Marcel Hartlage

Der Käfig

Das Einzige, was sie in der Sekunde spürte, in der sie bei Besinnung war, war der dumpfe, harte Aufschlag ihrer Hände auf glatten, kalten Boden. Vor ihren Augen tänzelten abwechselnd weiße und grüne Punkte, und ihr Kopf fühlte sich an, als könne er jeden Moment explodieren. Sie wartete darauf, dass er explodierte, aber es geschah nicht, und dann fielen ihr die Augen auch schon wieder zu, und sie vergaß alles, was sich in diesem Augenblick in ihrem Kopf ausgebreitet hatte wie Splitter eines zerberstenden Spiegels. Dunkelheit umfing sie. Es dauerte Stunden, und doch nur eine Sekunde.

 

Als sie wieder zu sich kam, war es vor ihren Augen so dunkel, dass sie befürchtete, erblindet zu sein. Es war ein einfacher, spontaner, vollkommen nüchterner Gedanke – blind sein. Dann aber fiel ein kleiner – ein sehr kleiner – Teil ihrer Benommenheit ab, und dann kam der Schrecken, so brachial wie ein Messerstich durchs Herz. Allie riss die Augen auf, starrte einem einfachen, simplen, von Staub überzogenen Betonboden entgegen. Er sah noch etwas undeutlich aus – es würde noch ein wenig dauern, bis sie wieder normal sehen könnte –, aber sie erkannte ihn, seine aalglatte Beschaffenheit, die sie an den Estrichboden in der Schulcafeteria erinnerte, und die feinen Spuren aus Staub, die ihn wie Aschereste überzogen. Beton, dachte Allie noch einmal, und dann durchzuckte ihre Stirn so starker Schmerz, dass sie aufstöhnte und sich die Hand an den Kopf hielt. Ganz langsam – wie Sand, der durch eine Sanduhr rieselte – tröpfelte ihre Benommenheit, ihre Schläfrigkeit von ihr ab. Ganz langsam konnte sie ihre Gliedmaßen wieder spüren. Sie saß auf den Knien, die Hände auf den Beton gestützt und den Blick nach unten gerichtet. Ihr Haar verdeckte ihr Gesicht, streifte mit den Strähnenspitzen über den Staub. Gott, tat ihr Kopf weh, und ihr war schrecklich kalt. Warum war ihr so kalt?
Ich will meine Jacke, dachte sie, und dann vibrierte ihr Sichtfeld wie bei starken Bass, als ihr mit einem einzigen Prankenhieb aus Entsetzen und Panik auffiel, was los war. Ihr wurde erneut schwarz vor Augen, und hätte sie ihre Finger nicht so fest verkrampft, dass ihre Nägel über den Beton gekratzt hätten, wäre sie vermutlich ohnmächtig geworden. Dumpfe Erinnerungen an den vergangenen Abend holten sie ein, jenen Abend, der inzwischen … wie lange her war? Ein paar Stunden? Ein paar Tage? Allie wusste es nicht. Sie hatte ihn so vage vor Augen wie eine Kindheitserinnerung. Weil sie betrunken gewesen war. Natürlich war sie betrunken gewesen. Sie hatte sich von Zuhause weggeschlichen, um sich heimlich mit Grace zu treffen, und sie hatte lediglich ihr verdammtes Handy und ihre mit magerem Inhalt bestückte Brieftasche dabeigehabt. Bei Grace hatten sie sich auf Grace‘ Zimmer gesetzt und Musik an Grace‘ Laptop angemacht – sie hatten Marilyn Manson gehört, genau; Mobscene und Sweet Dreams, und dann hatten sie noch diesen einen Song aus Breaking Bad angehabt, denn sie so toll gefunden hatte; If I Had A Heart von Fever Ray, und dann hatten sie sich für die Party zurechtgemacht. Genauso war es gewesen. Grace‘ Klamotten. Sie hatte Grace‘ Klamotten an.
Allie sah an sich hinab. Da war die schwarze Legging-Jeans – check –; das weite graue Oberteil mit dem schwarzen Muster drauf, und das sie nur über eine Schulter trug, weil Grace gesagt hatte, mit einer freien Schulter sähe sie sexy aus – check –; ihre Converse-Chucks mit dem eingerissenen rechten Schnürsenkel am linken Schuh – check –; ihre weißen, fast zu kleinen Sneakersocken – check –, und schließlich ihre eigene, nicht von Grace geborgte Unterwäsche. BH und Slip waren noch da. Gut. Das war sehr gut.
Allie drehte sich zur Seite und setzte sich vorsichtig auf ihren Hintern. Sie zog die Beine an und versuchte ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es erschien ihr fast unmöglich. Die Situation kam ihr so unwirklich vor, dass sie ernsthaft daran zweifelte, überhaupt schon wach zu sein. Neben ihren Kopfschmerzen tat ihr nichts weh, und das hieß immerhin, dass sie keine anderweitigen Verletzungen davongetragen hatte. Sie fühlte sich nur erschöpft. Erschöpft und müde und schwach, und zugegebenermaßen war ihr auch noch immer ein bisschen übel. Das kam sicher vom Alkohol, den sie vor unbestimmter Zeit zu sich genommen hatte. Tequila, ja. Sie hatte Tequila getrunken, zusammen mit Brandon und den Jungs aus seiner Footballmannschaft. Vage erinnerte Allie sich daran, das verdammte Salz von irgendjemandes Hals geleckt zu haben. Gottes Willen … normalerweise machte sie so etwas nicht. Sie betrank sich eigentlich auch nie so wirklich, zumindest nicht so schlimm oder an jedem Wochenende, und das Rauchen vermied sie auch weitestgehend – vielleicht hin und wieder eine Zigarette mit Grace und ein paar der anderen Mädels auf dem Klo –, aber solche Sachen – Sachen mit Speichel und Zungen und Jungen – machte sie nicht. Das war ihr sehr unangenehm, und dafür war sie viel zu schüchtern … wenn sie nicht betrunken war.
Kein Problem, sagte ihr eine innere Stimme. Beschäftige dich ruhig weiter mit deinen dümmlichen kleinen Exzessen, vergiss, was hier im Moment los ist. Es wird schon irgendwas passieren, und dann werden sich deine Probleme – deine richtigen Probleme, meine Kleine – in Luft auflösen. Schwupp! Weggezaubert. Du hast ja sonst nichts zu befürchten, oder?
