Jutta Miller-Waldner

Als Schneewittchen zu leben begann

… Nachdem die Stiefmutter tot umgefallen war, lebten Schneewittchen und ihr Ehemann vergnügt zusammen bis an ihr Lebensende … So könnte das Märchen auch enden. Aber so endet es nicht. Es kam alles ganz anders.

„Ich weiß ja nicht, wie du darüber denkst, Rosi“ – Schneewittchen schaute sich an einem dieser November–Niesel–Nebel–Nachmittage, da ihr Märchen zum x-ten Mal irgendwo auf der Welt vorgelesen wurde und nachdem sie nächtelang gegrübelt und das Für und Wider sorgfältig abgewogen hatte, nach Dornröschen um, „aber ich habe keine Lust mehr, in diesem Buch eingeschlossen zu sein. Ich langweile mich, ob du es glaubst oder nicht,, und außerdem sehe ich auf den Bildern potthässlich aus. Es ist eine Unverschämtheit, so abgebildet zu werden. Bin ich wirklich so hässlich, Rosi?“

Keine Antwort.

„Jedenfalls will ich wissen, was im Menschenreich los ist. Ich möchte mich endlich wieder spüren. Und überhaupt, ich weiß ja gar nicht mehr, was das ist: Leben.“

Sie blätterte, als so gar keine Reaktion kam, zu ihrer Freundin zurück. Aber die schlief tief und fest und schnarchte ganz leise.

„Es ist doch nicht zu fassen! Seit Menschengedenken wird Rosi alle hundert Jahre von einem wunderschönen blauäugigen, blondgelockten Königssohn wachgeküsst. Und dann erblühen alle Rosen, die Nachtigallen jubilieren in Wald und Hain, der Himmel hängt voller Geigen, die Engelein streichen den Bogen und Petrus schlägt den Takt dazu. Alles erwacht und liebt sich von Herzen. Das ist ja gut und schön so, aber dann“, Schneewittchen schüttelte betrübt den Kopf, „wenn der Alltag eingetreten ist mit all seinem Frust und den aufgegebenen Illusionen und der üblichen Langeweile, versinkt die Gute einfach erneut in ihren abgrundtiefen Schlaf und wartet auf den nächsten Märchenprinzen. So dumm kann doch selbst sie nicht sein, dass sie nicht merkt, dass es immer weniger Prinzen gibt. Und wenn es mal einen gibt, hat er es gar nicht nötig, durch Dornen und Gestrüpp zu ihr zu eilen, nur um sie wachzuküssen. Andererseits … vielleicht hat Rosi ja recht – Selbstverwirklichung hin und Feminismus her. Warum soll sie nicht auf den einen warten, mit dem sie dann  tatsächlich bis an ihr Lebensende in Frieden zusammenlebt. Kann ja sein, dass es mal klappt.“

Sie zuckte mit den Schultern und beschloss, das gute Mädchen weiter schlafen zu lassen. Vielleicht tat sie ja wirklich das einzig Richtige. Sie selbst wollte jedenfalls mehr erleben, als von dem üblichen Prinzen wach– beziehungsweise zum Leben zurückgeküsst zu werden. Sie fand das nachgerade schon altmodisch.

Schneewittchen legte noch einmal die Mützen und Hemden und Höschen für ihre Freunde zurecht, kochte noch einmal ihr Sauerampfersüppchen, tat zum Abschied einen extra großen Klecks Sahne dazu und schüttete es in eine Isolierkanne. Sie versetzte Zwerg eins einen Nasenstüber, drückte Zwerg sieben ein Küsschen auf die rechte Wange und warf den anderen eine Kusshand zu. Dann löschte sie das Licht, schloss leise die Tür hinter sich und sprang aus dem Märchenbuch.

Es wurde eine mühsame Wanderung über die sieben Berge, soviel Laufen war sie gar nicht mehr gewöhnt. Und was war nur mit der Landschaft geschehen? Straßen durchschnitten sie, und der Wald war zum großen Teil gerodet. Bären und Wölfe, die ihn unsicher machen könnten, hatte sie allerdings vorsorglich im Märchenland zurückgelassen.

Puh. Schneewittchen hielt sich die Nase zu. Das stinkt hier ja noch schlimmer als die Druckschwärze im Buch.

Die Sterne waren inzwischen weiter gewandert, und künstliche Himmelskörper kreisten mittenmang, aber ansonsten funkelten sie wie in märchenhaften Zeiten. Auch der Mond lächelte ihr so vertraut zu wie früher, trotz der Fahne, die sein Antlitz verunzierte, und des Mülls, der sich auf ihm angesammelt hatte. Und trotz der Erkenntnis, dass er nichts weiter war als ein goldener Ball, der noch nicht einmal selbst leuchtete. Aber Schneewittchen war noch jung genug, dass ihr das nichts ausmachte und sie ihn weiterhin als ihren Beschützer und besorgten Beleuchter ihres Weges liebte, und so winkte sie dem Mond und den Sternen fröhlich zu und rief einen lieben Gruß zu ihnen empor.

