Hans Werner

Eine Freundschaft

Eine Freundschaft

Erzählung von
Hans Werner


„Denn der Mensch liebt und ehrt den Menschen, solange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis.“

Thomas Mann: Tod in Venedig. – Frankfurt am Main, Fischer-Verlag, 1979. S. 47


Durch Zufall war Daniel Wortlieb wieder auf jene Novelle gestoßen, die er vor vielen Jahren als literarischer Pädagoge angehenden Abiturienten nahezubringen versucht hatte, mit teilweise nur mäßigem Erfolg, weil die anspruchsvolle Sprache jenes Dichters, der seine Sätze wortreich weit ausholen ließ, der Auffassungsgabe der meisten Eleven zu anstrengend war. Denn genaues Denken erfordert einen gewissen geistigen Atem, erfordert die Fähigkeit, näher- und fernerliegende Umstände zu berücksichtigen und sozusagen den eigenen Gedanken einzubetten in die vielfältigen Begleitaspekte, die ihn von mehreren Seiten eingrenzen und abwandeln. Wieder einmal also hatte er jene Novelle gelesen, und war erschüttert über den seelischen Verfall dieses würdigen Künstlers, der ein Leben lang mit so großer Selbstdisziplin seiner Kunst gedient hatte und sich in der unbestrittenen Achtung der ganzen europäischen Fachwelt sonnen konnte, wie es im Text heißt. Daniel Wortlieb war ergriffen von Aschenbachs Schicksal, von seiner überaus wachen und immer sprungbereiten Fähigkeit, sich in ein schönes Menschenkind zu verlieben und dieses Gefühl in sich derart heftig zu empfinden und in allen Entwicklungsstufen wachsen und gedeihen zu lassen. Und da stach ihm unter den kritischen Sätzen des erzählenden Autors jener Satz ins Auge, der wie eine Mahnung, ja wie eine Warnung zu verstehen war, nämlich dem eigenen Gefühl zu misstrauen, es kritisch zu hinterfragen und vor allem sich darüber Rechenschaft abzulegen, ob der Gegenstand der aufkommenden Zuneigung diese überhaupt verdiene. Und aus der weisen Rückschau seines vorgeschrittenen Alters war Daniel sehr geneigt, dem Urteil des Autors zuzustimmen, das dahin ging, eine persönliche Empfindung oder Herzensneigung, bevor man sich darauf einlasse, immer zuerst einer genauen Prüfung zu unterziehen und sich zu fragen, ob bei der umworbenen Person dieser Gefühlsaufwand überhaupt angebracht sei.