Allie kauerte sich zusammen, und auf einmal drangen Angst und Panik wieder eine Ebene höher. Ihre Hände begannen zu zittern. Ein schmerzliches Pochen breitete sich in ihrem Brustkorb aus. Sie blinzelte in die Dunkelheit, und als sie endlich erkannte, was sich ungefähr einen halben Meter vor ihr befand, lief es ihr kalt den Rücken runter. Lange, hauchdünne Silberstreifen. Sie befanden sich auch links und rechts von ihr, nur hinter ihrem Rücken und über ihrem Kopf zeichnete sich eine plastische, greifbare Schwärze ab; sie tastete kurz danach. Während sie hinter sich eine raue, nackte Backsteinwand erfühlte, erstreckte sich über ihr kaltes, gerilltes Metall; zumindest fühlte es sich so an. Allie versuchte Ruhe zu bewahren und sich auf ihre anderen Sinne zu konzentrieren: Ein schwacher Geruch von Öl und Benzin hing in der Luft. Der Boden unter ihr war hart und kalt. Auf ihrer Zunge schmeckte sie bittere, herbe Trockenheit; gedankt sei dem Alkohol. Je mehr sie sich ihrer Umgebung gewiss wurde, je mehr die Dunkelheit an Substanz und Plastizität gewann und je mehr die Realität Einzug in ihren Kopf bekam, desto unruhiger wurde sie. Das konnte alles nicht sein. Sie war nicht hier. Sie träumte. Natürlich träumte sie.
Wirklich?, fragte die Stimme. Na, dann los – kneif dich.
Nein, sie wollte sich nicht kneifen. Sie war am träumen, das brauchte sie sich nicht zu beweisen – sie musste nur darauf warten, aufzuwachen, und dann war wieder alles in Ordnung. Bitte, nein, nicht kneifen.
Sie kniff sich.
Schmerz. Wie ein seichter Nadelstich. Allie kniff sich noch einmal, und wieder pikste es. Sie kniff sich noch einmal. Dann noch einmal. Dann noch einmal. Immer stärker und schneller kniff sie sich, bis sie schluchzte und warmes Blut ihren Arm hinabrann, und als ihre Haut bereits völlig taub und kribbelig war, brach sie hemmungslos in Tränen aus und schrie, ohne zu registrieren, dass sie sich immer noch kniff.
»Hilfe!« Sie warf sich nach vorn und umklammerte die Gitterstäbe, so als hätte sie längst gewusst, dass es Gitterstäbe waren; als hätte sie es nicht ausgeschlossen oder verdrängt oder die gesamte Situation für einen Traum gehalten. »Hilfe! Hilfe, bitte!« Wie ein Echo hallte ihre Stimme durch die Schwärze, immer und immer wieder, bis sie heiser wurde und am Ende ihrer Kräfte war. Langsam sank Allie mit der Stirn auf den Boden und ließ die Arme zwischen den Stäben baumeln. Zuckend schluchzte sie und schlug mit lascher, schwacher Faust auf den Boden. »Bitte helft mir …«
Hier ist keiner,
sagte die Stimme.
Allie weinte. Die letzten Reste ihres Eyeliners begannen zu zerlaufen und über ihre Wangen zu fließen. Sie wünschte sich die Ohnmacht zurück, die träge, schwermütige Dunkelheit, die ihr gnadenvolle Unwissenheit verliehen hatte, doch wusste sie, dass ihr dieser Segen nicht mehr zuteil kam, dass sie diese Chance vertan hatte. Dieser Gedanke ließ sie nur noch mehr weinen. Sie glaubte, schon nicht mehr aufhören zu können, als sie aus der Dunkelheit plötzlich ein Geräusch vernahm. Allie verharrte, schniefte ein letztes Mal, und richtete sich dann auf.
Da waren Schritte.
Schritte.
»Hallo?«, rief sie mit zitternder, brüchiger Stimme in die Dunkelheit. »Hallo, ist da jemand?«
Nein, er tut nur so, sagte ihr die Stimme, bevor Allie aus dem Augenwinkel plötzlich eine Bewegung wahrnahm. Etwas sauste an ihrem Kopf vorbei und zerschellte hinter ihr an der Wand. Allie schrie auf und warf sich nach vorn. Im selben Augenblick spürte sie zwei Hände, die sich um ihre Knöchel schlossen, und dann schliff jemand ihre Beine zwischen die Gitterstäbe hindurch. Sie schrie erneut auf und wollte zurückkriechen, kam allerdings nicht gegen die Kraft desjenigen an, der sie dort zog. »Nein!«, schrie sie. »Nein, aufhören!«
Doch sie hatte keine Chance. Noch während sie ihre letzten Versuche, sich unter Windungen und Zerrungen zu befreien, aufgab, öffnete zwei robuste, starke Hände ihre Schnürsenkel. So langsam und sachte, als würde die Person ihr Schluchzen gar nicht bemerken.
»Bitte«, wimmerte sie. »Bitte tun Sie mir nicht weh.«
Es kam keine Antwort. Die Person zog ihr die Schuhe aus, und sofort zog Allie ihre Beine zurück in den Käfig und wich nach hinten. Dabei landete sie mit ihrer rechten Handfläche auf eine der Scherben, und mit spitzem Schrei fuhr sie zusammen und packte ihre Hand. Sie konnte spüren, wie frisches Blut über ihren Daumen rann.
Draußen erklangen erneut Schritte. Dann das Quietschen einer Tür. Dann Stille. Allie schlang die Arme um die Beine und spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Schweiß rann über ihre Stirn. Ihre Hand schmerzte. Die Unterseiten ihrer dämlichen Socken fühlten sich bereits jetzt klamm vor Dreck an, und die Kälte an ihren Füßen ließ sie schaudern.
Was passiert hier?, fragte sie sich, und dass sie das erst jetzt tat, überraschte sie nicht einmal. Das, was gerade passiert war, hatte sie wachgerüttelt wie kaltes Wasser, hatte den letzten Rest Benommenheit von ihr gespült und ihr die Erkenntnis beschert, dass sie entführt wurde. Sie war nicht am Träumen, sie lag nicht unter ihrer kuscheligen himmelblauen Bettdecke zuhause, das Gesicht Tür gelegt, sodass sie beim Erwachen auf der ihr klammheimlich angebetetes Poster von Robert Pattinson blicken würde, nein – sie wurde entführt.
Entführt. Selbst in ihrem Kopf fühlte sich das Wort eiskalt an, die Stimme, mit der sie es dachte, jedoch erschreckend ruhig und rational. Ich wurde entführt, und jetzt haben sie mich in einen Käfig gesperrt. Vermutlich wollte ich von der Party nach Hause gehen.
Ja, vermutlich. Irgendwelche Kerle hatten eine dumme Sechzehnjährige über den Bürgersteig torkeln sehen und sich gedacht, hey, die Kleine könne man ja mal mitnehmen, irgendwo einsperren, und ihr die Schuhe ausziehen. War sie deswegen so benommen und durcheinander gewesen, als sie aufgewacht war? Hatte man ihr einen Lappen mit Chloroform oder so ein Zeug ins Gesicht gedrückt und sie in den Schlaf gewogen? Eine zweite Welle Angst durchfuhr sie, und mit aufgerissenen Augen sah Allie an sich hinab … auf die Stelle zwischen ihre Beine.
