Xuan Hy Nguyen

Jessy im Maulwurftunnel





Jessys Welt ist gerade zusammengebrochen. Ihr Freund hat gerade schlussgemacht, da er sie mit der Tussi der Parallelklasse betrogen hat. Dabei hat sie immer gedacht, er wäre der Richtige. Unsterblich verliebt war sie in ihn. Sie heult, die Emotionen brechen aus ihr heraus, sie hat darüber keine Kontrolle, sie stürzt in ein ultratiefes Loch. Im unpassenden  Moment bricht ihre peinliche Mutter in Jessys Zimmer ein und fordert sie auf, ihr Gemisch aus allgegenwärtigem Chaos plus sich langsam zersetzendem Biotop, bestehend aus tausendjährigen Essensresten in Nichtaufgeräumten Schüsseln und Co. Zu beseitigen. Ihre nervige Schwester kreischt wieder rum und ihre Eltern streiten sich oft und können sich dabei oft nicht beherrschen. Sie kann diese seelische Wunde nicht verkraften, sie fühlt sich leer, sie hat überall Probleme – in der Schule, zuhause, und jetzt auch noch mit ihrem Freund, den sie am meisten geliebt hat.
Sie fühlt sich alleine gelassen – gemobbt von dieser Welt. Wütend, genervt und traurig zugleich knallt Jessy die Zimmertür zu und zieht sich eine DVD von Twilight rein. Während sich Bella und Edward küssen und sich liebkosen laufen stille Tränen Jessys Wangen hinunter und Jessy erinnert sich wehmütig an ihre ehemals heile Welt. Ohne Ihn macht ihr Leben kein Sinn mehr und plötzlich fällt ihr der Gedanke ein, wie es denn wäre, wenn sie nicht mehr existieren würde…
 
Wir alle kennen solche Situationen, in denen wir unser Dasein hinterfragen, eine seelische Leere empfinden und keinen Antrieb mehr in unserem Leben sehen. Besonders im jugendlichen Alter empfinden wir alles, was uns behindert und Schwierigkeiten bereitet, als sehr belastend. Geschieht dies auf Dauer, geben manche sogar auf und bezeichnen sich gerne als ein unglückliches Schicksal, welches im Leben leidet. All zu oft vergleichen sich Teenager mit anderen und wollen dieselbe Play Station oder dieselben Klamotten wie ihre Freunde. Manche finden es peinlich, dass ihre Eltern bei Mc Donalds usw. arbeiten, denn eigentlich hätten sie etwas reichere Eltern verdient. Diese fühlen sich unvollständig, unkomplett, ihnen fehlt etwas, ihr Selbstbewusstsein leidet, immer wenn sie wieder hören, wie toll die Eltern ihrer Freunde sind. Nicht selten bringen sie diese innere Unzufriedenheit mithilfe groben, verletzlichen Anmerkungen gegenüber ihren Angehörigen zum Ausdruck. Dabei verschlimmern sie nur die Situation und häufig enden dann diese Auseinandersetzungen mit „Du verstehst mich ja null!“ (Bumm!!.....Türklinke fällt runter…)
 
Nun fragt man sich, ob ein Neandertaler sich beschwert hätte, wenn er nur die altmodischen, Urklamotten seines Großvaters bekommen und sich deshalb ausgegrenzt fühlen würde? Oder würde der Neandertaler wegen zu starken Minderwertigkeitskomplexen lieber vom nächsten Hochhaus springen? Würde ein afrikanisches, lebendiges, hungerndes Skelett innerlich leiden und nichts essen wollen, nur weil es jetzt single ist, sich deshalb einsam fühlt. Ist dies wahrhaft ein seelischer Schmerz, oder ist dies nur ein Phantomleiden der unbefriedigten Bedürfnisse einer Erlebnisgesellschaft? Nach Gerhard Schulze sei eine Erlebnisgesellschaft eine Gesellschaft, in der der Einzelne sehr egoistisch auf das Erreichen von möglichst viel Genuss konzentriert sei.   Das Motto „Erlebe Dein Leben!“ wird dabei nach Gerhard Schulze zum alles bestimmenden Handlungsimperativ.
 
Dieser These stimme ich absolut zu, denn überall in den Werbungen und auch Medien wird dieser Lebensstil popularisiert. Dabei werden Liebe, makellose Eltern, gutes Aussehen, Sex, „abenteuerliche“ Erlebnisse und Hochgefühl zur allgegenwärtigen Propaganda unserer modernen Konsumgesellschaft. Somit richtet sich der soziale Habitus vieler Menschen nach dieser Propaganda. Demnach dürfte es uns nicht wundern, warum manche dann eine tief greifende Depression empfinden, wenn ihr Verlangen nach solchen Dingen nicht erfüllt wird.  Hinzu kommt der Individualisierungsprozess der westlichen Zivilisation, die das Individuum massiv fördert, was natürlich der Bildung und Aufklärung zugute kommt, allerdings wird der Wert eines Individuums nicht selten auch überschätzt. Überall wird alles getan, um ein selbstbewusstes, urteilsfähiges Individuum zu erziehen. Das ist sehr fortgeschritten und toll, hat leider aber auch eine kleine negative Seite: Im Zentrum des Lebens mancher Menschen steht das Individuum, seine Gefühle, seine Selbstverwirklichung und seinen Spaß.
 
Folglich werden Teile seiner Umwelt ausgeblendet und er sieht nichts als seine kleine Welt voller Empfindungen.
Um meine Argumentationslinie zu festigen, ziehe ich gerne die These von Norbert Elias als Beweis heran. Norbert Elias zufolge beiwirkt der Individualisierungsprozess auch eine Verlagerung der Wir-Ich-Balance zugunsten der Ich-Identität. Meiner Ansicht nach schränkt diese Individualisierung die Weitsicht mancher Jugendlichen massiv ein, denn sie sehen nichts außer ihren verletzten Gefühlen und ihre unerfüllten Bedürfnisse. So manche Teenies schreien förmlich nach Markenklamotten, obwohl sich die Mutter von Hartz IV ernährt. Manche Eltern schuften hart für die Existenz ihrer pubertierenden Kinder, doch die Kinder sehen es nicht. Manche Teenies wollen Klamotten, manche wollen teure Play Stations, andere wollen dies andere wollen das, wollen, wollen, wollen….
 
Woher kommt denn das Geld eigentlich, welches ihre Bedürfnisse befriedigen? Wie viele Stunden müssen ihre Eltern dafür schuften? Würden sie auch nur einen harten Tag lang schuften, um einem Wildfremden eine Shoppingtour auszugeben? Oder anders gefragt, würde ein Wildfremder oder ein gleichaltriger Freund den Teenie aufnehmen, um ihn zu füttern und um seine Wünsche zu erfüllen? Nö…niemals! So etwas tun nämlich nur Eltern, denn sie sind die persönliche Überlebenseinheit des Teenies.
 
Wir müssen uns klarmachen, dass das was wir am meisten „wollen“ oder teilweise von der Gesellschaft propagiert wird,  wie eine prickelnde Beziehung, ein aufregendes Leben so weiter und so fort, nie ohne mordsmäßige Anstrengungen erreichen können. Schlussfolgernd stehen uns sehr viele, unzählige Schwierigkeiten im Weg, ich würde behaupten, dass kleine und große Schwierigkeiten im Leben wie Gras auf der Wiese sprießen, wir müssen also lernen über die Wiese zu laufen und nicht sich an jedem Grashalm zu verletzen. Als junger Mensch fühlt man sich besonders dynamisch, hegt große und oft unrealistische Träume, hat das Gefühl, die Welt bewegen zu können und ist demnach am Boden zerstört wenn das nicht so der Fall ist. Doch würde man weiter in die Ferne blicken würde man sofort erkennen, dass auf dieser Welt 7 Milliarden Menschen existieren und dass man ein kleiner Teil von etwas ganz Großem ist.  Das, was manche Teenies als Leid bezeichnen, ist in Wirklichkeit kein besonderer Schmerz, sondern es ist das normale Leben. 7 Milliarden Menschen gibt es auf dieser Welt und 7 Milliarden von ihnen erfahren tagtäglich ihre persönlichen Schmerzen.
 
Und das ist auch das Problem von Jessy: Sie hat keine Weitsicht, sie sieht nur ihre kleine Welt mit ihren verletzten Gefühlen. Sie ist wie ein Maulwurf, der nur seinen eingeengten Maulwurftunnel sieht und kriegt in Wirklichkeit nichts von der Außenwelt mit. Mit ihren Gefühlsausbrüchen, Minderwertigkeitskomplexen und Rumgejammer verschlimmert sie nur noch die Situation, indem sie sich tiefer hineingräbt und somit niemals den Weg zum Licht finden wird. Falls sie es doch schafft, sich von sich selbst zu befreien, wird sie aus dem Maulwurfshügel hinausragen, sie wird die unglaubliche Vielfalt des Lebens erblicken. Eines darf sie nicht vergessen: Es gibt immer jemand anderes, der tausend Mal mehr leidet als sie und trotzdem lebt. Das was ich hier schreibe, ist keine neuartige Theorie oder Sonstiges. Theoretisch kennt sie jeder, nur muss man sie verinnerlichen, um zu akzeptieren. Leid, Schmerz, unbefriedigten Lüste, Lebensdramen, Familiendramen – all das gehört zum Leben, doch die wenigsten können dies akzeptieren und hinter sich lassen.
 
 
Xuan hy Nguyen
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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