Indem er diesem Gedanken nachhing, dachte er unwillkürlich an sein eigenes Leben zurück und blätterte in dem Erinnerungsbuch, das jahrzehntedick in seinem Gedächtnis aufbewahrt vorlag, und zu dem er jeder Zeit Zugriff hatte, wenn ihn auch nur danach gelüstete. Im Grauschleier ferner Erinnerung sah er sich als schwärmerischen Jüngling von 18 Jahren, der in einer kleinen Lateinklasse unter dem Dachboden des uralten Schulgebäudes viele Stunden emsigen Lernens zubrachte und dabei lange Phasen inneren Sehnens erlebte. Wie Wortlieb daran zurückdachte, erschauerte er vor Ergriffenheit vor diesem jungen Menschen, der er selbst einst gewesen war und der zu so heftigen Empfindungen fähig gewesen sein musste. Denn er war damals schwärmerisch und durchdrungen von einer allgewaltigen Sehnsucht nach freundschaftlicher Nähe. Vielleicht waren es literarische Erlebnisse, Gedichte von Schiller oder frühreif empfundene Novellen von Thomas Mann, wie Tonio Kröger, die dem jungen Daniel eine heftige Sehnsucht nach freundschaftlicher Begegnung und seelischer Vereinigung einflößten. Eigentlich befand er sich ja schon in dem Alter, in dem sich Klassenkameraden erste Freundinnen anlachten und auf diesem Feld der körperlichen Polarität eine einfache und unkomplizierte Befriedigung fanden. Aber Daniel war in einem streng konservativen Familienkreise aufgewachsen, wohl bewacht und behütet von einer sorgsamen Mutter, die das Beste für ihren Sohn wollte und allzu ängstlich befürchtete, ein frühreifes Abenteuer mit einem Mädchen könnte ihren über alles geliebten Daniel in ein nicht wiedergutzumachendes Unglück stürzen. Wie dem auch sei, Daniel empfand eine überstarke Sehnsucht nach menschlicher Nähe und nach freundschaftlicher Sympathie zu Gleichaltrigen. Wohl hatte er den Unterschied zwischen Freundschaftsgefühlen unter Jungen und solchen unter Jungen und Mädchen noch gar nicht begriffen. Jungen und Mädchen konnten miteinander gehen und ihre Beziehung schien allein dadurch gerechtfertigt, dass man vor sich und den andern sagen konnte, man habe eine begehrenswerte Freundin gefunden. Man konnte ausgehen, miteinander schöne Dinge unternehmen, und all das war allein dadurch schon gerechtfertigt, dass es mit einem reizvollen Mädchen geschah, zu dem man sich erotisch hingezogen fühlte. Wie aber sollte man als Junge eine Sympathie zu einem anderen Jungen im Alltag verwirklichen, welche konkreten Freizeitaktivitäten boten sich da an, die dem Ideal einer solchen Freundschaft gerecht werden konnten? Das natürliche Terrain für eine solche Verwirklichung wäre der Sport gewesen, das unkomplizierte Vergnügen junger Menschen, einem Ball nachzurennen, und sich dabei nicht zu scheuen, sich massiv anzurempeln und anfeuernde Schreie über den ganzen Sportplatz auszustoßen. Aus der späten Rückschau musste sich Daniel wohl eingestehen, dass er ein zu verzärtelter Knabe war, dass er einfach Angst hatte vor einem mit Wucht daherfliegenden Ball, der ihn wie eine Kanonenkugel hätte treffen können. Und aus der Rückschau wurde ihm klar, dass er, so verzärtelt und ängstlich, wie er damals war, nicht unbedingt ein begehrenswerter Partner für eine Jungenfreundschaft abgegeben hatte.

Was sollte er nun damals als vereinzelter Schüler tun? Er fühlte sich auf grausame Weise allein. Die Nachmittage nach den Hausaufgaben waren lang, entsetzlich lang, und immer nur für sich allein lesen oder Sammlungen anlegen wollte er auch nicht. Er sehnte sich wie jeder normal veranlage Mensch nach Gemeinschaft. Allein schon die Erwartung eines Freundes, eines Klassenkameraden, den er für den Nachmittag eingeladen hatte, stürzte ihn in eine jubelnde Woge inneren Glücks. Dann stand er am Fenster und hielt Ausschau nach seinem geladenen Gast und wartete oben an der Treppe, betätigte den Türöffner und sah mit einem inneren Anflug seelischer Wärme seinen Freund heraufkommen.

In dieser schwierigen Zeit krisenhafter Einsamkeitsgefühle fiel sein Auge auf einen jungen Mitschüler, der allein durch seine Körperbeschaffenheit die Aufmerksamkeit aller anderen erregen musste. Nicht nur trug er einen Vornamen, der in die sagenumwobene Welt germanischer Recken verwies - er hieß Wieland wie einst der Schmied - sondern er besaß auch eine ansehnliche Gestalt, die sich im turnerischen Dress sehr vorteilhaft darstellte. Welchen Teufel hatte Daniel geritten, sich gerade diesem Wieland zu nähern! Er hätte doch wissen müssen, dass es zwischen ihm, seiner eigenen eher geistigen Interessenssphäre und diesem Wieland kaum Schnittmengen geben würde. Aber da fügte es sich auf seltsame Weise, dass Wieland auf Daniel zukam und ihn bat, ihm bei der Hausaufgabe, einer literarischen Interpretationsaufgabe in Deutsch, behilflich zu sein. Ein Gedicht von Eichendorff war zu interpretieren, und diese Art der gedanklichen Beschäftigung war Wieland gänzlich fremd und ungewohnt. Hätte er auch nur ein Ohr für die Gedanken gehabt, welche der Deutschlehrer, ein wortreicher und strammer Mann, im Unterricht so vielseitig kundtat, ihm wäre es ein Leichtes gewesen, ein paar dieser Ideen zu einem Konglomerat zusammenzufügen, das als Deutung dieses einfachen Eichendorff-Gedichtes getaugt hätte. Aber dieses innere Ohr fehlte ihm, und so stand er vor dieser Aufgabe hilflos da wie ein Kind. Für Daniel indessen war es überhaupt kein Problem, aus dem Stegreif einige Gedanken zu diesem Gedicht zu diktieren, sodass Wieland, wie ein eifriger Schüler, über das Pult gebeugt, demütig und willfährig Wort für Wort notierte, was ihm Daniel eingab. „Mensch, bist Du gescheit!“, sagte er dann, nach dieser kleinen Nachhilfe, welche vielleicht insgesamt höchstens eine halbe Stunde gedauert hatte. „Kein Problem, Wieland, ich helfe dir gerne“, erwiderte Daniel.

Es war eine seltsame Situation, als Wieland vor der ersten Bankreihe stand, und unter den verwunderten Blicken seiner Klassenkameraden und unter der scharfen Beobachtung des Deutschlehrers seine Interpretation vorlas, die ja eigentlich von Daniel stammte. Als er mit Lesen fertig war, fragte ihn der Lehrer: „Wieland, hast Du das allein gemacht?“ „Ja“, log Wieland mit fester Stimme, trotzig vor sich hin sehend. Danach wurde ihm eine gute Note gegeben und derartig belobigt und ausgezeichnet ging er an seinen Platz zurück. Hinterher in der Pause umringten ihn die andern und einer sagte zu ihm: “Also weißt Du, du hättest schon zugeben können, dass dir jemand dabei geholfen hat“, und dabei blickte der Sprecher auf mich. In dem Moment fühlte Daniel, dass die andern begriffen hatten, dass es zwischen ihm und Wieland so etwas wie ein geheimes Band gab und dass er im Begriffe war, mit starken Empfindungen eine Art Freundschaft aufzubauen. Dabei wogte in ihm eine heiße Glutwelle von Empfindungen.

Von diesem Tag an war zwischen Daniel und Wieland nichts mehr so wie früher. Ihm schien, als sei ihre Beziehung aus der Gleichgültigkeit, welche sonst zwischen jungen Menschen herrschte, herausgehoben und von irgendeiner unsichtbaren Macht ausgezeichnet, ja geadelt worden. So begann Daniel Wieland zu betrachten, mit jenem alles umfassenden Interesse, das einen Menschen ausfüllt, der sich mit wachsender Sympathie einem ganz bestimmten Andern zuwendet. Zum ersten Mal schaute er in die wasserblauen Augen Wielands und bemerkte dessen Eigenart, versonnen ins Weite zu blicken. Irgendwie schien ihm der Ausdruck dieser Augen von undurchdringlicher Tiefe, von einer Unerforschbarkeit, die ihn tief berührte. Wielands Haupt war von blondem Lockenhaar leicht umringelt, auf seiner sonst makellosen Gesichtshaut wuchsen ein paar vereinzelte Sommersprossen. Seine Arme, die er sommers unter dem kurzärmligen Hemd frei zur Schau stellte, besaßen ausgeprägte Bizeps-Muskeln. Bald hatte Daniel in Erfahrung gebracht, dass Wieland regelmäßig in der Athleten-Halle mit schweren Hanteln trainierte und vorzugsweise mageres Fleisch aß, um seine Muskeln aufzubauen.

Obwohl Daniel damals noch keine Ahnung davon hatte, dass es Menschen gab, die in ihrer Geschlechtsempfindung „anders herum“ gestrickt waren und ihm auch gar nie in den Sinn gekommen wäre, irgendeine körperliche Annäherung an einen männlichen Freund zu ersehnen oder gar sexuell zu verwirklichen, musste er doch an sich erfahren, dass ihn dieser Wieland wie ein junger griechischer Götterbote faszinierte und durch seine Ausstrahlung eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn ausübte. Insbesondere aber fühlte er sich von den kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen nun Wieland immer öfter seine Nähe suchte, ausgezeichnet und in hohem Maße beglückt. Zum Beispiel entwickelte sich die Gewohnheit, dass die beiden in der großen Pause, welche immerhin eine Viertel Stunde dauerte, miteinander, unter Ausschluss aller übrigen Kameraden, zusammen gingen, und zwar den Weg um das Schulgebäude herum, immer wieder von vorn und zurück, und immer wieder von vorn beginnend. Eigentlich war es nicht so, dass sie dabei vieles zu bereden gehabt hätten, aber Daniel fühlte sich beschwingt in dem Gefühl, dass er nicht mehr alleine war und sich nicht in bestehende Gesprächsgrüppchen eingliedern musste. Andere Mitschüler, allen voran der Arztsohn Martin, der unter der Schülerschaft aus höheren Bürgerschichten eine gewisse Oberhoheit innehatte, wurden auf das seltsame Freundespaar aufmerksam und feuerten sie mit überschwänglichen, ironischen Armbewegungen an, noch schneller zu gehen. Daniel sah es wohl, fühlte sich aber nicht verspottet, sondern beinah geehrt. Bei sich dachte er: nun seht doch alle her, auch ich habe jemand, der meine Nähe sucht und dem ich wie ein wahrer Freund zugehöre.

Damals hatte Daniel noch keinen Einblick in die wahren Zusammenhänge der gesellschaftlichen Bindekräfte, vor allem war ihm nicht deutlich, wie sogar schon unter Schülern das Bewusstsein, einer höheren Schicht anzugehören, einen stark bindenden Kitt abgab und die Söhne der Rechtsanwälte, der Ärzte oder Fabrikantenfamilien mit einem unsichtbaren Band aneinander kettete und von den übrigen abschottete. Diese gesellschaftlichen Bindekräfte, unsichtbar wirkend, wurden Daniel nur manchmal erkennbar, wenn er gewahr wurde, dass Partys oder andere Lustbarkeiten unter den Klassenkameraden vereinbart wurden und dabei eben diese Mitschüler aus besseren Kreisen die Hauptrollen spielten. Manchmal indessen konnte es geschehen, dass auch andere, auf Grund ihres intellektuellen Status, ausnahmsweise Zugang erhielten und sozusagen als Feigenblatt die vorgebliche Offenheit solcher Zirkel belegen sollten. Er selbst glaubte an die herzliche und ehrliche Sympathie Wielands und freute sich, mit der ganzen Kraft seiner Seele, auf alle Begegnungen mit ihm.

Einmal griff er sogar zur poetischen Feder und tippte ein Gedicht in die Schreibmaschine, es waren Verse in daktylischem Metrum, und Daniel skandierte seine Verse und freute sich an dem rhythmischen Walzertakt, der den Worten eine gewisse Geschmeidigkeit gab. Ansonsten, was den inhaltlichen Wert und die stilistische Ausdrucksweise anbelangte, handelte es sich bei diesen Versen fraglos um einen völlig ungenießbaren Kitsch, es waren typische Pennäler-Verse, wie sie gewöhnlicher und wertloser nicht hätten sein können. Aber sie waren voll ehrlicher Empfindung. Und mit klopfendem Herzen harrte Daniel auf die erste Begegnung mit Wieland, nachdem er ihm seine Verse hatte zukommen lassen.

Während der alte Daniel diese Erinnerungen niederschrieb, fiel es ihm plötzlich ein, in einem alten Ordner, der Manuskripte aus seiner Schul- und Studienzeit enthielt, nachzusehen, ob er vielleicht dieses seltsame lyrische Erzeugnis noch vorfinden würde. Und nach längerem Suchen, bei dem ihm sonst noch allerlei gefühlsschwangere Verse in die Hände fielen und er sich immer wieder kopfschüttelnd sagte: was warst du doch für ein einfältig sensibler Mensch!, fand er tatsächlich das betreffende Blatt und las es durch, nicht ohne innere Erschütterung. Der Vollständigkeit halber fügte er dieses Gedicht hier ein, ohne auch nur die geringste Änderung am Text vorzunehmen.

