Peter Kröger

Capri


Zunächst dachte er etwas Anderes.
An die einzelne kleine, weiße Wolke am ansonsten makellos blauen Sommerhimmel; an seine geplante Reise nach Capri; an das Dröhnen der Autobahn, den taumelnden Flug einer Stubenfliege über seiner Computertastatur und das Rascheln und Reiben seiner nervösen Hände, die ihm wie ein Abbild seiner Seele erschienen; daran, dass es unklar war, ob ihn die lauten Stöhngeräusche seiner Nachbarin eher störten oder erregten. Er fragte sich, was es bedeutete, wenn die Zeit zu Staub zerfiele und dieser Zeitstaub sich in den Ritzen des Dielenfußbodens festsetzte; ob es vielleicht ein Zeichen war, dass die Schatten des Nachmittags aussahen wie gefällte Baumstämme, die Schneisen durch das Zimmer schlugen; warum die kleine, weiße Wolke plötzlich fort war und seine Hände still.
Dann dachte er an den Brief.
Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie seine Finger begannen, die schwarzen Tasten zu bearbeiten und Worte aneinander zu reihen, die sich auf dem großen, hellen Bildschirm vor ihm zu Zusammenhängen verdichteten, die er schließlich Entwurf 31/18  oder Katja, 3. August nennen würde. Nachdem er die Augen öffnete, begann der Brief Gestalt anzunehmen. Meine liebe Katja, las er, und meinte eine kühle Brise zu spüren, ein frisches Lüftchen, das die kleine, weiße Wolke verscheucht haben mochte und bis in die Ritzen des Dielenfußbodens zu reichen schien. Meine liebe Katja, strenge Katinka-Frau.
Er trank einen großen Schluck Wasser aus einem Glas, das er vorsorglich am frühen Morgen schon auf den Tisch gestellt hatte. Dann sah er auf die Schatten, die in der Mitte des Raumes endeten und versuchte weiterzuschreiben. Er hörte das Summen der Fliege, ein Geräusch, das sich entfernte und zurückkehrte, oder aussetzte, um wieder einzusetzen. Was machte nur dieser Tierkadaver zu seinen Füßen, war denn niemand da, der diesen verwesenden Klumpen forträumte, diesen halb abgenagten Schädel mit Hörnern, dieses Gerippe mit faulen Fleischresten, das nach Afrika gehörte, an den Rand der Sahara, überall hin, aber doch nicht unter den Schreibtisch eines pensionierten Deutschlehrers, der nie in Afrika gewesen war, sondern endlich diesen Brief schreiben wollte, endlich. Warum musste ausgerechnet jetzt dieser Kadaver auftauchen, es war doch wirklich völlig absurd, zum Piepen, wie er dachte. Dann wurde er traurig und weinte.
Immer geschahen merkwürdige Dinge, wenn er versuchte, diesen Brief zu schreiben. Vor vier Wochen zum Beispiel hatte es ein Gewitter mit ohrenbetäubendem Donner gegeben, wie er es noch nicht erlebt hatte; vor drei Wochen waren zwei ehemalige Schüler unerwartet zu Besuch gekommen, um das empfindliche Gleichgewicht des Tages durcheinanderzubringen; vor zwei Wochen hatte er für seine Lesegruppe ein Referat über Goethes Italienbild vorbereiten müssen und war urplötzlich von lähmenden Kopfschmerzen heimgesucht worden; und letzte Woche war es am Schreibtisch so still gewesen, trotz  Autobahn, trotz lauter Musik aus der Wohnung der Nachbarin, dass er auch diesen Schreibversuch abgebrochen hatte, aus Angst, diese innere Stille könnte ihn verschlingen. Ein Kadaver unter dem Tisch war offensichtlich das, was dem Ganzen nun die Krone aufsetzen sollte.
Seine Tränen waren Tränen der Verzweiflung, der Wut. Meine liebe Katja, strenge Katinka-Frau, weiter kam er nicht, weiter war er auch die Wochen zuvor nicht gekommen, immer stellte sich irgendetwas in den Weg. Lärm, Stille, lästige Menschen, die ihm die Zeit stahlen, in Auflösung befindliche Tierkörper – geheime Kräfte verhinderten die längst fällige Aussöhnung mit Katja, denn einmal würde es doch gelingen, wieder zueinander zu finden, nichts währte schließlich ewig, auch ein Zerwürfnis nicht, schon gar nicht eines, das so offensichtlich auf Missverständnissen beruhte, allerdings auch auf Gegensätzen, die sich jedoch bekanntlich anzogen, das Salz in der Suppe waren, da hätte nicht einmal Katja widersprochen. Aber wie sollte diese Aussöhnung aussehen, wie sollte sich eine Wiederannäherung zwischen Menschen vollziehen, die, daran konnte doch kein Zweifel bestimmen, füreinander bestimmt waren. Trotz vieler entschlossener Anläufe gelang es nicht einmal, einen Brief zu schreiben, einen Brief, der alles erklärte, einen Brief, in dem er um Verzeihung bäte und alle Schuld auf sich nähme. Sicher war es kein Leichtes für einen wie ihn, zu bereuen und Abbitte zu leisten. Es war an ihm, das stand außer Frage, den ersten Schritt zu machen. Komm zurück, dachte er, alles ist sinnlos ohne dich.
Er starrte mit geröteten Augen aus dem Fenster, hinüber zur Autobahn. Was konnte er tun? Noch einen Schluck Wasser trinken, den Kadaver aus dem Weg räumen und nach einer Woche einen erneuten Anlauf nehmen. Eine weitere Woche, eine Woche des Nachdenkens, würde vielleicht das Wunder bewirken, auf das er wartete. Doch es war zu befürchten, dass er wiederum über die ersten Worte nicht hinauskäme, dass er mit unbekannten Mächten neue aussichtslose Kämpfe führte, um am Ende noch eine Demütigung zu erfahren, um zu verzweifeln an der Gemeinheit des Daseins und seiner Unbarmherzigkeit. Wenn nur Katja da wäre. Denn darum ging es.
Mit voller Wucht schlug er mit beiden Händen erst auf den Schreibtisch, dann auf die Tastatur. Er riss und zerrte am Kabel, das Computer und Bildschirm verband, bis er schließlich den Briefanfang, seine wenigen wohlgesetzten Worte, umstürzen und fallen sah und nur noch einen lauten Aufprall und das Splittern von Glas  auf dem Dielenfußboden wahrnahm. Währenddessen brüllte er raue, abgehackte Laute mit einer Stimme, die sich überschlug und spürte ein Leiden an Leib und Leben, wie er es wohl aus Büchern kannte, aber nie selbst in diesem bedrohlichen Ausmaß erfahren hatte. Das hier sollte ein Arbeitszimmer sein, aber er war unfähig, einen Brief zu schreiben, Goethe und sein blödes Italienbild konnten ihm gestohlen bleiben, wen interessierten anstrengende Reisen frustrierter Kleinstaatenminister vor über zweihundert Jahren, wenn fürchterliche Gewitter hier und jetzt auf einmal die Welt zu verschlingen drohten und zugleich die Stille im Lärm um ihn herum nicht zu ertragen war und, schlimmer, der Schrecken, den diese Stille verbreitete, auf das Ende von allem hindeutete und doch unverständlich blieb.
Vom Brüllen und Weinen erschöpft sank er allmählich mehr und mehr in sich zusammen. War es ein abwegiger Gedanke, seine ehemaligen Schüler Wolfgang und Beate um Rat zu bitten? Immerhin hatten sie etwas gut zu machen, sie hatten ihn davon abgehalten, seinen Brief an Katja zu schreiben, ja, vor drei Wochen hätte es gelingen können, bestimmt wäre ihm etwas Passendes eingefallen, die richtigen Worte, Worte, die mitten ins Herz getroffen hätten, wie in einem guten Gedicht, für Goethe und Schiller wären die richtigen Worte ein Klacks gewesen, aber auch Wolfgang Rathjen und Beate Hoppe waren nahezu täglich auf der Suche nach den richtigen Worten in ihrer Agentur Farewell, wo für viel Geld Abschiedsreden verfasst und bestimmt auf Wunsch auch herzergreifende Briefe geschrieben wurden, aber vor drei Wochen hatte er über die Schule sprechen wollen, mit ehemaligen Schülern sprach man schließlich über die Schule, über Aufsätze und Klassenbucheinträge, über Nachsicht und Einsicht, vielleicht über richtiges Leben, nicht über Lebenshilfe. Was sollten ehemalige Schüler auch zu Tierkadavern und Kopfschmerzen sagen? Nun schämte er sich für den Gedanken, Rat bei Menschen suchen zu wollen, denen er selbst den Weg ins Leben geebnet hatte. Es war absurd. Seine Ratgeberin war immer Katja gewesen, aber ihre Zuneigung hatte er leichtfertig verspielt. Alles drehte sich im Kreis.
Erst jetzt bemerkte er, dass der Kadaver verschwunden war. An seiner Stelle türmte sich ein Scherbenhaufen neben einem zertrümmerten Computermonitor, den er mit Katja gekauft hatte, als Monitore noch schwer waren und zerbrechlich. Er stand auf, holte aus der Abstellkammer Besen und Kehrschaufel und begann mit den Aufräumarbeiten. Langsam besserte sich sein Zustand. Aus der Wohnung der Nachbarin waren keine Geräusche mehr zu hören. Irgendwann musste schließlich wieder Ruhe einkehren, denn glücklicherweise gab es Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit. Hoffentlich waren sein Schreien und seine Zerstörungsattacken nebenan nicht zu hören gewesen. Nur ungern hätte er sich eine Blöße gegeben. Selbst eine Aussöhnung mit Katja konnte nur gelingen, wenn Reue nicht Unterwerfung bedeutete und ein Schuldbekenntnis nicht als Freibrief für die unumschränkte Herrschaft des Partners verstanden wurde. Zum Glück war diese Gefahr gering. Katja war streng. Doch niemals würde sie eine Notlage ausnutzen. Sie war immer gerecht in ihrem Urteil gewesen, vielmehr war er derjenige gewesen, der immer seinen Kopf durchgesetzt und es mit der Treue nicht allzu genau genommen hatte. Der Jähzorn aber, sein ewiger Jähzorn, die Kehrseite seines melancholischen Wesens, hatte ihm Katja entfremdet und sie in die Arme eines Anderen getrieben. Es war die Zeit, die alles schlimmer machte. Wohin mit mir, dachte er, und erschauderte. Zu Katja?
Katja war tot.
Er horchte in sich hinein und hoffte auf ein Zeichen von irgendwoher. Beim Anblick der länger werdenden Schatten musste er an seine lang geplante Reise nach Capri denken. Von Neapel würde er bald mit der ersten Fähre über das Meer reisen und die Insel seiner Träume betreten. Soweit er wusste, war Goethe nie dort gewesen, aber ein römischer Kaiser hatte einst von dort regiert und unzählige Male war der wild zerklüftete Felsen wegen seiner Schönheit besungen worden. Die Entscheidung, dorthin zu reisen, war bereits gefallen, nur den genauen Zeitpunkt wollte er noch bestimmen. Es ging nur noch um einen klaren Kopf. Wenn ein Brief an Katja nicht möglich war -  er holte tief Luft – nicht funktionierte, dann konnte er immer noch, zumindest war es nicht völlig abwegig, ja, er konnte einfach zur Nachbarin gehen, was sprach dagegen, er war nicht gebunden, nicht mehr jedenfalls, Katja wollte es nicht anders, nüchtern betrachtet war es nun wirklich nichts Weltbewegendes, bei der Nachbarin vorzusprechen, um ihr einen gemeinsamen Urlaub auf einer italienischen Insel vorzuschlagen, es war immerhin möglich, dass er nach einem gemeinsamen Urlaub gar keinen Brief mehr schreiben wollte, dass er Katja in Frieden lassen konnte, schließlich war sie, lieb und streng, zu der Auffassung gelangt, ein Leben ohne ihn sei das wahre Leben, eine Trennung von ihm eine Befreiung. Er sollte den Tatsachen endlich ins Auge sehen. Vielleicht war es kein dummer Gedanke, dass gerade die Nachbarin es war, die ihn aus seinem inneren Verlies befreien konnte und mit ihm nach Capri fuhr.
Es ist schön, dachte er, einen Entschluss zu fassen und zu tun, was zu tun ist. Er ging ins Bad, befeuchtete einen Schwamm mit kühlem Wasser und betupfte damit die immer noch geröteten Augen. Ein frisches Hemd konnte nicht schaden, ein paar Tropfen des guten Parfums, das Katja liebte. Dann öffnete er die Wohnungstür und trat in den Flur. Auf der Klingel der Nachbarin las er die Worte Club Amore, Inhaberin Anna Kaminski und betrachtete das rote Herz unterhalb des Türspions. Er klingelte und trat einen Schritt zurück. Nach einer Weile öffnete sich die Tür und eine brünette Dame mittleren Alters schaute ihn skeptisch aus glasigen Augen an. Ihr weißer Morgenmantel verhüllte ihren nackten Körper nur unvollständig.
Ja?
Er empfand es als ausgesprochen unpassend, auf diese Weise, mit einem kurzen, ärgerlich klingenden Wort bedacht zu werden. War er ein Schüler oder gar ein Bittsteller? Für einen Moment dachte er daran umzudrehen und in seine Wohnung zurückzukehren. Aber dann hätte er den Tag damit verbracht, nach kleinen, weißen Wolken oder herannahenden Gewittern Ausschau zu halten oder an Katja zu denken. Außerdem ging es um Capri. Allein zu reisen, das war etwas für Leute wie Goethe. Zu zweit war Schönheit leichter zu ertragen, der Staub in den Ritzen des Dielenfußbodens, das Summen einer Fliege, die man nicht sah, ein Brief, für den es zu spät war. Alles.
Er atmete tief ein und spürte eine kühle Brise.
Guten Tag. Mein Name ist Eduard Hoffmeister. Ich bin Ihr Nachbar. Ich möchte mit Ihnen nach Capri fahren. Wir könnten die Fähre von Neapel nehmen.
Nachdem er gesprochen hatte, wollte er gehen.
Was?  
Der Morgenmantel gab jetzt den Blick auf die großen Brüste der Nachbarin frei, die sich fragend umschaute. Hinter ihr tauchte ein großer, muskulöser Mann mit  Schnauzbart und Knollennase auf, schob sich nach vorn und blieb  grunzend auf der Türschwelle stehen. Auf seinem weißen T-Shirt prangten in großen, roten Lettern die Worte: SAG BLOß.
Bist du verrückt? Was willst du, Alter?
Das Dröhnen der Autobahn war nur noch ein leises Zischen. Vielleicht war die kleine, weiße Wolke jetzt über ihnen. Eduard Hoffmeister schüttelte den Kopf.
Ich habe mit der Dame gesprochen, Pappnase. Du hältst besser die Luft an.
Das saß, das war deutlich, dachte er. Auf seinen Lippen zeichnete sich ein Lächeln ab. Die Knolle stand mit finsterer Miene einen halben Schritt vor ihm und ballte die Fäuste. Eduard schaute an ihm vorbei zu seiner Nachbarin.
Capri, sagte er.
Dann spürte er einen fürchterlichen Schlag und ging zu Boden. Als er wenig später den Kopf zur Seite drehte, sah er einen Kadaver, der in einer Blutlache schwamm.  Eine Tür knallte, das Treppenhaus bebte. Vor seinen Augen tauchten Wolfgang und Beate auf und hielten eine Grabrede, die ihm gefiel: Der Schall, der Rauch und der Tod. Es roch nach gutem Parfum. Was waren die Tatsachen? Hatte es Katja wirklich gegeben?
Draußen wurde es Abend. Er stellte sich einen Scherbenhaufen vor, der ein Bildschirm war, der ein Brief war.
Capri, wiederholte er, schmeckte Staub und schlief ein.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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