Nach einundzwanzig Tagen und Nächten kam Schneewittchen in eine große Stadt. Anfangs war ihr etwas mulmig zumute, denn sie konnte in keinen Apfel beißen, ohne dass ihr die Sinne schwanden, und sie machte einen weiten Bogen um alles, in dem man sich spiegeln konnte. Selbst um Wasserpfützen. Aber bald wurde ihr wohl ums Herz. Denn niemand beachtete sie.

Bald fand Schneewittchen auch eine Unterkunft im Schloss einer Gräfin – das musste schon sein –, und sie lebte auf. Nun war sie keine Papierfigur mehr, keine abgeschlossene Geschichte. Jeden Abend hatte sie eine Verabredung mit einem anderen hübschen jungen Mann, und jeder fühlte sich in ihrer Gegenwart wie in einem Märchen. Nur manchmal schien es ihnen, als schöbe sich eine Glaswand zwischen sie und das Mädchen, wenn sie ihr zu nahe kamen, und manchmal verströmte sie einen leichten Modergeruch nach uralten Büchern. Aber Schneewittchens Charme ließen sie diese wunderlichen Gefühle schnell wieder vergessen.

So ging das eine zeitlang gut.

Eines Tages stellte Schneewittchen fest, dass sie keine Freundin hatte, im Gegensatz zum Märchenreich, wo es von jungen Mädchen nur so wimmelte.

„Wen kann ich nur um Rat fragen?“, sprach sie zu sich selbst. „Ich weiß so wenig über die Menschenfrauen, und ach, warum können mich die Mädchen hier alle nicht leiden?“

Sie wischte sich eine Träne von der Wange. Ihr Herz zersprang fast vor Heimweh nach dem Märchenland, wo alles so einfach und vorbestimmt war.

Da vernahm sie über sich in einer uralten knorrigen Eiche ein Flattern, und als sie hoch schaute, sah sie einen Raben, der sie mit einem blitzenden Auge anstarrte. Das andere Auge hielt er geschlossen. Er meinte, er sähe so weiser aus.

„So wisse, gutes Kind“, krächzte er, „die Mädchen haben Angst vor dir, denn du nimmst ihnen immer schnurstracks ihre Liebsten weg. Und außerdem – sie wollen nicht mehr so wie ihre Mütter hinter Dornen ihr Leben verschlafen oder in einem gläsernen Sarg ersticken. Du erinnerst die Menschenfrauen an das, was sie nie wieder sein wollen. Und für die Männer, ja, für die verkörperst du all das, von dem sie heimlich träumen.“

Er krächzte ein Lebewohl, zwinkerte dem Mädchen zu und verschwand flügelschlagend in der Weite.

Schneewittchen fand bald viele Freundinnen. Es war genauso, wie es ihr der weise Rabe zum Abschied noch geraten hatte: Sie hörte ihnen zu.

Und wieder ging das eine zeitlang gut.

Nur – eines Abends stellte Schneewittchen fest, dass niemand sie so richtig liebte. Alles blieb so oberflächlich. Die jungen Männer verabredeten sich ein- oder zweimal mit ihr, aber ein drittes Treffen kam nie zustande. Da war es  früher viel einfacher gewesen. Es konnte geschehen, was wolle, die Mädchen mochten hinter Dornen versteckt sein, als Reh verzaubert oder gar stumm, stets kam ein Königssohn des Wegs und verliebte sich auf der Stelle unsterblich in das betreffende Wesen.

Schneewittchen schaute wieder nach ihrem Freund, dem weisen Raben, aus. Aber er ließ sich nicht blicken, so laut es ihn auch rief

Da wurde sie ganz traurig. Sie sah keine Sonne mehr scheinen, hörte nicht mehr das Zwitschern der Amseln, und auch den Duft der Rosen nahm sie nicht wahr.

Hilft mir denn niemand? Das Menschenreich ist so kalt und herzlos; was ich auch tue, es ist falsch, schluchzte Schnewittchen abgrundtief.

Sie brach eine Rosenknospe ab, zerpflückte die Blütenblätter und ließ sie auf den Boden rieseln.

Der Mond zog eine dicke fette Wolke vor sein Gesicht. „Siehst du“, knurrte er, „so achtlos wie du sind viele Menschen. Eben noch schworen sie sich ewige Treue, und im nächsten Augenblick gelüstet es sie nach etwas Neuem. So wie du gedankenlos die Rosenknospe zerstörtest, zerstören die Menschen gedankenlos die Seelen ihrer Mitmenschen. Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder, du kehrst zurück ins Märchenland und schläfst weiter, oder du versuchst, hier auf der Erde dein eigenes Märchen zu leben.“

Und Schneewittchen war herzlich froh über die Worte, und wenn es nicht gestorben ist …


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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