Gabi Sicklinger

Das letzte Silvester


»Keinen Schritt näher!« Melanie, die in den zwanzig Jahren ihres Zusammenseins nichts an Attraktivität eingebüßt hatte, balancierte das vierhundertseitige Manuskript hoch über ihrem Kopf, um es Werners Zugriff zu entziehen. Ihre braunen Augen funkelten gefährlich und aufs äußerste konzentriert wie bei einer Raubkatze, jeden Moment auf einen Angriff gefasst.

Werner, gerade im Begriff, ihr die Seiten aus der Hand zu reißen, hielt inne. Er wusste, dass er jetzt keinen Fehler begehen durfte, sonst war womöglich jahrelange harte Arbeit umsonst gewesen. Eigentlich wollten sie sich im Guten trennen. Doch dieser Ausdruck höchster Erregtheit in ihrem Gesicht verriet ihm, dass sie zu allem entschlossen schien.

»Schon gut, schon gut, bleib ganz ruhig!« Vorsichtig vollführte er eine beschwichtigende Handbewegung. Hatte er nicht schon genug Schwierigkeiten gehabt, in ihrer unorthodoxen Vorgehensweise mit ihr zusammenzuarbeiten? Auch wenn das meiste Melanie geschrieben hatte, so wäre das Buch ohne ihn doch niemals zustande gekommen. Und ausgerechnet jetzt, wo es nach schier endlosen Mühen fertig gestellt war und zu allem Überfluss der Computer ohne Vorwarnung seinen Geist aufgegeben hatte, war dieses einzig verbliebene Exemplar in höchster Gefahr, vernichtet zu werden. Nein, das musste er unbedingt verhindern, seine weitere Zukunft hing von der Veröffentlichung seiner bahnbrechenden, zum Klassiker prädestinierten philosophischen Erkenntnisse ab.

So hatte er sich den letzten Silvesterabend mit ihr nicht vorgestellt. »Lass uns doch vernünftig miteinander reden, okay?«

Melanie, immer noch kampfbereit, wich einen Schritt zurück. »Worte hast du in der Vergangenheit genug produziert!« Ihre Stimme klang heiser. »Dass du den kompletten Haushalt schmeißen willst. Dass du wieder arbeiten willst. Und seit einem läppischen Jahr solltest du ausgezogen sein. Nichts als leeres Gerede!«

»Du weißt genau, dass ich nichts dafür konnte, dass alles so schief gelaufen ist. Das war einfach Pech, verstehst du?« Wie oft hatte er ihr das schon erklärt!

In letzter Zeit zeigte sie sich wirklich ausgesprochen uneinsichtig. Dabei hatte er in diesem Jahr sogar einen extra schönen Weihnachtsbaum besorgt und ihn ganz alleine und mit besonders viel Sorgfalt geschmückt, um ihr zu zeigen, dass er nach wie vor versöhnungsbereit war. So einen Mann wie ihn, der in diesem Alter noch so jugendlich aussah und sogar noch sämtliche Haare auf dem Kopf hatte, musste sie erst einmal finden. Sie würde es mit Sicherheit irgendwann bereuen.

»Ach ja, Pech nennt man das jetzt, wenn einer sich den Hintern platt drückt, wirklich interessant!«

»Bitte, glaub mir doch!« Er bemühte sich um jenen flehenden Hundeblick, dem sie stets hatte schwer widerstehen können. »Ich habe wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft, ganz ehrlich!«

»Kein einziges Wort glaub ich dir mehr!«, erwiderte sie, ungerührt von seinen Beteuerungen.

Jetzt gelang es ihm nur noch mühsam, seine Wut im Zaum zu halten. »Melanie, wirklich, es tut niemandem so Leid wie mir!« So unauffällig wie möglich versuchte er sich ihr zu nähern. Er musste um jeden Preis das Manuskript an sich bringen.

»Das Einzige, was du kannst, ist mir zu erzählen, warum irgendetwas angeblich immer nicht geht! Und dass alle Schuld sind außer dir! Ich hab die Schnauze voll von deinen billigen Ausreden, ein für alle Mal voll!« Sie wich ihm erneut aus und schwang ihre Arme noch weiter hinter sich.

»Pass auf!«, rief er erschrocken und trat unwillkürlich einen Schritt auf sie zu.

»Leck mich doch am Arsch!« Aus ihren Augen sprühte blanker Hass, als sie de Seiten wild entschlossen mitten hinein in den Weihnachtsbaum schleuderte.

»Bist du des Wahnsinns!« Mit einem Satz sprang Werner zu dem umgefallenen Christbaum, um das Werk zu retten. Barsch stieß er Melanie zur Seite, welche mit einem Aufschrei taumelnd zu Boden fiel. Das Manuskript lag ausgerechnet unter dem Baum, der sofort Feuer fing und dieses im Nu an die Gardinen weitergab. Verdammt! Er bekam es nicht zu fassen, versuchte mit dem Fuß den Stamm zur Seite zu stoßen. Doch der Rauch biss heftig in seine Augen, er konnte nichts mehr sehen.