Literarische Klassenarbeit
Ausschnitt aus dem Drama : "Wieland der Schmied" von Gottfried von Straßburg:

Wieland, Du bist stets bewußt Deiner Pflichten,
Fleiß, Energie sich in Dir immer paaren,
Doch soll der Mensch nicht nur pauken in Schichten,
Sonst ihm entgehen die schönsten der Jahre.

Hat doch das Schicksal Dir hart mitgespielet,
Bist' unverdrossen Du immer gewesen:
Während die anderen Fußball gespielet,
Hast Du wohl eisern den Cäsar gelesen.

Wieland» ich weiß wohl» Dich ärgert die Note?
Wenn aus dem Fleiß so manch schlechte Frucht sprießt,
Daß bei der Arbeit die Leistungsquote
Nicht in ganz andere Höhen doch schießt.

Wieland, Dein Freund will Dir sagen nur dieses:
Wer in der Welt etwas Rechts will vollbringen,
Der braucht nicht Kenntnis des Nördlinger Rieses.
Er wird auch ohne dies Großes erschwingen.

Dir soll'n die schlechten und holprigen Zeilen
Nur so ein wenig zur Tröstung gereichen.
Wohl weiß ich, daß Du nicht träg wirst verweilen,
Nie kann ja Leichtsinn ein solch Herz erweichen!

Frage: Untersuche das Versschema! Wo hat der Dichter das Vers¬schema durchbrochen? Warum gebraucht der Dichter in der letzten Zeile das Wort "Leichtsinn"?

Beim Überlesen des Textes musste er nach so vielen Jahren lächeln, zum einen über die epische List, die der junge Daniel damals gebrauchte, um den Text als Klassenarbeit sachlich zu verkaufen, und zum andern über die Anspielungen auf Wielands Enttäuschungen, wenn dieser trotz emsigen Lernens nur schlechte Noten erhielt. Und Daniel erkannte, dass ihm damals der eigentliche Lebenskonflikt, der wohl in Wieland wütete, durchaus ahnungsweise bewusst war.

Natürlich sieht ein Mensch, der einem andern eine lyrische Gabe verehrt hat, mit Zittern und Bangen der ersten Begegnung und der Reaktion des Adressaten entgegen. Auch heute noch, als Daniel seine Rückschau auf jene Zeit hielt, war ihm diese Situation in allen Einzelheiten gegenwärtig. Es begab sich auf dem Sportplatz, vermutlich war irgendeine Massenveranstaltung im Gange, Bundesjugendspiele oder ähnliches, als Daniel in seiner Turnhose auf dem Rasen lag und Wieland sozusagen von unten, aus der Froschperspektive, ihm entgegenkommen sah. So von unten gesehen wirkte dieser überlebensgroß, und seine starken muskulösen Beine, die unter dem sehr kurzen modisch geschnittenen Sportdress, das Wieland trug, in voller Länge und Größe ihm entgegen schritten, waren machtvoll anzusehen wie die Beine des antiken Herkules. Wieland sagte sofort zu Daniel: „Das ist wahr, was du geschrieben hast.“ Auf der einen Seite jubelte es in Daniel wegen dieser Anerkennung, aber insgeheim fühlte er doch ganz leise eine innere Enttäuschung, denn Wieland kam mit keinem Wort auf die eigentlichen Gedanken des Gedichts zu sprechen. Daniel hatte den Verdacht, dass Wieland den Text überhaupt nicht verstanden hatte, dass er ihm zu kompliziert war und er deshalb auch nicht gewillt war, weiter darüber nachzudenken.

Wie sehr sich nun die Sympathien Daniels seinem vermeintlichen Freunde zuwandten, umso mehr beschäftigte er sich auch mit dem übrigen persönlichen Umfeld dieses Jungen. Dieser stammte aus einer Lehrerfamilie, die vor nicht allzu langer Zeit aus der ehemaligen DDR in den Westen herübergekommen war und in einem großen Mietshaus an der Alten Steige wohnte. Wieland hatte noch eine Schwester, Gudrun, die ein Jahr älter war und deren schulischen Erfolge sich an der Schule ruhmreich verbreiteten. In Französisch, hieß es, habe sie bei dem gefürchteten Lehrer Bopp schon Dreien geschafft. Das war eine unglaubliche Sensation. Denn man muss wissen, dass die beiden Kinder in ihrer ehemaligen Schule der DDR natürlich andere Lehrstoffe unterrichtet bekamen und dann nach ihrer Übersiedlung nach Baden-Württemberg viele Dinge aufholen mussten, zum Beispiel die Kenntnisse in Französisch, die sie von ihrer bisherigen Schule nicht mitbrachten. Das Russisch, welches sie dort gelernt hatten, war ja nun hier nicht mehr gefragt. Und vielleicht waren sie auch in manchen anderen Fachrichtungen nicht auf derselben wissenschaftlichen Höhe wie die Schüler im Westen, denn, so sagte sich Daniel, unter den herrschenden politischen Verhältnissen dort, wurde vermutlich viel Zeit mit staatsbürgerlicher Erziehung und Meinungsbildung verbraucht, die dann natürlich an anderen Stellen fehlte. Lediglich in den Naturwissenschaften schien Wieland Kenntnisse zu besitzen, die umfassender und fundierter waren als die seiner neuen Kameraden. In Biologie zum Beispiel konnte er viele Pflanzen mit Namen benennen und gerade das war Daniels Schwachpunkt. Als der Biologielehrer eines Tages mit einer Handvoll Wiesenblumen in die Klasse kam und verlangte, diese Blumen zu bestimmen, versagte er gänzlich, während Wieland alle Namen fraglos wusste. Darauf beschloss Daniel, seinen neuen Freund zu einem privaten Lehrgang durch Feld, Wald und Wiesen einzuladen. Und tatsächlich marschierten sie an einem schönen Nachmittag durch den heimischen Wald und bestimmten Blumen und Gräser, Rohrkolben, Pfeifengras, Pippau, Wegewarte, Bärenklau und Wiesenkerbel und was es sonst noch gab. Aber mit einer kleinen Hellhörigkeit begann Daniel schon zu fühlen, dass es dieser Beziehung an tragfähigem geistigem Inhalt mangelte, denn allzu dürftig schienen die gemeinsamen Interessen und das Sprechen versandete deshalb oft in langem Schweigen. Was ist Freundschaft, dachte Daniel, worin besteht sie im Eigentlichen? Reicht die gegenseitige Sympathie aus, das Gefallen am anderen Menschen, so wie er sich äußerlich darstellt und in seinem Verhalten auftritt, oder sind konkrete Inhalte einer Zeitgestaltung nötig, die beide Partner mit Befriedigung erfüllen? Wie leicht hatten es da die Buben, welche im gemeinsamen Spiel, im Sport, sich ohne Probleme gegenseitig ermunterten und im Wettkampf Lebensfreude und gesteigertes Glück gewinnen konnten.

Daniel bemerkte auch, wohl zu seinem Entsetzen, dass die schulischen Leistungen Wielands in vielen Fächern zu wünschen übrig ließen. Manchmal versteckte er vor ihm das Aufsatzheft, wenn eine literarische Arbeit oder eine Erörterung herausgegeben wurde, und dann erbot sich Daniel, mit ihm solche Themen, wie sie im Deutschaufsatz verlangt wurden, gemeinsam vorzubereiten und den gedanklichen Aufbau solcher Arbeiten zu trainieren. Aber dann war es merkwürdig, wie zurückhaltend Wieland auf dieses Angebot reagierte. Man konnte nicht recht ergründen, ob er sich schämte und deshalb gedankliche Nachhilfe von Seiten Daniels einfach nicht wünschte, oder ob andere Gründe für seine Weigerung maßgeblich waren. Jedenfalls hatte ihn Daniel einmal für einen Nachmittag eingeladen und erwartete ihn mit der ihm damals eigenen schwärmerischen Sehnsucht. Leider musste er erfahren, dass sein Freund ihn versetzte und einfach, so mir nichts dir nichts, nicht kam. Von einer Tante, die ebenfalls in jenem Mietshaus wohnte, erfuhr er später, dass sie den Jungen gesehen hätte, wie er im Freien Holz hackte, und ihn darauf angesprochen habe, weil sie wusste, dass Daniel auf ihn wartete. Aber Wieland musste sich unwillig abgewandt haben und schien von dieser Mahnung nichts wissen zu wollen. Nur wer sich in die hochsensible Psyche Daniels hineinversetzen konnte, konnte erahnen, in welche Abgründe von grausamem Schmerz und bohrender Seelenqual er durch diese Enttäuschung gestürzt wurde.

