Peter Kröger

Die Kanzlerin. Eine Groteske





Auf der Stelle, also gleich zu Beginn unseres Spaziergangs, war mein Urteil über die Kanzlerin das erste Mal zu revidieren gewesen, denke ich, und zwar dahingehend, dass ich ihr, der Hobbysängerin aus Leidenschaft (mit Schwerpunkt Schubert und Gershwin, woher weiß ich das nur?)  und Tochter einer Kunststopferin für Gestricktes (nicht für Gewebtes; über den Vater ist nichts bekannt) nie und nimmer eine über das übliche Schulwissen hinausgehende Kenntnis deutscher Klassiker, vor allem des von mir besonders geschätzten Johann Wolfgang von Goethe, zugetraut hätte.
Immer noch habe ich ein deutliches Bild vor Augen, wie wir durch den sonnendurchfluteten menschenleeren Garten des Kanzleramtes flanieren, wir sprechen in fast vertrauter Weise miteinander, sie verliert freundliche Worte über meine Arbeit als Musikwissenschaftler (meinen Aufsatz über den Schönbergschen Kontrapunkt erwähnt sie sogar namentlich), ich hingegen sage, dass bei aller persönlichen Wertschätzung die Ablösung ihrer unfähigen und kleinkarierten Regierung das Gebot der Stunde sei, eine Ungezogenheit, die allerdings auf sie nicht den geringsten Eindruck zu machen scheint. Vielmehr fordert sie mich, den Blick hinüber aufs andere Spreeufer gerichtet, die berühmten Antonio-Worte aus dem fünften Aufzug des Tasso zitierend, zu Vergleich und Selbsterkenntnis auf, sie seien das A und O, nicht wahr, dann lächelt sie gütig, und irritiert wache ich auf, es ist früh am Morgen, ein Spaziergänger mustert mich, und ich vertone im Geiste eine Oper über einen Biedermann, der zum Kanzlermörder wird.
Vergleiche dich. Erkenne, was du bist.
Gehüllt in einen dicken Wintermantel und mit einem Lumpensack voller Möglichkeiten auf dem Rücken verlasse ich meine laubgepolsterte, luftige Wohnung zwischen herbstlichen Ebereschen am Zoo. Warum verfolgt mich das Goethe-Zitat, überlege ich und nehme die S-Bahn zum Hauptbahnhof. Unter einer prächtigen Kastanie  mit Blick auf ebenjenen Garten, den ich träumend vor nicht einmal einer Stunde in prominenter Gesellschaft  lustwandelnd durchschritt, wird eine verwitterte Parkbank mein neues Lager für den Tag. Die Kanzlerin winkt stolz zu mir und drückt die Daumen. Doch so kommt sie mir nicht davon, ich sage jedem, der es wissen will: Ich klage an, diese Regierung treibt Unzucht mit der Macht. Was immer auch geschehen muss, soll nun geschehen.
Dann geht alles ganz schnell. Die Handschellen, in denen sie abgeführt wird, ich sehe immer nur die silbern glänzenden Handschellen und einen Kriminalhauptkommissar mit ernster Miene. Also doch! Schlechtes Regieren lohnt sich nicht.  Der Glaube an Gerechtigkeit, ich hab ihn wieder. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Vergleiche und erkenne!
Bist du auch groß, ach, größer noch, zum Schluss da kriegen sie dich doch, rufe ich spottend über das träge Wasser und ehre damit ausnahmsweise nicht Schiller oder Wieland sondern meinen Freund, den Dichter Heinz ‚Brocke‘ Brockmann, den ich von der Bahnhofsmission kenne. Sein unveröffentlichtes Gedicht Zeitläufte (das Schlechteste ist der Titel), aus dem diese Zeilen stammen, ist, obwohl mit gestohlenem Kugelschreiber auf gefundenem Butterbrotpapier geschrieben, unerreicht, geradezu ein Juwel, wenn man die Umstände seiner Entstehung in einer stinkenden Wärmestube bedenkt. Dann summe ich ein ergreifend-solides Nessun Dorma  vor mich hin (mein Liebling unter den Gassenhauern, Wissenschaft hin oder her) und halte mir auf diese Weise streunende Füchse und hungrige Kolkraben vom Leibe, die viel von Aas aber nichts von Puccini halten.
Doch es kommt wie es kommen muss, urplötzlich fehlt sie mir (na, wer schon?), ich zittere und habe einen Kloß im Hals, wie immer, wenn das hingeschnaubt-kotige Dasein mir übel mitspielt und ich mich einsam fühle. Die Kanzlerin, ich habe sie verraten. Durch mich kam sie zu Fall. Jetzt hasse ich den Kriminalhauptkommissar  und seine Handschellen. Was hat er sich erlaubt, der üble Tunichtgut? Er glaubt mir doch auch sonst kein Wort. Dein Freund und Helfer? Dass ich nicht lache. Mein leises Kichern hielt er neulich mal für Irrsinn.
Gott sei’s gepriesen: Sie ist zurück und kommt den Fluss entlang geschlendert. Wieder in Freiheit, wenn ich’s recht erkenne. Der Kanzlergarten scheint’s ihr wirklich angetan zu haben. Ein Irrtum war’s. Ein peinliches Versehen. Es hat sich längst herumgesprochen. Jetzt sucht sie mich. Zumindest kommt es mir so vor. Erneut gilt’s Treue zu bekunden. In guten und in schlechten Zeiten, ruf ich und pfeif den Hummelflug in Viertelnoten über‘s Wasser (das dauert lang). Noch reibt sie sich die roten Handgelenke. So nah und doch so fern ist sie. Wenn dieser böse Traum vorbei ist, bald schon, bald, hält uns hier nichts mehr, auf nach nach Weimar geht‘s, ich hab‘ ihr Wort. (Vielleicht bewerbe ich mich schon beizeiten bei der Weimarer Hochschule für Musik Franz Liszt als Dozent, mein Name gilt etwas in der Wissenschaft, niemand steht mit dem Kontrapunkt auf so vertrautem Fuß, an der Ilm gibt es traumhafte Parkbänke  - und sie kommt nach und wohnt im ‚Elefanten‘ oder meinetwegen auch direkt am Frauenplan im Junozimmer. Ein wenig Abstand von ihrer aufreibenden politischen Tätigkeit täte ihr sicher gut. Ich kann mich natürlich auch irren, und sie kommt nicht los von den Richtlinien der Politik).
Einstweilen heißt es jedenfalls: immer zueinander stehen.  Die Zukunft leuchtet hell, mit ihr an meiner Seite.  Regieren – und wenn schon; die Macht - ein Missverständnis.
Was ist? Ich kann euch lachen hör‘n! Den Kommissar, das Luder, vorneweg, dahinter allerlei beklopptes Volk. Streuner! Stromer! Vagabunden! Kehrt um! Vergleichet und erkennet! Ach, gäb es nur ein Leben vor dem Tod, ich stürmte voran! Die Kanzlerin, sie weiß es.
(Später zeigt sich der Große Wagen überdeutlich am Sternenhimmel. Sphärische Klänge betten mich sanft.  Aber da schlafe ich schon auf meinem neuen Lager und denke nach.)

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