»Los komm, nichts wie raus hier!« Mit dem rechten Arm seine Augen bedeckend, tastete er sich hustend zur Terrassentüre vor, öffnete sie mit der linken und stürzte hinaus.

»Hilfeee!!! Es brennt! Holt die Feuerwehr! Schnell, schnell!!!«, brüllte er in die Dunkelheit hinein.

Türen wurden aufgerissen, jemand telefonierte aufgeregt, wild durcheinander gerufene Wortfetzen, die an sein Ohr drangen. Ob sich sonst noch Personen im Haus befänden. »Nein, niemand«, antwortete er wie in Trance, während er fassungslos in das immer heller werdende Wohnzimmer starrte, wo das Feuer sich laut knackend nach und nach der Einrichtung bemächtigte.

Erbarmungslos hatten sich die Flammen über sein Lebenswerk hergemacht – es in einem einzigen Augenblick vernichtet!

»Machen Sie gefälligst, dass Sie hier wegkommen!« Irgendjemand packte ihn unsanft am Arm und riss ihn zur Seite. Im Hintergrund ertönten die Sirenen der Feuerwehrautos, eilig näherten sich die Rettungskräfte und begannen, den starken Wasserstrahl auf das brennende Haus zu richten. Werner blickte immer noch wie hypnotisiert in Richtung des Wohnzimmers, ein ständiges Krachen und erneutes Aufflackern, dann nur noch dicker Qualm und der strenge Brandgeruch, der die Luft erfüllte.

Erst jetzt bemerkte er, dass die gesamte Nachbarschaft aus ihren Häusern gekommen war. Suchend irrte sein Blick umher. Wo war Melanie? Verstört bahnte er sich einen Weg durch die gaffende Menschenmenge. »Haben Sie Melanie gesehen?«

Er irrte weiter. »Melanie!?« Doch sie blieb wie vom Erdboden verschluckt. »Melaniiieee!!!«

Um Himmels Willen, sie war doch nicht etwa …??? Dabei hatte er sie doch ausdrücklich aufgefordert …!

Er vermochte den Gedanken nicht zu Ende zu denken, die entsetzliche Befürchtung sog buchstäblich alle Kraft aus seinem Körper. Zitternd taumelte er gegen einen Laternenmast und sackte zu Boden. »Melanie …«, kam es nur mehr tonlos über seine Lippen.

Nun hatte er alles, absolut alles verloren, was ihm jemals im Leben etwas bedeutet hatte. Sogar seine geliebte Melanie, die ihn so viele Jahre begleitet hatte und ihm ans Herz gewachsen war wie kein anderer Mensch. Eine unsagbare Traurigkeit bemächtigte sich seiner. Kraftlos sank sein Kopf auf die Arme nieder, mit denen er die Knie umschlungen hielt, während er hemmungslos zu schluchzen begann, verzweifelt wie nie zuvor.

Er fühlte seinen kalten Körper nicht mehr, wusste auch nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ihn plötzlich jemand an der Schulter rüttelte. »He Werner, alles in Ordnung?«

Langsam hob er den Kopf und blickte auf. Noch immer ging ein Krachen und Blitzen durch den Nachthimmel.

Neben ihm hockte Melanie.

»Hey, ich glaube, du hast zu viel getrunken! Willst du dir nicht das Feuerwerk ansehen? Na los, komm schon!«

»Nein, ich meine … ja. Ja, natürlich!« Verwirrt und zugleich erleichtert erhob er sich vom Bett und folgte ihr benommen ins Wohnzimmer, wo die Christbaumkerzen festlich den Raum erleuchteten.



© Mandalena (2011)





Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Gabi Sicklinger).
Der Beitrag wurde von Gabi Sicklinger auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Gabi Sicklinger

  Gabi Sicklinger als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Entscheidung am Bahnhof Zoo von Yvonne Habenicht



Die Geschichte spielt im Berlin der 90er Jahre.

Den beiden Freundinnen Andrea und Sigrid hat im Laufe weniger Monate das Schicksal übel mitgespielt. Mit dem Weihnachtsfest scheint sich eine positive Wende anzukündigen. Andreas Beziehung zu Wilfried Ruge, die anfangs unter keinem guten Stern zu stehen schien, festigt sich. Auch ihre Freundin glaubt in Wilfried ein verlässlichen Kameraden zu sehen. Beide Frauen nehmen ihr Schicksal optimistisch in die Hand.

Sie ahnen nicht, dass der Mann, dem sie vertrauen, ein gefährlicher Psychopath ist und insgeheim einen schaurigen Plan verfolgt. Auch, als sich Warnungen und Anzeichen häufen, wollen die Frauen die Gefahr, die von dem Geliebten und Freund ausgeht, noch nicht wahrhaben. Ausgerechnet Sigrids behinderte Nichte wird folgenschwer in den Strudel der schrecklichen Ereignisse gerissen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (7)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Drama" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Gabi Sicklinger

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

WeihnachtsZauber von Gabi Sicklinger (Weihnachten)
Abschiedsbrief einer fünfzehnjährigen von Rüdiger Nazar (Drama)
Der Zwillingsbaum von Karin Ernst (Zauberhafte Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen