Christa Astl

Heimgeschichten Teil 3 - Die Andere

 



 
Die andere Neue
 
 
Zur gleichen Zeit zieht eine andere neue Bewohnerin ein. Frau Fanny Weidmann wird direkt vom Sanatorium ins Heim gebracht. Im Rettungsauto des Roten Kreuzes.

Vor vielen Monaten hatte sie sich nachts bei einem Sturz im Bad einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Stunden lag sie auf den kalten Fliesen, bis jemand ihre Hilferufe und ihr Klopfen an Wand und Boden hörte. Die Nachbarin wurde verständigt, da sie einen Wohnungsschlüssel besaß. Frau Weidmann kam ins Krankenhaus und nach einiger Zeit in ein Sanatorium, um wieder „gehen zu lernen“. Aber immer noch ist sie an den Rollstuhl gebunden, kann nur mühsam unter Schmerzen ein paar Schritte gehen und auch das nur, wenn wer in der Nähe ist.

Doch zu Hause ist niemand in ihrer Nähe. Sie ist alleinstehend, hat eine große Wohnung im dritten Stockwerk, - nie wäre sie da mehr hinaufgekommen.

Die Nachricht, dass sie nach fünf Wochen Sanatoriumsaufenthalt nicht mehr bleiben könne, sondern einen Heimplatz benötige, kommt für sie einem Todesurteil gleich. Doch sie wagt nicht, der Sanatoriumsleitung zu widersprechen. So willigt sie kompromisslos ein, ins Heim zu gehen. Was bleibt ihr anderes übrig?
 
Sie hat Angst, riesengroße Angst: vor der Umstellung, der neuen Umgebung, dem Ausgeliefertsein an fremde Menschen, die an ihr ihre Pflicht tun müssen.

Vor allem hat sie Angst, ihre Wohnung zu verlieren. In dieser Wohnung wurde sie vor 72 Jahren geboren, hier hatte sie fast ihr ganzes Leben verbracht, - und all das sollte sie am Ende nie wieder sehen? – „Nein, sie will nicht in ein Heim!“ Kein anderer Gedanke hat Platz in ihrem Kopfe.

Gleich nach dem Frühstück werden ihre Sachen gepackt. Dann wird sie im Rollstuhl in die Eingangshalle gefahren, die Tasche auf dem Schoß, und wartet auf das Rettungsauto, das schon nach wenigen Minuten vorfährt. Jemand wird mit dem Stuhl hereingeschoben, Formalitäten werden ausgetauscht, Frau Weidmanns Name wird aufgerufen und die zwei Sanitäter schieben sie ins wartende Auto. - -  
 
Auch an Frau Weidmanns Zimmertür klebt ein bunter Willkommensgruß, sie sieht ihn gar nicht, als die beiden Männer sie in das Zimmer, das für sie hergerichtet ist, fahren. Sie reicht Schwester Susanne, die sie freundlich begrüßt, teilnahmslos die Hand, schaut kaum auf, als diese sie auf die Blumen auf ihrem Tisch hinweist. Die Männer verabschieden sich mit guten Wünschen, dann ist sie allein mit einer neuen, noch ganz jungen Schwester. „Ich bin Maja, die Praktikantin“, stellt diese sich vor, „ich werde Ihnen jetzt helfen, Ihre Sachen einzuräumen.“ – „Ist mir gleich, mir ist alles gleich, ich bin müde.“ - Hinter der Müdigkeit versucht sich Frau Weidmann zu verstecken, sie will allein sein, will nur ihre Ruhe.

Mit geübten Handgriffen packt Schwester Maja die wenigen Sachen in den Schrank und stellt die Toilettensachen ins Bad. Sie versucht ein Gespräch anzufangen, gibt es aber bald auf, da keine Antwort kommt. Endlich hilft sie Frau Weidmann ins Bett und geht aus dem Zimmer.