Sie haben es längst getan, dachte sie. Natürlich, ich merke es nur nicht. Haben mich in irgendeine Gasse gezerrt, mich an die Wand gedrückt und mir die Jeans bis halb über die Knie gestrampelt, bevor sie es abwechselnd getan und sich dabei gegenseitig angefeuert haben. So muss es passiert sein, ja. Dann, als sie fertig waren, haben sie mir mit einem Taschentuch den Schweiß und ihr ekliges, klebriges, daneben gegangenes Zeug von den Oberschenkeln gewischt und mich wieder angezogen. Und dann haben sie mich mitgenommen und mich hier eingesperrt. Damit sie es noch mal machen können.
Und dann würde sie es merken. Dann wäre sie nicht benommen oder ohnmächtig oder betrunken – dann würde sie es merken. Je greifbarer diese Vorstellung in ihrem Kopf wurde, je klarer sie sich abzeichnete und zur Realität wurde, desto mehr schwoll in ihrem Innern eine heiße Kugel aus Angst und Ekel an, eine Kugel, die nur darauf wartete, dass sie endlich nachsah, um dann zu zerplatzen und ihren kompletten Verstand von innen heraus zu zerstören.
Jetzt hör auf, es hinauszuzögern, sagte die Stimme. Sieh nach.
Das tat Allie – nach drei Minuten, die sie an Überwindung benötigte. Während sie den Reißverschluss ihrer Hose öffnete und sich mit ihren Fingern vorantastete, sah sie zusammenhangslose Schreckensbilder vor sich, Bilder von klebrigem Blut und von undefinierbarem Schleim, und jeden Augenblick erwartete sie, genau das zu fassen bekommen, genau das zu spüren.
Aber es war alles okay.
Mit einer Erleichterung, die sie wie Meeresluft durchwehte, machte sie ihre Hose wieder zu und atmete tief durch.
Und wenn es trotzdem irgendwie passiert ist?, fragte die Stimme sie daraufhin. Wenn du es einfach nicht spürst? Wenn da doch was nicht in Ordnung ist, und du es einfach nicht mitbekommst, weil du immer noch benommen bist und es deshalb gar nicht mitbekommen kannst?
Das war Unfug. So was fühlte man doch. Da unten war alles in Ordnung.
Bis jetzt zumindest.
Allie atmete ein zweites Mal tief durch und schloss die Augen. Es kam wie aus dem Nichts, aber sie meinte eine seltsame Diskrepanz zu ihrem bisherigen Leben zu verspüren, ihr Leben vor dem Käfig. War das normal in so einer Situation? Es war eine Empfindung, die sie nicht ganz zuordnen konnte, so als wäre die Allie, die sie bisher gewesen war, nicht mehr da, als wäre sie jetzt eine andere Allie, eine Allie für die Finsternis und Kälte und den Käfig. Eine Allie, die in Angst ertrank und sich deshalb auch noch – dummes Teenagerhirn – schwach vorkam. Etwas beschämend fuhr sie sich über den Arm, über ihre aufgekratzte Haut und der Schnittwunde an ihrer Hand. Das Blut zwar inzwischen leicht getrocknet, und es fühlte sich eklig warm und klebrig an. Die abstruse Frage kam ihr in den Sinn, ob es sich bei dem Wurfobjekt wohl um ein Glas oder eine Flasche gehandelt hatte, und wenn um letzteres, ob sie bis kurz davor wohl noch mit Inhalt gefüllt gewesen war. Allie schnupperte in die Luft, vernahm aber keinerlei Duft von Früchten oder Alkohol. Vielleicht war es ja auch eine Kaffeetasse gewesen.
Wen zum Teufel interessiert das?, fragte sie die Stimme.
Allie rief sich ins Hier und Jetzt zurück. Sie versuchte sich zu entspannen, um besser nachdenken zu können, doch es gelang ihr kaum; sie traute sich ja nicht einmal, von der Stelle zu weichen oder sich auszubreiten. Einer Eingebung folgend, hob sie erneut den Arm, um abzuschätzen, wie hoch die Decke von dem Käfig war, und sie schätzte sie auf einen knappen Meter.
Vielleicht ist da irgendwo eine Luke.
Der Gedanke formte sich aus dem Nichts, schien für den Bruchteil einer Sekunde bedeutungslos in ihrem Kopf herumzuschwirren und schon beinahe wieder zu verblassen. Dann erkannte Allie ihn, und die Vorstellung, dass sich irgendwo über ihr womöglich ein Ausweg befand, eine Öffnung, die es ihr ermöglichte, einfach aus diesem verdammten Käfig zu spazieren, erfüllte sie mit neuer, verzweifelter Entschlossenheit. Erneut streckte sie den Arm aus, diesmal ein bisschen kräftiger, und schnell nahm sie auch ihre andere Hand dazu, um jeden Bereich abtasten zu können, den sie von ihrer knienden Position aus erreichte. Dann, ohne noch länger nachzudenken, stand sie mit zitternden, tauben Beinen auf. Ihre Hose war viel zu dünn, als dass sie durch das Scherbenmeer im hinteren Teil des Käfigs kriechen könnte, und so beugte sie mit geducktem Kopf und krummen Rücken darüber, um weiter die Decke abtasten zu können. Dabei fragte sie sich zum ersten Mal, wofür dieses Gestellt überhaupt vorgesehen war. Wo sie sich befand, verdammt.
In einer Fleischfabrik, dachte sie, wieder resigniert. Und warum auch nicht? So war das auch immer in irgendwelchen Filmen: ein schäbiger, klischeehafter Ort, die Wände voller Haken und ausgeweideter Schweinskörper, der Fliesenboden geziert von Gedärmen und Fleischmassen und Blut, Unmengen von Blut. Überall hingen Mordinstrumente, und die Leute, die sie hier festhielten – wenn es denn mehrere Leute waren, wovon sie in ihrer Vorstellung ohne besonderen Grund ausging –, liefen in solchen weißen Schlachterkitteln rum, ja. Mit Handschuhen und Stiefeln, auf denen noch mehr Blut klebte, und ihre Gesichter waren hinter Masken verborgen, ihr Haar unter der Kapuze vom Schutzanzug. Schlachter. Es waren Schlachter. Perverse Schlachter.
Ich bitte dich, sagte die Stimme. Wie abstrus soll es denn noch werden?
Allie wusste es nicht, und es war ihr auch egal. In diesem Moment nämlich spürte sie, wie ihre Beine zu schmerzen begannen – dass sie schwer wurden, so als müssten sie nicht ihren kleinen zierlichen Oberleib tragen, sondern
(Schweine)
menschengroße, brockenschwere Steine. Sie wollte sich wieder hinhocken, wieder in sichere Sitzposition zurückkehren, aber in diesem Augenblick grummelte etwas in ihrem Magen. Allie krümmte sich nach vorn, und dann, ohne es kontrollieren zu können, fiel sie auf ihre Knie und erbrach sich.
Es war schmerzvoll, und sie zuckte am ganzen Leib; etwas von dem Zeug landete auf ihrer Hand, und ein entlegener Teil von ihr registrierte noch, wie flüssig und klebrig es sich anfühlte, bevor sie würgte und eine zweite Ladung hinterherschoss. Ihr Hals kratzte und ihre Augen tränten, und mit jedem Stoß spürte sie, wie die Kräfte sie verließen. Als alles aus ihr raus war, kippte sie erschöpft zur Seite. Ihre Stirn war heiß, und vor lauter Schweiß hafteten Legging-Jeans und Oberteil an ihrer Haut. Sie konnte ihren ausgestoßenen Mageninhalt riechen. Der Geruch erinnerte sie an saure Bonbons.
Nie wieder Tequila, dachte Allie, während sie einer Käfigdecke entgegenblickte, ohne, dass sie diese Käfigdecke sehen konnte. Bei Gott, ich trink nie wieder was, wenn ich hier raus komme.
Da setzten ihre Gedanken einen Moment aus.
Wer sagte denn, dass sie hier überhaupt raus kam?
Die Frage hing im Raum, schlug für ein paar Sekunden im Takt wie eine Pendeluhr. Nein, sagte sich Alle dann und kauerte sich in ihre vertraute Sitzposition zurück, strich geistesabwesend Erbrochenes über ihre Beine, als sie diese erneut umschlang. Nein, das geht nicht. Ich komme hier raus. Natürlich komme ich hier raus.
»Ich komm hier raus«, flüsterte sie sich mit heiserer, rauer Stimme zu, doch gleichzeitig verschwamm ihr Blickfeld wieder, und sie spürte, dass sie erneut weinte. Eine noch nie dagewesene Hoffnungslosigkeit überkam sie. Es war doch nicht möglich, dass dies ihr Schicksal war. Ein solches Schicksal ereilte nur jenen Menschen, die man in den Acht-Uhr-Nachrichten sah, von denen man im Radio hörte oder im Internet las, die statistengleich an einem vorbeimarschierten und von denen man überhaupt nicht erwartete, dass sie ein genauso kompliziertes, schweres, durcheinandergewürfeltes Leben führten wie man selbst. Ein solches Schicksal ereilte immer nur anderen Menschen. Man vergaß diese Leute, sobald der Fernseher aus, das Radio stumm, das Internet geschlossen war, man vergaß sie und wandte sich wieder anderen Dingen zu, wichtigeren Dingen. Rasenmähen, Einkaufengehen, die Wohnzimmerlampe reparieren, das Auto waschen, dieses verdammte Gemälde zurechtrücken, das schon seit Tagen so schief hing.
Für eine Sekunde verspürte Allie Wut – sie wusste nicht einmal, warum –, aber dann kehrte die Angst zurück, diesmal jedoch nicht um sich selbst. Was machten ihre Eltern gerade durch? Sie musste schon seit Stunden in diesem Käfig hocken – zumindest solange, dass sie den Alkohol von der Party nicht mehr spürte –, was bedeutete, dass Mum und Dad längst um ihr Verschwinden wissen müssten. Was taten sie? Wie besorgt waren sie? Wie viel Schuld gaben sie sich, weil sie zugelassen hatten, dass sich ihre dumme kleine Tochter aus dem Haus schleichen konnte, nur um zu so einer bescheuerten Party zu gehen?
O Gott, es tut mir so leid. Sie drückte ihr Gesicht auf die Knie und weinte. Dieses Gefühl, diese grauenvolle Mischung aus Sorge und Schuld und Bedauern – die Gewissheit, dass sie ihren Eltern gerade womöglich die Hölle auf Erden bescherte –, war das schlimmste Gefühl, das sie jemals verspürt hatte. Schlimmer als Angst, schlimmer als Schmerz.
Vielleicht sorgen sie sich auch überhaupt nicht um dich, meldete sich jene Stimme zurück. Vielleicht ist es ihnen auch völlig egal, wo du gerade steckst.
Allies Tränenfluss versiegte langsam, und mit starrem Gesicht blickte sie den kaum sichtbaren weißen Flecken ihrer Socken entgegen. Was, wenn ihre Eltern tatsächlich noch keinerlei Verdacht schöpften? Vielleicht hatten sie noch gar nicht mitbekommen, dass sie, Allie, außer Haus war, vielleicht glaubten sie bloß, sie hätte über Nacht bei Grace geschlafen und sei noch immer dort, oder vielleicht gingen sie auch davon aus, dass sie lediglich wieder eine ihrer dummen Teenager-Phasen erreicht hatte und von zuhause ausgerissen war, nur um es ihnen mal so richtig zu zeigen? Warum sollten sie sich um so ein Mädchen sorgen? Warum sollten sie ihrer einzigen Tochter Besorgnis beimessen, wenn besagte Tochter sich entgegen ihrer Anordnungen auf die Party ihrer ach so coolen Freunde schlich und von Zuhause abhaute? Warum sollten sie sich Vorwürfe machen – sie hatte doch selbst Schuld?
Dieser Gedanke war schlimm, entsetzlich schlimm, und Allie kam sich nicht nur dumm und elendig vor, sondern fühlte sich auch allein gelassen. Wenn es so war, würde niemand nach ihr suchen. Es würde niemanden interessieren. Ihr Gesicht würde niemals in den Nachrichten erscheinen, weil es für die Welt dort draußen belanglos war, unbedeutend, statistengleich. Es war geschehen, es war ihr Problem, was hatten sich also andere Leute um ihre Dilemma zu kümmern? Suchtrupps? Polizisten, die ihre Eltern mit Worten wie »Wir tun alles, um ihre Tochter zu finden« oder »Noch ist nichts entschieden« oder »Machen Sie sich keine Sorgen« beschwichtigten, obwohl sie im Hinterkopf ganz genau wussten, dass es unwahrscheinlich war, sie überhaupt noch zu finden? Spürhunde? Helikopter? Nein, nein, alles viel zu aufwendig für eine Teenagerin, die fremden Jungen Salz vom Hals leckte. Vergesset sie und macht ‘ne Neue.
Allie weinte jetzt hemmungslos, ohne jede Zurückhaltung. Sie lag auf dem Boden und hatte die Arme um ihre Schultern geschlungen, so als wolle sie sich selbst trösten, und die Vorwürfe – grauenvolle, schmerzende, pulsierende Vorwürfe – verschmolzen mit ihrer Angst und ihrer Hoffnungslosigkeit, mit dem Gefühl, völlig allein zu sein, und alles zusammen breitete sich wie ein breiiger, zäher Klumpen in ihrem Kopf aus, lähmte ihre Gedanken. Allie wollte sich die Arme zerkratzen. Sie wollte schreien, sich die Zähne mit der Faust zertrümmern, sich das Haar rausreißen, ihren Kopf gegen diesen verdammten, dreckigen Betonboden schlagen und spüren, wie das heiße Blut über ihr Gesicht rann. All das wollte sie tun – einerseits, um diese Vorwürfe und alles andere zu ertragen, andererseits, um sich genau deswegen zu bestrafen. Sie hatte es verdient.
