Diethelm Reiner Kaminski
Der Virus
Alle reden von der Schweinegrippe, während ein viel gefährlicherer Virus in geradezu verantwortungsloser Weise ignoriert wird. Bei solcher Ignoranz darf man sich nicht wundern, dass er sich über den gesamten Globus ausbreiten konnte. In den entlegensten Urwalddörfern hat er Nahrung gefunden. Das Fatale an dem Virus ist: Er greift das Herz an und verwirrt den Geist. Vorübergehend führt er zu Bewussseinsstörungen und löst unkontrollierte Handlungen aus. In besonders schweren Fällen hält dieser Zustand Monate an. Hat der Virus sich erst einmal im menschlichen Organismus festgesetzt, wird er chronisch und gilt in der Regel als unheilbar. Immenser Schaden entsteht der Volkswirtschaft, weil die Befallenen zu vernünftigen Handlungen nicht fähig sind, sondern in einen Rauschzustand verfallen, der sie nahezu unzurechnungsfähig macht. Kein modernes Gemeinwesen kann es zulassen, dass seine Bürger für Wochen und Monate zu willenlosen Opfern irrationaler Handlungen werden und dann zu allem fähig sind – bis hin zu Selbstmord, Brandstiftung und Amokläufen.
Unsere Gemeinde hat deshalb Gegenmaßnahmen beschlossen und Verordnungen erlassen, um der gefährlichen Epidemie Einhalt zu gebieten. Alles, was die Ausbreitung des Virus fördert, ist untersagt. Auf den Straßen, in den Kaufhäusern und Läden ebenso wie in den Privatwohnungen.
Wir haben lange Listen von verbotenen Waren, Gegenständen und Handlungen erstellt und Ordnungsstrafen bei Zuwiderhandlungen angedroht. Wir haben zwei Dutzend Viruswächter angestellt, deren Aufgabe es ist, rund um die Uhr zu überprüfen, ob die Bestimmungen eingehalten werden.
Sie werden sagen: Wie im Mittelalter, aber wir hielten es für zwingend erforderlich, die Zufahrtsstraßen in unsere Stadt mit Kontrollposten zu besetzen und die Einreisenden auf Herz und Nieren zu durchleuchten. Verbotene Gegenstände werden in einer zentralen Vernichtungsstelle verbrannt.
Unsere rigorosen Maßnahmen zeigen erste Wirkung. Die Menschen arbeiten wieder konzentrierter, haben den Blick frei für Wesentliches, verschwenden keine Zeit für unsinnige Sentimentalitäten.
Doch wir geben uns keinen Illusionen hin. Unsere bisherigen Maßnahmen sind rein äußerlich. Der Virus natalis sitzt in den Köpfen oder für die, die an die Existenz einer solchen glauben, in der Seele. Es besteht also weiterhin die Gefahr, dass er auch bei uns wieder ausbricht und uns in unseren Bemühungen zurückwirft. Wirklich aufatmen können wir erst, wenn keine Jinglebells mehr in den Köpfen klingeln und in keiner Seele mehr unkontrolliert ein Ros entspringt. Unsere Neurologen und Psychologen arbeiten fieberhaft an der Lösung des Problems.
„Zieht endlich die Vorhänge zu“, brülle ich meine Frau und meine Kinder an. „Oder soll die vom Glauben abgefallene Bande mitkriegen, dass ausgerechnet ihr Bürgermeister gegen die Vorschriften verstößt? Sei ihr soweit? Dann zündet die Kerzen am Baum an und lasst uns singen. Vom Himmel hoch, aber nicht zu laut, damit uns draußen niemand hört. Ich hoffe, ihr könnt den Text diesmal besser als letztes Jahr, sonst fällt die Bescherung aus, das sag ich euch gleich. Ihr solltet glücklich sein, dass ihr als Einzige am Ort das Privileg genießt, das Fest wie eh und je feiern zu dürfen. Aber kein Wort darüber zu anderen, sonst bin ich geliefert.“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2012.
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