Peter Kröger

Der Sumpf



Ich mag diese Stadt nicht, dieses Sammelbecken für Gauner und Verrückte. Seit ich von meinem Hausarzt, dem ansonsten leidlich patenten Dr. Bruns aus der Schlossstraße wegen meiner flattrigen Nerven zu einer Psychotherapie verdonnert worden bin, kämpfe ich an drei Fronten und würde am liebsten abhauen aus diesem Berlin, das ohnehin in den letzten Jahren meiner Beobachtung nach stark nachgelassen hat.
Zunächst mal ist da Cordula, sehr anstrengend, seit zwei Jahren mein Goldstück, meine Sonne, die Frau an meiner Seite. Die Aktive nenne ich sie auch, Konzert hier, Kino dort und morgen auf die Kinder der Nachbarin aufpassen, die sich mit irgendeinem trifft, der was sein könnte, der in Frage käme, wunderbar, und Saskia und Lynn tanzen uns dafür nachts auf der Nase rum, ein Erlebnis der besonderen Art, keine Kinder haben heißt aufpassen müssen.
Und morgens früh mit dicken Augen in die Taxe, die Schicht ruft, wer steht an der Halte, klar, das bin ich, Funkauftrag Schiller einhundertirgendwas, alles klar, und Schiller einhundertirgendwas zeigt mir ihr offenes Bein und sagt: Oder soll ick mir den Arzt schenken, Herr Taxifahrer, so schlimm isset doch ooch nich, wa? Und ich denke, dann lieber Saskia und Lynn, die Cordula bestimmt schon in den Kindergarten gebracht hat, weil die Nachbarin sich den Fisch an Land gezogen hat oder einfach nur ausschlafen will.
Gut, versuchen wir es mit der winkenden Dame da vorn, wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zu Frauen, die erste Frage, die sie stellt, noch bevor sie das Fahrtziel ansagt, man soll den Teufel ja nicht an die Wand malen, aber das Ding wird ins Auge gehen, die Gute ist weit jenseits aller Friedenstauglichkeit, die Promille brodeln, am Reuter werde ich angeschrien, am Zoo fliegt sie raus, ich befürchte, weiter wollte sie sowieso nicht, auf Geld verzichte ich aus taktischen Gründen, nicht mein Tag, aber wann ist mein Tag, und um dreizehn Uhr Frau Heubner-Alberti, auch kein reines Zuckerschlecken, aber es entwickelt sich von Sitzung zu Sitzung, mal sehen, was sie auf Lager hat, wie geht es Ihnen, Herr Kuschnerus, wie soll es mir gehen, so mittel, aber Witze versteht sie nicht, oder in ihren Lehrbüchern steht, was für ein Gesicht sie wann zu machen hat und wie man Abschweifungen vermeidet oder zulässt, jedenfalls immer am Ball bleibt, um den Patienten gekonnt in den Schwitzkasten zu nehmen.
Aber manchmal gibt sie mir einfach Schnur, und ich vergesse alles, was mich vom Reden abhalten könnte und erzähle, was mir gerade so einfällt, und dann sagt sie gelegentlich Sachen wie wenn ich Sie recht verstehe oder ich fasse zusammen oder ich gebe zu bedenken und ich nutze die Zeit zum Luftholen.
Anschließend wieder ein paar Herzchen kutschieren, und kaum zuhause fragt mich Cordula, wie es war und meint selbstredend das Ringen mit Heubner-Alberti. Statt auf diese ewig gleiche Frage am Mittwoch gegen neunzehn Uhr zu antworten, stelle ich mutig selbst mal eine Frage. Cordula, formuliere ich bedeutungsschwanger, was meinst du, wie ist mein Verhältnis zu Frauen? Und dann ist gleich wieder Feststimmung, wie ich es nenne, wenn der Haussegen schief hängt, denn Cordula fragt zurück, was das jetzt eigentlich für eine Fragetechnik sei bei der Heuler-Alberti, wie sie sie nennt, und dann sage ich Heubner, und dann sagt sie: Das is doch sowas von egal, Harald. Wenn ich dann Sicher, Mordula! sage, kann ich einpacken, zu polemisch, so sind die Regeln.
Ich sage es trotzdem und muss im Gästezimmer schlafen und zwar auf dem Klappbett. Denn Saskia und Lynn sind immer noch bei uns und balgen sich bis Mitternacht im  Bett direkt neben mir. Die Nachbarin hat verlängert.
Deshalb mag ich diese Stadt nicht. Irgendwas ist immer, hat mal jemand gesagt, und damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich kann es nicht mehr hören, das Gefasel vom pulsierenden Leben in der Metropole, grässlich, am besten: die Identität der Kieze, dieses ganze Gewürge, grauenhaft.