Frau Weidmann schließt die Augen, zieht die Decke über den Kopf, will nichts sehen oder hören, kann sich endlich ihrem Schmerz und Kummer hingeben. „So, jetzt bist du auf er letzten Station, wär doch besser gewesen, gleich zu sterben …  Du machst den Menschen nur Arbeit, musst dir alles gefallen lassen, was die dir sagen, wie sie dich angreifen, anschauen, herumdrehen wie eine Ware vor dem Verkauf….“ Mit solchen Gedanken schläft sie ein.
 
Zu Mittag will sie nicht in den Speisesaal, die Schwester bringt ihr das Essen ins Zimmer, stellt es auf den Tisch. Frau Weidmann muss aufstehen, wird die paar Schritte zu einem Stuhl geführt. Suppe und Hauptspeise sind in Wärmetellern, noch zugedeckt. Der Geruch dringt heraus, und Frau Widmann merkt, dass sie doch ein wenig Hunger hat. Ein paar Löffel Suppe, ein paar Bissen Fleisch, etwas Gemüse und Püree, - es schmeckt ihr nicht so recht. Die Traurigkeit schnürt ihr die Kehle zu, dass sie die Bissen kaum schlucken kann. Das Kuchenstück als Nachtisch lässt sie stehen.

Da sie warten muss, bis die Schwester wieder kommt, blickt sie sich ein bisschen im Zimmer um. Ein Fernseher an der Wand, die Fernbedienung liegt auf dem Tisch. Sie versucht, einzuschalten, findet aber ihr Lieblingsprogramm nicht, schaltet mutlos wieder aus. Durchs Fenster fällt ihr Blick auf eine in der Sonne golden leuchtende Buche, den Horizont umrahmen schneebedeckte Berge, die sich strahlend weiß vom tiefblauen Herbsthimmel abheben. „Wenn ich nur da raus könnte“, entfährt ihr ein wehmütiger Seufzer. Doch der Ausblick vom Fenster gefällt ihr, ihre Gedanken fangen sich im Geäst der Buche, glänzen ein wenig mit auf.

Am Nachmittag, nach der Mittagsruhe kommt Schwester Susanne, die sie anfangs begrüßt hat, mit Kaffee aufs Zimmer und setzt sich zu ihr. Vorsichtig, teilnahmsvoll beginnt sie zu fragen, während sie die Anmeldebögen ausfüllt. Ihre angenehme Stimme, die kurzen, klaren Sätze gefallen Frau Weidmann, und sie gibt ebenso kurze, klare, freundliche Antworten, - aber bald ist ein nettes Gespräch im Gange, mitunter wird sogar gelacht. Mit dem Satz: „Und morgen zeige ich Ihnen dann das ganze Haus“ verabschiedet sich Schwester Susanne, denn schon ist es Zeit zum Abendessen.

Der Nachmittag ist wirklich schnell vergangen. – „Vielleicht ist es doch nicht gar so schlimm hier?“ Diese Frage begleitet Frau Weidmann in die Nacht.
 
 
ChA 22.11.12


Die weiteren Geschichten sind in meinem Buch "HEIMGESCHICHTEN" zu lesen,
herausgegeben im Eigenverlag, und bei der Autorin per Mail zu bestellen.
Das Buch hat 112 Seiten und kostet 12 Euro.
Christa Astl, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christa Astl).
Der Beitrag wurde von Christa Astl auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Christa Astl

  Christa Astl als Lieblingsautorin markieren

Buch von Christa Astl:

cover

Heimgeschichten - Leben im Altenheim von Christa Astl



32 kurze Geschichten, denen praktische Erfahrungen zugrunde liegen, begleiten eine Frau durch ihr erstes Jahr in einem Seniorenheim.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (9)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Lebensgeschichten & Schicksale" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Christa Astl

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die weiße Frau von Christa Astl (Märchen)
Geh ins Licht......Geh von Engelbert Blabsreiter (Lebensgeschichten & Schicksale)
Mein lieber alter schwarzer Kater von Rita Bremm-Heffels (Abschied)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen