproben zu bestehen hatte, schien ihn ein für allemal im Stich gelassen zu haben. Oder etwa doch nicht? Wollte er sich wiedermal völlig allein aus dem Sumpf ziehen, was ihm schon des Öfteren in seinem entbehrungsreichen Leben gelungen war.

Nachdem ich zu Vater „Mach's gut!“ und „Lebe wohl!“ gesagt, und ihn zum Abschied nochmal herzlichst in die Arme geschlossen hatte, fragte ich bei einer von den gutaussehenden Schwestern sicherheitshalber nochmal nach. Doch an den knallharten Fakten, die ich in gnadenloser Offenheit serviert bekam, konnte ich leider nicht rütteln. Für mich der absolute, der blanke Horror!

Am Tage seiner Entlassung stand mir eine Krankenschwester des örtlichen Pflegedienstes Auge in Auge gegenüber. Sie gewährte mir freundlicherweise einen Einblick in die Entlassungspapiere des Krankenhauses.
Als die Schwester mit dem Finger auf die Schlusssätze dieses sehr ausführlichen Arztbriefes wies, trieb es mir förmlich den Angstschweiß auf die Stirn, aber auch Zorn und Wut fluteten unablässig durch mein Gemüt.
„Hier sehen Sie es! Vater hat sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen!“
Die sehr freundliche Schwester erklärte mir sehr sachlich, mit sehr einfühlsam klingender Stimme, dass er normalerweise ein Spezialbett, so wie es in Krankenhäusern vorzufinden ist, benötigte.
Die Schwester schien nicht nur ratlos gewesen zu sein, sie war es auch. Wortlos fing sie an zu weinen. Auch in ihrer Seele hatte Vaters Eigenwilligkeit deutlich sichtbare Spuren hinterlassen...

Am darauffolgenden Wochenende sah dreimal täglich eine Schwester nach dem rechten...
„Ich glaube, am Wochenende passiert es!“, wisperte ich todtraurig zu meinem lieben Schätzchen, das mich in diesen schweren Stunden der Ungewissheit niemals im Stich gelassen hatte, die sich fest an mich schmiegte und mir stets warmherzige, aber auch zahllose tröstende Worte spendete...

Doch nach jenem Wochenende endlosen Wartens, begleitet von der ständigen Angst, das Telefon könnte in jeder erdenklichen Sekunde als Erbringer einer Hiobsbotschaft sich zu Wort melden, ahnte ich irgendwie schon, dass in der Nacht vom Sonntag zum Montag Vaters letzte Stunden schlagen würden. Meinen verdammt unruhigen Schlaf deute ich als untrügliches Zeichen und nach dieser grausigen Nacht, glaubte ich sogar fest daran, die Stimme Gottes gehört zu haben.

Mutter, die gerade mal ein Jahr jünger als ihr Gatte war, hatte es nicht vermocht, mir diese bestürzende Nachricht telefonisch zu überbringen, was ihrer permanenten Schwerhörigkeit, aber auch der unumstößlichen Tatsache geschuldet war, dass sie am Rande eines Nervenzusammenbruch gewandelt war. Sie suchte um Rat und fand diesen in ihrer Nachbarin, die Vaters Befindlichkeiten stets im Auge behielt, und dieses hatte, als er vierzehn Jahre zuvor mit seiner Gattin in dieses Haus gezogen war, bereits seinen Anfang genommen, dank seiner fürsorglichen offenen Art, in der er sich gebärdete, aber auch dank seines menschliche Wärme spendenden Herzens, deren Funken auch auf Frau Peschkes Mann.schnell übergesprungen waren.
In den letzten Sekunden seines Lebens hatte er vergebens versucht, sich mit allerletzter Kraft nochmals aus dem gemeinsamen Ehebett zu winden, während Mutter noch fest schlief. Doch dieser, möglicherweise sogar unbewusste, Ehrgeiz, der sein bisheriges Leben fast ausnahmslos geprägt hatte, sollte sich nun nicht mehr auszahlen. Auf der Bettkante sitzend, sank sein Kopf kraftlos nach unten. In diesem schicksalhaften Augenblick hörte sein Herz nach neunundachtzig Jahren und zwei Monaten für immer auf zu schlagen, jenes arg geschundene Herz, das dreier Infarkte trotzen musste, wobei der letzte bereits bemerkenswerte sechzehn Jahre hinter ihm lag.
Als einen herzensguten Menschen, der auch in Bezug auf meine schwierigen Lebenslagen stets versucht hatte, in mein ebenso leicht verwundbares Herz hineinzuhören, werde ich meinen Vater bis an mein Lebensende in guter Erinnerung behalten.

