Peter Kröger

Mein Freund Chuck



Die Stadt lag da wie tot, und der Himmel war grau. Die Straßen, in trübes Dämmerlicht getaucht, waren menschenleer.
Chucks Schritte verhallten im hässlichen Nichts dumpfer, einförmiger Mietshäuser, die sich auf den Spuren der Bomben des vergessenen Krieges durch das Viertel fraßen.
Seit Jahren ging Chuck so ziellos umher, sodass man sagen konnte: schon immer. Jeden Tag machte er sich auf den Weg, trieb sich herum vor Marktbuden, in Kneipen und lag im Sommer unter Bäumen, auf Parkbänken, las oder schlief. Nachts verkroch er sich in einer kleinen dunklen Wohnung hinter den Bahngleisen und wartete auf den Morgen, und wenn der Morgen kam, verließ auch Chuck wieder sein Versteck, und seine sehnigen Beine begannen erneut damit, den dürren Körper durch die tote Stadt zu tragen.
Ich mochte Chuck. Fast jeden Tag sah ich ihn und hörte seine Schritte. Es kam vor, dass ich ihn in eine  herausgeputzte Altstadtkneipe einlud, wo wir uns betranken und über gute Zeiten oder die Entdeckung von Pharaonengräbern sprachen. Da gibt es Gemeinsamkeiten, sagte Chuck bei unserem letzten Besäufnis nach der sechsten Altbierbowle, die ich bestellte, weil alle sie tranken in jenen Tagen und Chuck egal war, was er trank. Man ist mittendrin, im guten Leben wie in der Grabkammer eines Königs. Aber man weiß es nicht. Später vielleicht, später, aber der Moment ist verpasst. Andere  erkennen die Gelegenheit und bergen die Schätze. Die Schätze bergen, verstehst du?
Dann traten ihm Tränen in die Augen, und ich rettete mich, indem ich sagte: Du bist verrückt, Chuck. Und Chuck sagte: Ja, Karl, alter Zeitungshändler, darum sitzen wir hier. Verrückt. Es ist zum Verrücktwerden.
Nach diesem Abend sprachen wir uns lange nicht mehr, ich weiß noch wie Chuck einmal am Kiosk vorbeihuschte und mich keines Blickes würdigte. Erst wollte ich ihm hinterher rufen, ich wollte sagen Chuck, du verrückter Hund, was ist los mit dir, aber dann ließ ich es sein und verkaufte stattdessen Schundblätter, Magenbitterfläschchen und Lakritzstangen an alternde Trinker und ihre Enkel. Es konnte nicht stimmen, ein Blick aus dem Kiosk bewies mir das Gegenteil, und die Schundblätter verkauften sich prächtig wie eh und je, aber ich hatte den Eindruck, dass niemand mehr auf der Straße war, weil einer fehlte und abgetaucht war.
Chuck war verliebt, das erfuhr ich bald von jemandem, der jemanden kannte, der wusste, dass Chuck verliebt war. Als er bei schönstem Sommerwetter unten am Fluss im Gras lag und in einem Buch über Ausgrabungen im Tal der Könige las, habe ihn, so hieß es, eine junge Frau angesprochen, eine schöne Archäologie-Studentin der hiesigen Universität, und nach dem Weg gefragt. Chuck habe mit ausladenden Gesten nach links und rechts gewiesen, das offene, reich illustrierte Buch in der Hand. So habe man sich kennengelernt und sei bald darauf zusammengezogen.
 Zusammengezogen. Im Grunde wusste ich nichts von Chuck, aber er schien noch verrückter zu sein als ich gedacht hatte, und nun wohnte er mit einer Studentin der Archäologie unter einem Dach, lag nicht mehr unter Bäumen oder auf Parkbänken, rasierte sich angeblich sogar wöchentlich, rauchte nicht mehr und trank nur noch mäßig.
Wie lebten die beiden? Worüber sprachen sie? Schliefen sie Rücken an Rücken ein, oder lagen sie sich in den Armen? Ich habe oft darüber nachgedacht, was es für Chuck bedeutete, sein Leben, den Morgen und die Nacht mit einem Menschen zu teilen und jemandes Hand zu halten. Hatte er einen Schatz geborgen und wusste es? Vermutlich glaubte er es, und was weiß man schon wirklich.
Ich machte in dieser Zeit eine Entdeckung, die mich irritierte und erstaunte: Ich merkte, dass ich mich um Chuck sorgte, er war mein Freund, und ich dachte oft an ihn wie an ein entlaufenes Tier, wie an den nächsten Tag in schlechten Zeiten. Aber ich sah ihn nicht mehr, monatelang war er wie vom Erdboden verschluckt, und die Nachrichten über sein neues  Leben wurden spärlicher und versiegten schließlich ganz. Der gräbt Troja nochmal aus, grölte einer am Kiosk, der einen kannte, der schon neben Chuck im Park gesessen hatte. Studentin. Der spinnt doch. Er ist noch jung. Aber er spinnt gewaltig. Eine Studentin. Aber wahrscheinlich dreht jeder mal durch. Soll er graben. Aber nicht zu tief, was sagt ihr, Leute? Er blickte in die Runde trauriger, angetrunkener Gestalten, die immer in der Nähe herumlungerten und hoffte vergeblich auf Beifall für seinen schlüpfrigen Gag, bitte, nicht so tief. So einer Studentin fehlt die Robustheit. Ich war drauf und dran, diesen nervenden, bedauernswerten Gesellen anzuschreien, aber er nahm seinen Flachmann und ging und grölte nicht mehr.