Meine drei Fronten. Taxi, Cordula, Heubner-Alberti. Ich könnte Bruns, Lynn und Saskia und die Nachbarin dazurechnen. Eine feine Metropole. Aber was nützt das ganze Lamentieren? Mein Freund Mitch aus dem Gartenhaus sagt, dass Menschen wie wir nicht für ein einfaches, unkompliziertes Leben geschaffen sind, mehr noch, dass wir vom ständigen Tohuwabohu leben und in der Kleinstadt oder auf dem Dorf eingehen würden wie Lynns rosa Meerschweinchen oder Saskias goldgelber Sittich.
Aber Mitch hat gut reden. Sein Leben ist einfach und unkompliziert. Vielleicht fliegen ihm deshalb die Frauenherzen zu wie Cordulas Fuchsien die Spinnmilben. Er bezieht eine kleine Rente wegen irgendwelcher Berufsunfähigkeitsgeschichten und macht Barmusik in exklusiven Hotels und Clubs. Und manchmal hängt er ab bei mir, wenn Cordula beim Malkurs ist und die nächste Sitzung bei Frau Heubner-Alberti noch weit. Dann reden wir über die Welt und was uns bewegt, und ich sage, nur um etwas zu sagen: In Rosenheim müsste man wohnen. Darauf hat Mitch gewartet, und er legt los: Du spinnst, Harald, Rosenheim, und dann? Wenn dir nach Kaff zumute ist, fahr nach Frohnau oder Kladow mit der S-Bahn, und du bist geheilt.
Ist er in Stimmung, setzt er sogar noch einen drauf und behauptet frech, dass das Taxifahren mir, Harrycane, wie er mich nennt, inneren Halt gibt. Cordula nennt er einen Fels in der Brandung für mich und die Therapeutin beschreibt er als Mensch, der mir hilft, mich dem Leben zu stellen, wenn mir der Flattermann wieder in die Glieder fährt und mich niederdrücken will. Ich frage: Warum erzählst du mir das, Mitch?, und Mitch grinst, schweigt und zermalmt mit seinen gelben Zähnen Unmengen von Chips mit Balsamicogeschmack, die ich immer vorrätig habe. Wahrscheinlich denkt er in solchen Momenten an seine Musik, an schöne Frauen an der Bar mit geheimnisvoll schimmernden Cocktailgläsern und den Glücksfall eines Lebens in Freiheit.
Mitch gehört in die Stadt, das ist wahr, aber selbst seine Kreativität ist geordnet, Tohuwabohu bin nur ich, zum Beispiel, wenn ich an offene Beine denke oder Cordulas bohrende Fragen zur Therapie, ihren permanenten Versprecher, wenn sie Heubner sagen will, aber sie will ja gar nicht, Gott weiß warum.
Es ist nicht so, dass ich voll auf Frau Heubner-Alberti oder ihre lapidaren, dann wieder sehr sperrigen Fragen abfahre, aber Mittwoch, dreizehn Uhr, ist für mich mittlerweile gleichbedeutend mit, sagen wir, einer Bootsfahrt von Wannsee nach Tegel bei passablem Wetter. Heubi, sage ich im Geiste fast täglich, Heubi ist gar nicht so verkehrt. Sie müht sich und bringt Menschen von A nach B, dann werde ich vertraulich, Heubilein, meine Nerven flattern, aber bei dir auf dem weißen Ledersofa komme ich zur Ruhe und kann mit deiner Hilfe den Flattermann in seine Einzelteile zerlegen, sodass ich mich fast auflöse vor deinen Augen. Aber das ist mein kleines Geheimnis, wie man so sagt, noch nicht mal Mitch gegenüber habe ich eine Andeutung  in diese Richtung gemacht, vor Lachen würde er mit einem Viertelbeutel Chips im Mund ersticken. Und Cordula würde aus dem Alberti das –erti streichen oder so etwas, und Lynn und Saskia würden mich hassen, weil Cordula mich hasst.
Umso mehr staune ich jetzt, gerade zwei Stunden ist es her, als ich, gemächlich in meinen neuen federnden Laufschuhen dahintrabend, die Ruhlebener Fließwiese umrunde. Zur Fließwiese zieht es mich, wenn der Wunsch nach einem reinigenden Naturerlebnis in der Stadt plötzlich übermächtig wird und auch der Gedanke an plagende Stechmücken mich nicht mehr zurückschrecken lässt.
Zuerst glaube ich an eine Halluzination, hervorgerufen durch meinen Flattermann, aber als ich mich in den Arm kneife und meinen Großen Zeh im Laufschuh auf- und abbewege, beruhige ich mich ein wenig. Kaum einen Steinwurf entfernt, auf einem kleinen Pfad, zwischen Wasserloch und angrenzendem Krematoriumsgelände, sehe ich Cordula, Heubner-Alberti und Mitch einen Reigen tanzen. Ja, sie halten sich an den Händen, springen ausgelassen von einem nackten Fuß auf den anderen und drehen sich dabei im Kreis. Das von ihnen angestimmte Lied erkenne ich sofort. Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus, schallt es zu mir herüber, und ich bemerke, dass Mitch schon ganz außer Atem ist und die Töne nur noch heraushechelt, während Cordula und Heubner-Alberti einen durchaus frischen Eindruck machen und sich zu immer neuen Schrittfolgen hinreißen lassen. Die Welt scheint ein einziges Irrenhaus zu sein.
Und du mein Schatz bleibst hier. Ich weiß nicht, was den Ausschlag gibt, vielleicht genau diese Liedzeile, jedenfalls ducke ich mich und schleiche am sumpfigen, schilfbewachsenen Grund der Fließwiese vorbei, bis ich den kleinen Pflasterweg erreiche. Zunächst beschleunige ich meinen Schritt nur mäßig, aber schließlich renne ich so schnell ich kann zur Wohnung, um zu packen. Vor der Tür kauern Lynn und Saskia und weinen. Ich lasse sie in die Wohnung und bitte sie zu warten. Sie kommt gleich, sagte ich, ohne zu wissen, wann mit wessen Rückkehr zu rechnen ist.
Du bist böse, faucht mich Lynn an und zieht Saskia ins Gästezimmer. Böse, böse, höre ich es nun von nebenan und beeile mich, das Nötigste in eine Tasche zu stopfen. Im Hausflur treffe ich die Nachbarin, die mich nach dem blöden Mitch fragt und auf mein Schulterzucken hin dann wieder eilig das Haus verlassen will.
Ich laufe ihr hinterher, die Reisetasche unter dem Arm.
Aber deine Kinder, was ist mit Lynn und Saskia, fasele ich und begaffe ihren schönen Hals, die goldenen Ohrringe und ihr glänzendes schwarzes Haar.
Harald, ich bitte dich, es sind immer noch die Kinder von Cordula und Mitch, entgegnet sie ruhig, auch wenn Mitch mein Bruder ist. Ich kann mich nicht um alles kümmern. Es gibt Grenzen.
 – Was redest du? zische ich. Und Frau Heubner-Alberti?
 – Die Theatertante? Woher kennst du die denn? Ich glaube, ihr neues Stück Der Mann, den es nicht gibt hat nächste Woche Premiere in der Schaubühne. Seit wann interessiert dich sowas, Harald? Ich dachte, außer Chips und Langeweile hättest du nichts auf Lager. Entschuldige bitte, das sagt Cordula. Wer hat eigentlich deine Taxe gekauft? Wohin gehst du, Harald?
Wer hat welche Taxe gekauft? Das schöne Auto. Jetzt sitze ich in einem Flugzeug, das in ein Land meiner Wahl fliegt. Ich mag diese Stadt nicht, und ich glaube, es war höchste Zeit, mich zu verdrücken.
Meine Nachbarin, also Mitchs Schwester (wenn das Ganze nicht ein riesiger Bluff ist), Sylvie, die zu mir hält und mitfliegt, Sylvie sagt, dass eine große Hafenstadt mit guten Fährverbindungen als vorläufiger Fluchtort vorteilhaft ist, falls wir auf die Schnelle wieder die Koffer packen müssen. Ich möchte wissen, was das alles bedeutet. Man muss das Schlimmste befürchten, aber was kann das sein? Wer etwas weiß, rückt nicht damit heraus, so kam es mir im Leben häufig schon vor. Ob ich Dr. Bruns eine Karte schicke? Möglicherweise kennt Sylvie ein gutes Mittel gegen meine Flatternerven.
Du könntest was für mich sein, sagt sie plötzlich und küsst mich. Doch im Moment will ich nur dasitzen und neben gleichmäßig brummenden Triebwerken aus dem Fenster ins dunkle Nichts starren. Morgen, morgen werde ich mit Sylvie über alles reden. Sie hat so weiche Hände, die bestimmt auch einmal gegen offene Beine ihre Wirkung entfalten können, wenn wir zusammenbleiben.
Es ist merkwürdig: Am meisten stört mich die Tatsache, dass ich bei einer Hausdurchsuchung als kranker Typ gelten würde, der dazu neigt, Balsamicochips im Übermaß zu verzehren, obwohl ich den großen Karton mit den gut verschweißten Tüten nur für Mitch gebunkert habe.
Sylvie lächelt. Mitch ist ein guter Pianist. Keine Frage. Aber er spinnt ein bisschen und ist zu allem imstande, wenn er seine Chips nicht bekommt, niemals habe ich Cordula geglaubt, dass du sie alle essen würdest, spricht sie in Richtung meines Fensterplatzes. Ich schaue sie lange an, und wir fliegen weiter und weiter durch die Nacht. Ich denke an Lynn und Saskia und ihre Eltern. Was soll nur werden? Wer denkt sich so etwas aus? Ich mochte diese Stadt nie. Du hast nichts verstanden, würde Cordula sagen. Nie.
Das stimmt. Und doch wusste ich, dass es irgendwann so kommen musste. In dieser Stadt aus Wahn und Wunder war immer schon alles, gelinde gesagt, eine Spur zu abgedreht.
Es ist gut, höre ich noch, dann schlafe ich ein und tanze einen Reigen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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