Ganz anders verhielt es sich dagegen bei meiner Mutter. Vater vermochte es als gütiger Mensch nur verdammt selten das gewichtige Wort Nein in den Mund zu nehmen. Mutter nutzte seine Schwäche gnadenlos aus. Gedankenverloren warf sie mit Worten um sich, die überwiegend rotzfreche Teenager in den Mund legen würden. Beschimpfungen wie elender Trottel oder dussliges Kamel nahmen sich vergleichsweise sogar noch harmlos an. Über ihre schlimmsten Auswüchse hülle ich am liebsten den Mantel des Schweigens, denn diese sind in keinster Weise für die Öffentlichkeit geeignet, abgesehen von jener Tatsache, dass Mutter bei gewissen Unstimmigkeiten sogar sich genötigt sah, ihren harter Ellenbogen als „Waffe“ gegen diesen sensiblen Menschen einzusetzen. Halt-und rücksichtslos wie sie nun mal war, fegte sie ihren Mann nach allen Regeln der Kunst in den schmutzigen Schlund der Hölle und es bedurfte immenser Kräfte, um sich immer und immer wieder aus diesem ungeheuerlichen Schlund des Grauens herauszuwinden.
Zwar war ihm das schon mehrfach gelungen, doch entschwanden ihm seine längst nicht mehr überschüssigen Kräfte von einem Jahr auf das andere zusehends.
Mancher würde sich sicherlich fragen: „Warum trennt er sich nicht von dieser Tyrannin, der er nur in den allerseltendsten Fällen etwas recht machen konnte? Diese zu Recht gestellte Frage war mir schon hunderte Male über die Lippen gesprungen. Heute kann ich dazu nur sagen, dass ihm die Kräfte fehlten, die nötig wären, um den für ihn so lebensnotwendigen Schritt angehen zu können. Auf dem Papier waren die beiden siebenunddreißig Jahre lang ein Paar – wohlgemerkt nur auf dem Papier!
Gefühlsmäßig war Vater nur neunzehn Jahre „verheiratet”, mit einem handzahmen Nympfensittich namens Bubi, den er selbst gezähmt hatte, der ihm jene vermisste menschliche Wärme schenkte, nach der er sich schon eine Ewigkeit lang gesehnt hatte. Doch als kurz vor der Jahrtausendwende Bubis plötzlicher Tod einen langen Schatten in die Tiefen seiner Seele geworfen hatte, war vorauszusehen, dass es mit ihm fortan nur noch steil bergab gehen würde, zumal er nur noch seine giftige, wortbrüchige Gemahlin an seiner Seite hatte und nicht mehr Bubi, der mitunter stundenlang auf seinen Schultern tippelte, und sich dabei von Vater viel zu gern verwöhnen ließ, zumal er ihm minutenlang sein süßes Köpfchen, auf dem dieser elegante Federschweif in ganzem Stolz thronte, liebevoll kraulte...

Die Abmagerung in seinen letzten Tagen, die den viel zu geringen Mahlzeiten geschuldet war, machten aus Roland einen hilflosen Menschen, ein blankes Häufchen Elend, dessen Skelett in den letzten Tagen und Wochen seines Lebens nur noch aus Haut und Knochen bestand.

Wahrscheinlich war er beseelt von dem innigsten Wunsch, sein gewohntes Heim noch einmal in Augenschein nehmen zu dürfen. Noch vor Wochenfrist war ich frustriert und wütend gewesen.
Erst nach seinem Tode verstehe ich seinen Willen, einen unbändigen Willen, den nur Gott ihm in sein schwaches Herz - das kurz bevor dieses aufgehört hatte zu schlagen, unvorstellbar stark geworden ist – gelegt haben könnte...



In knapp zwei Wochen werden Vaters sterbliche Überreste unter die Erde gebettet.
Gut möglich, dass auch aus meinen Augen einige Tränen rollen werden. Dieses sind Tränen des Schmerzes, Tränen des Abschieds, Tränen der Trauer aber auch Tränen der Besinnung, alles Tränen, für die sich keiner zu schämen braucht, für die sich auch keiner schämen sollte. Wenn Männer weinen, landen diese nicht selten in jenen Schubladen, in denen nur die schwächsten Glieder innerhalb unserer Gesellschaft geworfen werden. Dem ist aber nicht so.
In solch einer schweren Stunde des Abschiednehmens dürfen auch Männer mal ein paar Tränen vergießen, erst recht, wenn man einen Menschen für immer und ewig in sein Herz geschlossen hat.
Möge mein lieber Vater nun – endlich befreit von all seinen Sorgen - im Himmel ruhen, um dort, in den unvorstellbaren Tiefen der Unendlichkeit, sein ewiges Leben zu genießen. Eine Ruhe in Frieden, die ich diesem gütigen und doch so rastlosen Menschen, der, besonders im letzten Jahrzehnt seines Lebens, endloses Leid über sich ergehen lassen musste, von ganzem Herzen gönne.


Diese traurige Geschichte, die ich meinem lieben Vater gewidmet habe, hat sich tatsächlich zugetragen. Er ist in den frühen Morgenstunden des zwölften November 2012 im gesegneten Alter von neunundachtzig Jahren an den Folgen einer akuten Herzschwäche und einer daraus resultierenden Lungenentzündung, verstorben.
Michael Reißig, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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