Schließlich kam es zu einer Begegnung, die Daniel gründlich über den wahren Charakter dieser vermeintlichen Freundschaft die Augen öffnen sollte. Oft saß Daniel auf einer Sitzbank hinter dem Ehrenmal für die Opfer des Naziregimes vor dem Eingang zum Schulhof und wartete auf Wieland. Schließlich sah er ihn kommen, Hand in Hand mit einem um zwei bis drei Jahre jüngeren Mädchen, das kaum die 15 überschritten haben durfte. Er kannte sie zufällig, es war Tanja aus der 5A - damals zählte man die Klassenstufen noch von eins anfangend bis zur neunten, der Oberprima. Wieland hielt mit seiner Hand das zarte Händchen des Mädchens kräftig umfasst, wie ein Schraubstock. Es war schon seltsam, wie er mit diesem Mädchen an Daniel vorüberging, ohne ihn zu beachten. Sollte er sich seiner Freundschaft mit Daniel vor dem Mädchen schämen? Verzehrende Gedanken und Seelenzweifel kamen in Daniel hoch. Nach geringer Zeit von vielleicht einer viertel Stunde kam Wieland aus der Schule, wohin er das Mädchen begleitet hatte, zurück und ließ sich neben Daniel nieder. „Warum gibst du mir keinen Gruß?“, fragte dieser. „Weißt du, Daniel, in diesem Punkte sind wir verschieden.“ „Ja, aber du kannst mir doch deine Freundin vorstellen.“ „Nein, das geht nicht.“ „Wieso?“ „Weil sie es nicht verstehen würde. Mädchen sind gleich eifersüchtig und lassen keine Beziehung neben sich gelten.“ Daniel verstummte nach diesen Worten. Er litt unter bitterem Gram und musste sich anstrengen, aufkommende Tränen zurückzuhalten. An diesem Tage machten sie in der großen Pause nicht den üblichen Rundgang um das Schulgebäude. Wieland war für Daniel unauffindbar und er selbst hatte sich in eine Ecke verdrückt, um nicht zum Gespött der anderen, der gesellschaftlich betuchten Herrensöhnchen, zu werden.
Nur ein Mensch, der sich vorstellen kann, wie radikal und absolut Daniel den Wert der Freundschaft auffasste, kann sich in das namenlose Leid, in den verzehrenden Gram hineinversetzen, die ihn seit jenem Vormittag plagten. Er fand keine innere Ruhe, denn ihm wurde nun bewusst, wie sehr er sich in all seinen Vorstellungen einer glücklichen Freizeit schon an die Gestalt des Freundes gebunden hatte. Ohne ihn schien ihm alles so leer, so öde, so trostlos. Außerdem musste er wissen, warum sich Wieland so seltsam verhalten hatte, als er mit Tanja an ihm vorüberging, ohne ihn zu beachten.

Schon am folgenden Tage sollte sich das Rätsel lösen. Er hatte den ganzen Vormittag Wieland gemieden, obwohl dieser im gleichen, kleinen Klassenzimmer mit ihm stundenlang zusammen war. Aber zwischen ihnen herrschte eisige Kälte. Vielleicht war es auch Angst auf beiden Seiten. In Daniel indessen meldete sich jene andere Eigenschaft zu Wort, die neben seiner schwärmerischen Sehnsucht auch eine wesentliche Komponente seines Ichs ausmachte, nämlich sein Stolz, sein Ehrgefühl, das Bewusstsein seines eigenen Wertes. Immerhin war er seit vielen Jahren Klassenprimus, in allen Leistungen, vor allem den sprachlichen und künstlerischen, allen andern voran der Erste. Und dieses Bewusstsein kam in ihm jetzt mit Macht zur Geltung und erinnerte ihn an seine eigene Würde, die er nicht missachtet wissen wollte. Und so mied er Wieland, schenkte ihm keinen Gruß und keinen Blick. Und vermutlich machte es dieser auf der anderen Seite genauso.

Es war in der großen Pause, als Tanja ihn auf dem Schulhof plötzlich zur Rede stellte. Sie stand vor ihm mit flammenden Augen und redete ihn, ohne jegliche Einleitung, sehr direkt an. „Lass Du von meinem Freund. Ich mag es nicht, wenn Du mit ihm zusammen bist.“ „Und warum, wenn man fragen darf?“ Tanja funkelte ihn mit einem Blick an, der ihn, wäre er ein Geschoss gewesen, hätte töten können. „Meine Freundinnen sagten mir gestern, sie hätten mehr von mir erwartet, als dass ich mit einem Schwulen gehe.“ „Mit einem Schwulen? Du spinnst wohl“, erwiderte Daniel, nun selbst auch sehr aufgebracht. „Ja, jeden Tag spaziert ihr Händchen haltend ums Schulhaus. Wer weiß, was ihr in verborgenen Winkeln treibt.“ Bei der Gelegenheit fiel Daniel ein, dass er und Wieland sich manchmal tatsächlich an den Händen gefasst hielten und er selbst mit großer Ergriffenheit diese Geste der Zuwendung entgegengenommen hatte. Nie kam ihm in Sinn, dass man es so auslegen konnte. Er verstummte, sprachlos, und sah Tanja entgeistert an. Sie indessen fuhr fort: „Und weißt Du überhaupt, warum Wieland Deine Nähe sucht und diese sogenannte Freundschaft vor der ganzen Schule zur Schau stellt? Du weißt gut, dass er nur mit Ach und Krach durchkommt und überall zu kratzen hat. Und da erhofft er sich, dass ihm der sichtbare Umgang mit Dir, der Du ja bei den Paukern eine große Nummer schiebst, Pluspunkte einbringen könnte. Du bist für ihn ein Aushängeschild, ein Freundschaftsmäntelchen, mit dem er aller Welt zeigen kann: seht, so tolle Kameraden bilden meinen Umgang. Er hofft, dass die Sonne Deines Ruhms auch für ihn einige Strahlen abwerfen könnte.“ Tanja hatte sich in hitziges Feuer geredet. Ihre Stimme war laut geworden, und andere umstehende Schüler verfolgten die Szene aufmerksam, verwundert und ein bisschen belustigt. Dann setzte sie noch nach: „Und dass du mit deiner ganzen Gescheitheit so blöd bist und das nicht merkst! Du bist doch bei allem der dümmste Tropf, den ich kennengelernt habe.“ Dann wandte sie sich von Daniel ab und ließ ihn stehen.

Daniel ging nach der Schule mit verweinten Augen heim, und seine Mutter, vor der er sonst seine seelischen Empfindungen schamhaft verbarg, fragte ihn behutsam aus und begriff mit jener Hellsichtigkeit, deren Frauen fähig sind, sofort die Ursachen seines Leidens. Dann sagte sie, mit fester Stimme: „Werde etwas kühler in Deinen Schwärmereien. Du musst ein Mann werden, der die Menschen prüft, ob sie die eigene Freundschaft verdienen. Und vor allem, halte Deine Empfindungen im Zaum, werde nicht so abhängig von ihnen.“ Dann, als Daniel kleinlaut vor ihr saß und nichts darauf erwiderte, fügte sie mild und versöhnlich hinzu: „Ach, wie du mir gleichst, du guter Daniel, mein lieber Sohn! Wenn du wüsstest, was ich selbst alles durchgemacht habe.“

Daniel Wortlieb legte die Feder bei Seite und prüfte sein Herz, sein altes von Empfindungen verschiedenster Art abgegriffenes und verbrauchtes Herz. Dann sagte er sich: trotzdem war alles gut. Und er blickte schräg zum Kruzifix empor, das klein und unauffällig im Zimmerwinkel hing, und lächelte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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