Herbst und Winter kamen und gingen, der Frühling hielt Einzug, und eines Tages, gegen Feierabend, als ich bereits dabei war, die Rollläden am Kiosk herunter zu lassen und nichtverkaufte Zeitungen abzuzählen und zu bündeln, stand Chuck vor mir und sagte nur Karl, und ich sagte Chuck, und dann gingen wir in eine Altstadtkneipe und bestellten Bowle.
Chuck sah schlecht aus und war wortkarg. Ich fragte ihn nichts, starrte auf mein Glas, in dem sich bei jedem Schluck die Fruchtstückchen bewegten und bestellte einen Schweinebraten, den ich stehenließ, weil ich mir immerzu Schweine auf ihrem Weg zur Schlachtbank vorstellte und bereits die Altbierbowle in meinem Magen eine nachhaltige Übelkeit  bewirkte. Chuck, du warst lange weg, sagte ich und beendete so das Schweigen zwischen uns. Ja, sagte er, aber jetzt bin ich wieder da und weiß nicht, wo ich schlafen soll.
Es war nicht schwer, in meiner kleinen Wohnung zwischen Zooviertel und Fußgängerzone ein wenig Platz zu schaffen, um Chuck mit einem Schlafplatz zu versorgen. Außer einigen Büchern über Archäologie und einem Rucksack mit Wäsche und einer wetterfesten Jacke hatte er nichts bei sich, und war, als er bei mir wohnte, geradezu unsichtbar. Manchmal half er mir im Kiosk, Zeitungen und Magazine zu verstauen, Taschenflaschen aufzureihen und Müll zu entsorgen, dann war er wieder tagelang nicht zu sehen, strich umher, kam spät in der Nacht, fiel auf die Matratze und verließ früh das Haus. Er trank nichts, wenn er bei mir war, aber ich wusste, dass er sich unten am Fluss mit billigem Fusel zuschüttete, wenn er Lust darauf verspürte. Und doch ging er selten ohne Buch und wenn es regnete, war er vor allem darauf bedacht, seinen Lesestoff in schützende Plastiktüten einzuschlagen und sicher zu verstauen.
Über die Zeit an der Seite der schönen Studentin sprachen wir nie, nicht die leiseste Andeutung machte Chuck in diese Richtung. Er wohnte schon einige Wochen bei mir, als ich ihn fragte: Was meinst du, durch welchen Teil deines Lebens segelst du gerade?  Und Chuck sagte: Segeln, ja das trifft es. Ich bin auf der Reise und im Nirgendwo. Morgens weckt einen das Licht und abends kommt die Dunkelheit und flüstert: Schlafe. Sonst nur Wellen und Meer. Wo ist man da? Bald werde ich gehen, Karl, es dauert nicht mehr lang, du wirst sehen. Ich werde Schätze bergen, wo niemand es vermutet, ich schreibe dir.
Um mich abermals zu retten, sagte ich: Chuck, du brauchst mehr Ruhe. Du wirst noch völlig durchdrehen. Wenn du dich nicht etwas schonst, klappst du ab, du Wahnsinniger. Und dann sah ich sein spöttisches  Lächeln und hörte seine Worte: Durchdrehen, Abklappen, Wahnsinn, dabei verreise ich nur, alter Zeitungshändler.
Zwei Tage später war Chuck verschwunden. Eine Weile wartete ich noch auf eine Rückkehr, dann räumte ich sein bescheidenes Schlaflager zusammen und dachte kaum noch an ihn. Mehr noch, ich war erleichtert, meine Wohnung nicht mehr mit einem Verrückten wie Chuck teilen zu müssen.
Als der Herbst kam, verliebte ich mich in Marion, gab das Kiosk auf und zog in eine andere Stadt. Dorthin wurde mir irgendwann eine Postkarte aus Portugal nachgesendet mit der Felsenküste bei Sagres als Fotomotiv. Mühsam entzifferte ich: Lieber Karl, man glaubt es kaum, aber Heinrich der Seefahrer soll von hier aus in die Welt aufgebrochen sein. Wie immer bin ich einige Jahrhunderte zu spät. Aber was heißt das schon. Sechs Tage in der Woche fahre ich mit Fischern auf das Meer hinaus und hebe Schätze. Das Leben hält alles bereit, -  Chuck.
Ich sehe mich noch, wie ich die Karte auf die Pinnwand heftete und im trüben Dämmerlicht auf die Straße hinausging, die wie tot wirkte und menschenleer war. Es war mir ein Rätsel, warum Chucks hingekritzelte Worte wie Feuer in meiner Seele brannten. Aus einer Telefonzelle rief ich Marion an und sagte ihr, dass ich fort müsse. Sie erwiderte nichts, aber ich hörte ihren Atem. Dann legte ich auf und fuhr los.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Peter Kröger).
Der Beitrag wurde von Peter Kröger auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Peter Kröger als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

ALLES, NUR KEIN BESTSELLER - Ohne Dich ist die Welt anders von Michaela Barb



Marcus wartete auf eine Herztransplantation. Ein wunderbarer Mensch musste seine geliebte Welt mit nur 27 Jahren verlassen. Sein Tod durfte nicht umsonst gewesen sein.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Freundschaft" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Peter Kröger

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Das Werk von Peter Kröger (Leidenschaft)
FIBO,der kleine Elefant von Susanne Kobrow (Freundschaft)
Der Christbaum von Karl-Heinz Fricke (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen