Peter Kröger

Karl



Wäre Karl jünger gewesen, er hätte Dinge gesagt wie: Ich wünschte, ich wäre jünger oder Ich sitze zwischen allen Stühlen.
Aber er war mit den Jahren zu der Ansicht gelangt, es gab keine Stühle, kein Dazwischen, nur Nachlässigkeiten, Ausreden und falsche Gewissheiten.
Und das Vergessen.
Abends hatte er nackt vor dem Spiegel die Worte gesprochen: Ich bin Karl. Aber wer bitte sollte das sein. Dann war er früh schlafen gegangen.
An diesem Julimorgen lag ein Sirren in der Luft, ein leises Atmen und Pulsieren, und Karl gefiel sich darin zu lächeln. Er wusch sich, öffnete die Fenster und faltete einen Merkzettel für den Tag. Langsam stieg er die Treppe hinunter. Dann trat er frisch herausgeputzt auf die Straße hinaus. Mit Senta war am späten Nachmittag zu rechnen. Eigentlich war immer mit Senta zu rechnen, dachte er und zupfte eine Falte aus seinem weißen Oberhemd, zu dem er eine große blaue Krawatte und einen Panamahut als Sonnenschutz trug.
Er liebte den Sommer, die Stadt, die alten Ganghäuser, die Nähe des Meeres, schiefe Kirchtürme aus rotem Backstein. Er liebte die Ruhe vor dem Sturm, Gartenfeste im Sommer, das trübe Wasser der Wakenitz, ein Gewitter aus heiterem Himmel, einen guten Witz. Ein guter Witz war ein Kopfstand der Seele, das Rad, neu erfunden, ein lustiges Drunter und Drüber.
Karl dachte: Es hört niemals auf, und er meinte das Leben. Menschen gingen an ihm vorüber, einer grüßte ihn. Ein flüchtiger Bekannter, er mochte ihn, ganz sicher, aber er hielt nicht an. Nach London müsste er einmal fahren, überlegte er und beschleunigte seinen Schritt, Paris, Stockholm, Rom, gut und schön, aber London war eine ihm gemäße Stadt, warum, wusste er nicht, vielleicht, weil London die Stadt des guten Geschmacks war, der vornehmen Zurückhaltung, vielleicht, weil er noch nie dort gewesen war, vielleicht, weil niemand fragte, nicht einmal Senta. Aber bestimmt ahnte Senta etwas. Senta ahnte immer etwas. Wieder umspielte ein feines Lächeln seine Lippen.
Als er die Fußgängerzone erreichte, blieb Karl stehen. Wie oft hatte er sich hier ins Getümmel gestürzt oder mit einer Meinung über die Architektur des alten Rathauses die Zeit vertrieben! Jetzt war es so merkwürdig still zwischen all den Menschen, nur das Sirren war zu hören, und Karl dachte, nur zum Spaß: Über allen Gipfeln ist Ruh. Wieder grüßte ihn jemand. Vielleicht sah es nur so aus. Ausgerechnet die schönen Tage glichen sich. Was sprach dagegen, etwas Marzipan zu kaufen? Die ganze Stadt, ein Ort voller Verführungen. Das Leben mit Senta, ein Fest.
Karl fing an zu summen, abwechselnd hoch und tief, eine Melodie, die er nicht kannte, nach einer Weile holte er tief Luft und ließ einen Ton langsam anschwellen. Vor dem Schaufenster eines Spielwarenladens verstummte er. Fasziniert sah er eine Miniatureisenbahn durch eine aufwändig gestaltete Berglandschaft rollen, sah Puppen mit rosigen Gesichtern und bunten, bestickten Kleidchen und kämpfende Plastikroboter mit blinkenden Schwertern, die ohne Frage den Feind augenblicklich in die Flucht schlügen, wenn alles mit rechten Dingen zuginge. Der Sieg des Guten war immer das Naheliegende. Aber er musste erfochten werden. Ob er es der Verkäuferin sagen sollte? Wenig später wechselte eine blaue Wasserpistole den Besitzer. Karl war glücklich.
Die Stadt war schön, aber auch der mondäne Kurort ganz in der Nähe war eine Perle mit seiner großen Strandpromenade, dem Spielcasino und riesigen ein- und auslaufenden Fährschiffen. Dorthin! Heute schien alles möglich zu sein. Auf dem  Weg zum Bahnhof traf er den alten Jupp und jubelte ihm zu: Ich fahre nach Travemünde! Karl war Feuer und Flamme, im Zug saß niemand, eine Wohltat nach all dem Gedränge, und schon hieß es: Zurückbleiben bitte. War er das?
Diese Ideen! Der Tag war voller Ideen! Ach, es sollte nur solche Tage geben, Karl wollte es. Er betrachtete die Wasserpistole, aß ein Stück Marzipan und dachte an das Meer und dass es nichts war als Meer und ein Glitzern am Horizont. Und ein Rauschen, das die Stille durchbrach. Er erschrak, als er neben sich den weinenden Jupp sah. Da weinte er auch.
Wie viele Autos im Bauch des Fährschiffs wohl Platz fanden? Er wusste es einmal. Wie lang brauchten die Sonnenstrahlen auf ihrem Weg durch das All, bis sie ihn trafen, hier zwischen Wellen und weißem Sand? Nur wenige Minuten, fünf oder fünfzig, wen kümmerte es. War der Sommer ein Geschenk? Eine unsinnige Frage. Er dachte: Alles zu seiner Zeit. Bald käme Senta, dann hielten sie sich bei der Hand und schauten listig hinter die Kulissen. Nur den Zug zurück nicht verpassen, dachte Karl und fühlte den Zettel in der Hand. Hätte er heute eine Blume im Knopfloch tragen sollen? Sicher hätte es Senta gefreut. Hoffentlich war der Heimweg frei durch die schmalen Gassen. Jemand sagte: Kommen Sie.
Zuhause betrachtete er lange seinen Panamahut und blätterte in alten Zeitschriften. Gelegentlich griff er in eine Schale mit Trockenfrüchten. Schmeckten Pflaumen bitter, wenn man daran glaubte? Warum hatte Jupp geweint? Er schaute auf die Uhr und drehte den Wasserhahn auf. Schon war die Pistole mit kaltem Leitungswasser gefüllt. Anlegen, abdrücken, dachte er. Es kitzelte ein wenig, als der feine Strahl seine pochende Schläfe erreichte. Wenn er jetzt stürbe, machte das Leben Sinn. Ja, das war es. Vielleicht sollte er es auf den leeren Merkzettel schreiben.
Er war Karl, er erinnerte sich. Nichts war ein Geheimnis. Er schloss die Fenster und murmelte einen Abzählreim. Die blaue Krawatte, die feucht und fleckig geworden war, zog er fester und fester, bis ihm die Kräfte versagten. Am Ende lag es doch am Sommer. Also doch der Sommer! Humor war das Gebot der Stunde. Wenn das Pulsieren nur endete! Er schüttelte den Kopf und wartete.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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