Es tut mit Leid, dachte sie, schluchzend und mit den Gesichtern ihrer Eltern vor Augen. Es tut mir leid, es tut mir leid. Ich hau nie wieder von Zuhause ab, Mum, nie wieder, ich werde nie wieder heimlich auf Partys gehen, werde nie wieder trinken oder rauchen, aber bitte … bitte, bitte lasst mich nicht allein. Bitte vergesst mich nicht, bitte nicht.
Sie ergab sich ihrem Kummer, ihrer Angst und ihrer Verzweiflung, bis es dunkel um sie wurde. Nur die Standbilder ihrer Eltern begleiteten sie in die süße, ruhige Schwärze, die sich vor ihr auftat, nur ihr Schluchzen und Schlucken, das immer schwächer und leiser wurde, immer entfernter in ihrem Kopf widerhallte. Als ihre Augen zufielen und sie in die Ohnmacht sank, bemerkte sie es schon nicht mehr. Halb zusammengekauert blieb sie liegen und war nicht mehr ansprechbar.
Sie wachte erst wieder auf, als erneut die Schritte erklangen.

 

Sie klangen so unbeschwert wie letztes Mal, so als würde die Person lediglich durchs Einkaufszentrum schlendern, um das Angebot in den Schaufenstern zu begutachten. Allie blinzelte, richtete sich benommen auf. Ihr Gesicht war klebrig von Tränen und zerlaufener Schminke, und in ihrem gesamten Kopf dröhnte es.
Dann wurde sie erneut an den Füßen gepackt, und ihr Schrei erstarb, als die Person ihre Beine durch die Gitterstäbe hindurch nach draußen zog. »Loslassen!«, kam es aus ihr heraus, aber es klang brüchig, hatte kaum Überzeugung. Die Person zog ihr die Socken aus – kalte Fingerkuppen berührten ihre Zehen –, ließ von ihr ab und entfernte sich wieder.
Allie kauerte sich erneut zusammen, aber diesmal nur kurz. Einen Moment noch horchte sie auf das Echo der Schritte, dann warf sie sich nach vorn und umklammerte die Gitterstäbe. »Lassen Sie mich gehen!«, schrie sie. »Bitte! Bitte, ich möchte nach Hause! Ich will nach Hause!«
Eine Tür fiel zu. Allie sank zusammen. Die Kälte des Betonbodens griff nach ihren nackten Füßen, und sie umschloss sie mit den Händen, um sie zu wärmen.
Warum ich?, dachte sie. Wieder war es eine Frage, die einfach aus dem Nichts auftauchte, aus den Untiefen ihres Verstands. Warum ich, warum ausgerechnet ich?
Es kam keine Antwort. Allie umschlang ihre Beine fester mit den Armen und massierte ihren Fußballen, versuchte verzweifelt Wärme in ihre Zehen zu befördern. Warum zog man ihr die Schuhe und Socken überhaupt aus? Warum nicht gleich alles?
Allie verharrte, als die erschreckende Erkenntnis Form annahm.
Sie machen es langsam, dachte sie. Nach und nach, von unten nach oben, jedes einzelne Kleidungsstück. Die Unterwäsche vermutlich zuletzt, klar, aber der Rest? Als Nächstes ist die Jeans dran, jede Wette. Meine Jeans. Grace‘ Jeans.
Sie war überrascht, wie ruhig sie diesen Gedanken aufnahm. Da war etwas, eine ungreifbare, herannahende Angst, aber noch befand sich diese Angst in der Ferne, glich nur einem entfernten Donnergrollen, einem zusammenbrauenden Sturm. Diese Angst würde näherkommen, wenn der Typ zurückkam, Mister Ich-sag-nichts-sondern-pack-dich-nur. Wenn er sie ihrer Hose beraubte und dann ihres Oberteils, und sie würde noch heftiger werden, sobald er dann nach ihrem BH und ihrem Slip verlangen würde (als wäre es nicht schon erniedrigend genug, hier bloß in Unterwäsche zu hocken). Ob er ihr bei der Gelegenheit wohl an die Brust fassen würde? Vage glaubte Allie sich daran zu erinnern, dass ihr das auf der Party passiert war, auch wenn da natürlich noch ihre Kleidung dazwischengelegen hatte (zumindest hoffte sie das). Aber was immer am Ende auch geschehen würde … der Sturm würde kommen. Er würde über sie losbrechen, und sie war absolut chancenlos, sollte es soweit sein.
O bitte, dachte sie. Bitte nicht, ich will das nicht.
Sie war noch Jungfrau. Noch nicht einmal den ersten Kuss hatte sie hinter sich. Die Sache auf der Party, die mit dem Überm-Hals-lecken, war das bisher extremste gewesen, was sie sich gegenüber dem anderen Geschlecht erlaubt hatte. Sie durfte gar keinen Freund haben. Das wollten ihre Eltern nicht. Umso mehr hatte sie natürlich vorgehabt, sich einen zu suchen. Sie hatte sich vorgestellt, es zu verheimlichen, weil sie das in ihrer kunterbunten, naiven Gedankenwelt sehr aufregend gefunden hatte. Warum auch nicht, zum Teufel? Sie war sechzehn, da dachte man so, da wollte man es aufregend haben, da wollte man mit einem Freund wie aus dem Film zusammen sein, sich heimlich mit ihm treffen und in wildem, rebellischen Gelächter weglaufen, sobald sie jemand zusammen sah, der sie nicht zusammen sehen durfte. Und natürlich hatte sie sich auch schon ausgemalt, wie jenes erste Mal ablaufen würde, sehr oft sogar: romantisches Kerzenlicht, vielleicht ein paar Rosenblätter, die ums Bett verstreut lagen – ja, tatsächlich –, sanfte, aber kräftige Hände, die ihren Körper voller Wärme und Behutsamkeit erkundeten. Lippen, die die ihren liebkosten. Sie hatte nicht gedacht, diese Erfahrung zu machen, während sie eingesperrt war wie ein Tier; hier, in einem Käfig, auf einem kalten, verdreckten Betonboden, nackt und blutverschmiert und mit Kotzresten auf ihren Armen. Die bloße Vorstellung fühlte sich unbegreiflich an; da war nur das entfernte Donnergrollen, dieses Kratzen von außerhalb, das in sie wollte. Wortwörtlich in sie wollte. Oh Mann, das war witzig. Zum Schießen, haha.
Allie seufzte. Sie dachte an die Party. An die ganzen Jungs (unter ihnen viele Footballspieler mit breiter Figur – das Atmen war ihr manchmal schwergefallen), an die Musik (House und Electro hatte sie noch ganz cool gefunden, aber beim Techno und Dubstep hatte sie fast das Haus verlassen wollen) und natürlich an den Alkohol, an den Tequila. Bei wem hatte sie das gemacht? Bei Brandon? Wahrscheinlich. Brandon fand sie ganz süß, und er wäre der einzige, der für sie in Frage käme (insoweit ihr Urteilungsvermögen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Stich gelassen hatte, verstand sich). Er hatte zwar eine Freundin, aber auf einer Party war das Salzlecken von jemandes Hals doch nichts Schlimmes, oder? Außerdem hatte seine Freundin, wie auch immer die hieß, es ja nicht gesehen, zumindest glaubte Allie das nicht. Und jetzt – während sie barfuß in einem Käfig hockte, mit getrocknetem Blut auf Armen und Händen, mit schweißverklebten Haarsträhnen und verstaubten Klamotten, mit einer getrockneten Kotzpfütze neben sich – musste sie kichern. Sie musste kichern, und es schmerzte und fühlte sich herrlich an. Die Gedanken an diese beschissene Party und diesem beschissenen Tequila waren vielleicht die einzigen Gedanken, die ihr noch Trost zu schenken vermochten, ihr eine kleine Mauer vor der Wirklichkeit aufbauten.
Vielleicht werde ich das nie wiedersehen, dachte Allie, und ihr Kichern erstarb sofort, als ihr diese Worte in den Sinn kamen. Vielleicht werde ich das alles nie wiedersehen. Nie wieder Brandon, nie wieder Grace, nie wieder die Schule oder Mum oder Dad. Nie wieder in mein Zimmer gehen, nie wieder Musik hören, nie mehr Geburtstag haben oder Weihnachten feiern, niemals achtzehn werden oder Auto fahren oder arbeiten gehen oder eine Familie gründen.
Allie schluchzte.
Nie erfahren … nie erfahren, wie es ist, wenn … wenn man Kinder hat. Nie erfahren, wie es ist, sie zu lieben, von ihnen geliebt zu werden. Nie erfahren, wie es ist, wenn sie von der Schule wiederkehren und winkend mit einem Test in der Hand angelaufen kommen, weil sie wissen wollen, wie stolz ich auf ihnen bin, dass sie eine Eins geschrieben haben. Nie mit ihnen spielen. Nie mit ihnen streiten. Nie erfahren, wie es ist, wenn sie mich fragen, wie ich denn meine Kindheit verbracht habe. Nie in den Arm genommen werden oder einen Gutenachtkuss bekommen.
Meine Güte, meldete sich die andere Stimme zu Wort. Selbst erst plumpe sechzehn, und du bedauerst bereits, dass dir verwehrt wird, eine Familie zu gründen? Meine Liebe, das wird vielleicht dein entferntestes Problem sein. Nimm die Sonne, zum Beispiel. Wenn das hier so ausgeht, wie du es dir vorstellst, dann wirst du nie wieder Sonnenlicht sehen.
Allie zog den Nasenschleim hoch und wischte sich mit dem Arm durchs Gesicht. Sie ließ ihren Blick über die Vorderseite des Käfigs schweifen, und dabei kam ihr in den Sinn, dass sie zwar schon Stunden in diesem Ding hocken musste, aber noch überhaupt nicht nachgeschaut hatte, wo sich denn das Schloss befand. So stand sie mit zitternden Beinen auf und tastete an den Gitterstäben entlang. Nach kurzer Zeit berührte sie eine bogenförmige Fläche, dann strich ihre Fingerspitze über eine kleine, kantige Vertiefung. Ja, da war es. Keine verriegelte Deckenklappe, kein Geheimfach, sondern ein normales Vorhängeschloss. Allie drückte kurz dagegen und zog auch daran, doch neben dem leisen Rasseln von Ketten tat sich selbstverständlich nichts. Wenn sich etwas getan hätte, hätte sie sich gefragt, wie es ihre Entführer überhaupt hatten schaffen können, sie in diesen Käfig zu bekommen, ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern.
Seufzend setzte sie sich wieder hin. Überraschenderweise fühlte sie sich ziemlich ruhig. In ihrem Kopf war es leer, und ihr Blick fiel teilnahmslos und abwesend auf ihre Füße, die sich inzwischen leicht abgekühlt anfühlten. Es tat gut, für einen Moment keine Stimmen im Kopf zu hören, keinen wilden Gedankengängen ausgesetzt zu sein, sich davor zu verschließen, was vielleicht in drei Stunden oder drei Tagen sein mochte. Sie schloss die Augen und versuchte sich ein bisschen zu entspannen. Wie lange saß sie hier inzwischen eigentlich? Ihrem Gefühl nach waren es mindestens zwei Stunden, aber da ihr Urteilsvermögen ziemlich schlecht war – den Umständen entsprechend sogar noch schlechter – und die Zeit ihren Erfahrungen nach sowieso langsamer verging, wenn man wartete oder nichts tat, konnte das auch völlig falsch sein. Es spielte sowieso keine Rolle mehr, als sie wieder das Quietschen der Tür hörte. Sie machte die Augen auf und blickte in die Finsternis. Schritte näherten sich.
Es wird was anderes passieren, dachte sie plötzlich mit unheilvoller Stimme. Es wird anders ablaufen, weil ich mir bereits ausgemalt habe, was er jetzt tun wird. Das ist im Kino so, und in echt ist das auch so – weil das Leben echt gemein werden kann.
Aber es passierte nichts anderes. Sie hörte, wie die Person sich vor dem Käfig niederkniete, bevor zwei Hände durch die Gitterstäbe nach ihren Knöcheln griffen. Für einen kurzen Moment überlegte Allie, sich trotz Scherben nach hinten zurückzuziehen. Teufel, sie hätte die Dinger längst auf einen Haufen legen und es sich an der Wand gemütlich machen können, aber dann würde man ihr wohl nur noch mehr Flaschen oder Gläser in den Käfig werfen, solange, bis sie wieder wie ein dressiertes, braves Tier nach vorne kroch. Der Gedanke erfüllte sie mit Wut, und sie biss die Zähen zusammen.
Mit einem ruckartigen Stoß zog man sie nach vorn. Die Finger der Person hatten sich um ihre Waden verkrampft.
»Hose ausziehen«, ertönte es.
Es war eine raue, tiefe und natürlich männliche Stimme. Allie blickte in die Dunkelheit und versuchte zu erkennen, wie der Typ aussah, doch erkannte sie nicht mehr als den Schemen einer Kapuze.
»Hose ausziehen«, sagte die Person noch einmal.
Allie rührte sich nicht.
Plötzlich durchzuckte warmer, beißender Schmerz ihren rechten Spann. Sie zuckte zusammen und wollte die Beine zurückziehen, aber die Person hielt sie weiterhin fest. Allie spürte, wie Blut über ihren Fuß rann. Er hatte sie geschnitten.
»Hose ausziehen, oder ich schneid dir einen Fußnagel raus.«
Zögerlich gehorchte Allie. Und während sie ihren Reißverschluss aufmachte, die Legging-Jeans zaghaft von ihren Beinen zu streifen begann, kehrte sie zurück, jene Angst, jenes Donnergrollen in der Ferne – nur war es jetzt viel näher. »Bitte«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Bitte, ich möchte nur nach Hause. Ich will nicht mehr. Ich will das nicht mehr, bitte.«
»Hose ausziehen«, kam die Antwort.
Allie brach erneut in Tränen aus, und dann tat sie es, ehe noch ein zweiter Schnitt folgte oder er ihr wirklich einen Fußnagel herausriss. Schluchzend strampelte sie die Hose von ihren Beinen, und die Kälte, die daraufhin ihre Oberschenkel und Knie umhüllte, fühlte sich grässlich an, entblößend. Die Person zog die Hose über ihre Knöchel und dann nach draußen, in die andere Welt. Allie kauerte sich erneut zusammen, tat es aber diesmal nicht aus Schutz oder weil sie fror, sondern wegen der Demut. Leise weinte sie vor sich hin, während sich die Schritte wieder entfernten und eine Tür geschlossen wurde. Sie war wieder allein, in der Dunkelheit, in der Kälte, und verzweifelt wartete sie darauf, dass etwas kam, irgendetwas, das ihr neuen Mut bescherte, ihre Selbstachtung wieder aufbaute, ihr Hoffnung gab.
Aber da war nichts mehr.
Und mit der Gewissheit, nichts mehr tun zu können, rollte sie sich zusammen und ergab sich der Aussichtslosigkeit, die sich wie kaltes, dunkles Wasser in ihrem Innern ausbreitete.

 

Sie wachte erst wieder auf, als nach über zwei Stunden zum wiederholten Mal die Tür geöffnet wurde. Doch anstatt sich aufzusetzen, blieb Allie einfach liegen, starrte nur weiter vor sich auf den Boden, wie in Trance versetzt.
Die Schritte verharrten vor dem Käfig.
»Slip«, sagte die Person.
Allie sah auf.
»Slip ausziehen.«
Sie schloss die Augen. Wie lange war sie nun schon hier? Ob es bereits ein ganzer Tag war? Sie fühlte sich weder hungrig, noch durstig, noch hatte sie das Bedürfnis, auf Klo zu müssen – länger als einen Tag konnte es also nicht sein. Ihr Mund war fürchterlich trocken, aber das lag wohl mehr an den Folgen ihren Alkoholkonsums. Sie sollte dem Tequila eine Schweigeminute widmen …
»Slip ausziehen«, hörte sie wieder.
Allie rührte sich nicht. Sie starrte ins Leere, als wäre sie noch immer allein.
»Nein«, sagte sie.
Es kam keine Antwort. Natürlich nicht. Aber sie waren jetzt an einem Punkt angelangt, an dem ihr dieses drohende Schweigen egal sein konnte.
»Zieh ihn aus«, sagte die Person.
»Nein.«
Schweigen. Allie fühlte sich nicht einmal angespannt oder ängstlich, die Worte kamen einfach über ihre Lippen. Es war ihr ziemlich gleich.
Bis sie das Schlüsselklimpern hörte.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf das Tor, das sich so knarrend öffnete wie eine Friedhofspforte. Dann sah sie die Silhouette einer Gestalt, die den Schlüssel herauszog und um die Tür geschritten kam. Allies Herzschlag setzte aus. Durch ihren Körper fuhr so heftig Adrenalin, dass ihr der Atem stockte.
Die Person trat in den Käfig.
Machte die Tür zu.
Schloss ab.
Jetzt geht es los, dachte Allie.
Sie kroch zurück, bis an die linke Käfigseite. »Nein«, stieß sie leise aus. »Nein, nicht.«
Die Person – Allie konnte noch immer nicht mehr erkennen als die bloßen Umrisse –, steckte den Schlüssel in eine Jackentasche und machte einen Schritt auf sie zu.
Allie drückte sich gegen die Gitterstäbe. »B-Bitte …«
Ein zweiter Schritt.
»Bitte …«, flüsterte sie, und dann kam der dritte Schritt. Allies Atmung beschleunigte sich, sie verkrampfte ihre Finger um die Stäbe, während sie mit kugelrunden, wässrigen Augen der Gestalt entgegenblickte, die immer näher kam.
»Ich will nicht«, stieß sie aus.
Die Gestalt preschte vor und warf sich auf sie. Allie stieß einen quiekenden Schrei aus, bevor das Gewicht von dem Typen ihr die Luft abschnitt. Sie kreischte und sträubte sich, konnte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht spüren, seine reibende Jeans an ihren Beinen, eine Hand an ihrem Oberschenkel. Ihr linkes Bein pflügte durchs Scherbenmeer, und die Splitter bohrten sich in ihre Haut, ohne, dass sie es spürte. Die Person grapschte unter ihr Shirt, fuhr mit den flachen Händen an ihren Brüsten vorbei über ihre Hüften, und als sie zwischen ihre Beine wollte, handelte Allie instinktiv und reflexartig, fernab ihres bewussten Denkvermögens. Mit dem linken Arm tastete sie durch die Scherben, schnitt sich die Haut auf, bekam eine Scherbe zu fassen, groß und spitz wie ein Geodreieck, und holte aus – blind und ziellos und den Schmerz und das Blut ignorierend. Ihr Arm sauste durch die Luft, und sie hörte das Schmatzen, als die Scherbe in den Hals des Typen schlug, und sich durch sein Fleisch bohrte.
Der Kerl schrie auf. Allie ließ die Scherbe los, und Blut spritzte ihr ins Gesicht. Kreischend und windend fiel der Typ von ihr runter, direkt auf die Scherben. Allie kroch in die Ecke vom Käfig und schlang die Arme um die Beine. Undeutlich sah sie, wie er sich im Scherbenmeer wälzte, sich mit beiden Händen die Wunde zuhielt, wie das Blut zwischen seinen Fingern herausquoll, und wie seine Stimme immer schaumiger und kehliger wurde, als würde er an seinem eigenen Erbrochenen ersticken. Es dauerte vielleicht nur Sekunden. Doch es waren lange Sekunden. Schließlich wurden die Schreie leiser, schwollen zu einem Grummeln und Zucken ab, und dann, als hätte er sich genauso in den Schlaf geweint wie sie, rührte sich der Kerl nicht mehr.
Allie nahm kaum wahr, dass plötzlich Licht anging. Auf einmal glomm irgendwo im Raum eine Glühbirne auf, und nachdem sie gegen die Helligkeit angeblinzelt hatte, erkannte Allie erstmalig die glatte Zementwand hinter dem Käfig, die schwarzen, glänzenden Gitterstäbe, die rostige Metalldecke über ihrem Kopf, und auch die Dinge, die sich außerhalb ihrer kleinen, engen Welt befanden: Holzregale, Fässer, Werkzeuge und Kartons, alles verstaubt und von Spinnweben bedeckt. Das alles erkannte sie, und doch beachtete sie es nicht. Sie starrte auf den in den Scherben liegenden Jungen, dem ein fünfzehn Zentimeter langer Glassplitter aus dem Hals ragte, und um den sich eine Blutlache bildete.
Der Glassplitter musste an genau der Stelle im Hals stecken, an der sie das Salz heruntergeleckt hatte.
Sie hörte Schritte, diesmal jedoch viel mehrere und begleitet von Hektik. Aus dem Augenwinkel sah sie die Umrisse von Personen, die in den Keller stürmten und sich um den Käfig versammelten. Irgendwer schrie, und irgendjemand anderes übergab sich. All das nahm Allie nur durch einen nebligen Schleier wahr.
»Sie hat ihn umgebracht!«, hörte sie eine weibliche Stimme kreischen. »Sie hat ihn umgebracht! Sie hat ihn umgebracht! Sie hat ihn umgebracht!« Das Mädchen brach in Tränen aus. Allie meinte zu hören, wie es zusammenbrach, aber auch das nur vage.
»Sie hat ihn umgebracht …«, wimmerte das Mädchen weiter.
Dann waren da wieder Schritte, und im nächsten Moment öffnete jemand die Käfigpforte. Allie blinzelte und blickte zu der Person empor, deren Klamotten sie sich ausgeliehen hatte und noch immer trug, beziehungsweise getragen hatte.
»Allie …«, stieß Grace aus und kniete sich vor ihr nieder, offenbar ungeachtet der blutüberströmten Leiche des Starfootballspielers der Highschool neben sich. Sie strich Allie über die Schultern und sah sie mit großen, schockierten Augen an. »Allie, mein Gott, was … was hast du getan?«
Allie sah Grace in die Augen. Einfach nur in die Augen.
»Du hast ihn ermordet«, flüsterte Grace.
Schweigen. Irgendwo in der Ferne weinte noch immer Brandons Freundin.
»Er … er wollte mich vergewaltigen«, wisperte Allie.
Grace‘ Augen weiteten sich noch mehr. »Vergewaltigen? Allie, was … was redest du da?«
»Er wollte mich vergewaltigen!«, schrie sie. Tränen strömten ihr übers Gesicht. »Er wollte mich vergewaltigen! Er hat mich in diesen Käfig gesperrt! Er hat mir das angetan! Er! ER!«
»Allie …«, stieß Grace flüsternd aus. Sie packte Allie noch fester bei den Schultern und schluckte. »Allie, Süße … das war ein Scherz. Das war alles ein Scherz.«
Allies Tränenfluss versiegte, und sie meinte, dass auch ihr Herz kurz stehenblieb. »W-Was?«
»Wir haben dir einen Streich gespielt, Allie«, sagte Grace, langsam und atemlos. »Einen Streich. Alles. Es war … es war Melissas Idee.«
Melissa schrie auf. So hieß sie, stimmt. Das war ihr Name. Brandons Freundin. Brandons Freundin Melissa.
»Du hast dich gestern an ihn rangemacht«, sagte Grace. Sie strich Allie immer wieder über die Schultern. »Süße, du wolltest was von ihm. Du warst noch nie so betrunken gewesen. Ich hab dir gesagt, übertreib’s nicht, aber du hast nicht gehört. Du hast ihm Salz vom Hals geleckt, und dann wolltest du ihn küssen. Melissa hat das gesehen. Sie ist aus dem Raum gestürmt, und Brandon ist hinterher. Sie hat ihm verziehen, aber sie wollte … sie wollte es dir heimzahlen. Nur zum Spaß.« Im Hintergrund schrie Melissa ein zweites Mal auf, doch Grace fuhr unbeirrt fort. »Du hast es einfach hingenommen, Allie. Du warst bei Bewusstsein, als dich zwei von Brandons Freunden hier runtergeschleppt haben, und deshalb dachten wir, du wüsstest, was abläuft. Das ist jetzt bald sechs Stunden her. Es ist zehn Uhr morgens.« Plötzlich kullerte auch Grace eine Träne aus dem Auge, und sie schluchzte. »Wir dachten, du spielst einfach mit. Wir haben kaum geschlafen, die meisten sind schon weg oder schlafen oben ihren Rausch aus, und wir … wir dachten, du verarscht uns mit deinem Geheule und Gejammer bloß, um uns ein schlechtes Gewissen zu machen. Wir wollten dir doch nur einen kleinen Schrecken einjagen. Wir wussten nicht, wie weit Brandon geht. Allie, o Gott, Allie … wir hatten ja keine Ahnung.«
Grace schlang die Arme um sie. Allie sah an ihr vorbei, in die Welt außerhalb des Käfigs. Da waren Melissa, die zusammengesunken auf einer Kiste hockte, das Gesicht in den Händen vergraben hatte und weinte, da waren zwei Mädchen, die sie bei den Schultern hielten und trösteten, da war eine Gruppe Schaulustiger an der Treppe, die rauf zur Kellertür führte. All die Gäste von der Party. All ihre Mitschüler und Freunde und Freundinnen und links von ihr ein toter Junge. Ein Junge, den sie umgebracht hatte.
»E-Ein Streich?«, stieß sie aus und sah Grace an. »Ein Streich? Ein Scherz?«
Grace schluchzte. Dann nickte sie.
Allie sah an ihr vorbei, in die Gesichter der anderen. Dann sah sie wieder ins Gesicht ihrer Freundin, und dann auf Brandon. Den ersten Jungen, den sie so wirklich gemocht hatte.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, bevor ihr schwarz vor Augen wurde, war der taube Schmerz in ihrem Kiefer, als sie ihren Mund aufriss, und zu kreischen begann.
Dann fiel sie nach vorne in die Arme ihrer Freundin, und dann setzte alles aus. Alles wurde dunkel.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Marcel Hartlage).
Der Beitrag wurde von Marcel Hartlage auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Marcel Hartlage als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die Töchter der Elemente: Teil 1 - Der Aufbruch von Christiane Mielck-Retzdorff



Der Fantasie-Roman „Die Töchter der Elemente“ handelt von den Erlebnissen der vier jungen Magierinnen auf einer fernen Planetin. Die jungen Frauen müssen sich nach Jahren der Isolation zwischen den menschenähnlichen Mapas und anderen Wesen erst zurecht finden. Doch das Böse greift nach ihnen und ihren neuen Freunden. Sie müssen ihre Kräfte bündeln, um das Böse zu vertreiben. Das wird ein Abenteuer voller Gefahren, Herausforderungen und verwirrten Gefühlen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Horror" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Marcel Hartlage

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Spiegel von Marcel Hartlage (Horror)
Ein ganz normaler Schultag... von Carrie Winter (Horror)
Eine seltsame Liebeserklärung von Dieter Hoppe (Freundschaft)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen