Fred Schmidt

Kindheitserinnerungen

 
 
Ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers kam ich zur Welt. Es dauerte natürlich Jahre, bis ich begriff, was das bedeutete. Überhaupt weiß ich nur vom Hörensagen, was mit mir in den ersten zwei Jahren passierte. Geboren wurde ich in Solingen-Höhscheid, im Lindenhof. Der war, was man in Solingen als eine Hofschaft bezeichnete, eine Ansammlung von bergischen Fachwerkhäusern. Ich wurde in einem der größten geboren, dessen Eigentümer Lütters hießen. Also wurde ich bei Lütters geboren, und das Haus lag unmittelbar an der Hauptstraße, der Neuenhofer Straße, von der eine Seitenstraße in den Lindenhof rechtwinkling abbog.
Dort wohnte ich mit meinen Eltern und meinem Bruder Willi die ersten beiden Lebensjahre. Erinnerungen habe ich, wie gesagt, keine daran. Geboren bin ich acht Jahre nach meinem Bruder, der mich gerne Siegfried genannt hätte, weil er so viele germanische Heldensagen gelesen hatte. Aber meine Mutter bevorzugte den Namen Friedhold, weil sie ein junger Mann dieses Namens in Hessen, wo wir viele Verwandten hatten, sehr beeindruckt hatte. So erhielt ich einen Doppelnamen Friedhold Siegfried, und als mein Bruder erfuhr, daß mein Rufname Friedhold war, lief er schimpfend umher und schrie „Friedhold – Driethold, Friedhold – Driethold“. Er hatte ja Recht, denn in diesem Alter muß man ja noch in die Windeln „drieten“ (scheißen). 
Beinahe hätte ich die ersten beiden Jahre gar nicht überlebt. Wie man mir nachträglich erzählte, wäre ich beinahe mit meinem Bruder Willi zusammen in einer Sylvesternacht verbrannt. Unsere Eltern feierten mit Onkeln und Tanten und vielen alkoholischen Getränken die Ankunft des neuen Jahres. Wir Kinder blieben in unserem Zimmer mit  Kerzen, die wohl irgendwie Vorhänge in Brand gesteckt hatten, und wenn nicht per Zufall der noch halbwegs nüchterne Onkel Karl  hereingekommen wäre, hätte möglicherweise das ganze Haus bald in Flammen gestanden und diese Zeilen hätten sich erübrigt.
Sonst habe ich über mich aus dieser Zeit nichts erfahren, wohl aber über meinen Bruder, der ja auch acht Jahre älter war und deshalb eher darauf Anspruch hatte, Geschichten zu hinterlassen. Nicht daß ich mich hier lange darüber auslassen möchte, daß er unter Würmern und Langeweile sehr zu leiden hatte, aber es ist mir zu Ohren gekommen, daß er immer klagte, er habe nichts zu tun. Davon konnnten ihn auch seine Weihnachtsgeschenke nicht erlösen, denn statt sich mit ihnen zu beschäftigen, nahm er lieber einen Hammer und  schlug kleine Nägelchen ins Treppengeländer des Hauses, in dem er vor meiner Geburt mit unseren Eltern wohnte. Später dann, als ich schon da war, trieb er sich mit Freunden in der Gegend herum, setzte sich auf den Schaufenstersims der Bäckerei Schöneshöver, schob einen dünnen Stock durch das Kondenzwasserloch und wedelte mit dem Stock energisch, so daß die zu Ostern ausgestellten Schokoladenhasen, Eier und Hühnchen nur so herumwirbelten. Ein andermal schmolz er die Schokoladendekoration mit seinem Brennglas zu unansehnlichen braunen Haufen, was die Beschwerden der Konditorsleute und eine Tracht Prügel für meinen Bruder Willi zur Folge hatte.
 
Meine Erinnerungen werden erst rege, nachdem meine Eltern sich entschlossen, ins Weinsbergtal umzuziehen. Weinsberg war und ist wahrscheinlich immer noch eine Hofschaft wie der Lindenhof, aber es lag weiter auf dem Lande, abseits vom Hauptverkehr und ruhiger. Wahrscheinlich war auch die Miete geringer, was einer vierköpfigen Familie mit geringem Einkommen sehr zustatten kam. Daß ich dort sehr bald einem Unfall zum Opfer fiel, weiß ich auch nur vom Hörensagen. Bruder Willi und seine neuen Freunde fegten mit ihren Rädern die abschüssigen Wege in der Hofschaft herab und konnten nicht mehr rechtzeitig anhalten oder ausweichen, als plötzlich ich dreijähriger Knirps ihre Fahrbahn kreuzte. Ich wurde über den Haufen gefahren, was Gebrüll und ein Loch mitten auf meiner Stirn zur Folge hatte, das der Arzt, zu dem mich meine erschrockene Mutter umgehend brachte, mit Fleisch aus meinem Hintern flicken wollte. Da das meine Mutter aber nun gar nicht wollte, behielt ich eine Narbe auf der Stirn wie ein Kainszeichen, aber nicht auch noch zusätzlich eine an meinem Hinterteil.
Allmählich blieben nun die Ereignisse meines jungen Lebens in meiner Erinnerung hängen. Wir wohnten Wand an Wand mit unseren Nachbarn Kohn, die mir jedesmal, wenn sie Speck für ihr Essen ausgelassen hatten, an die Wand klopften, worauf ich schleunigst nach nebenan flitzte, um die Speckgrieben zu verzehren, die zu meiner Lieblingsspeise wurden. Im unteren Bereich des Hauses, das am Hang lag, hatte ein anderer Nachbar namens Höhmann seinen Kotten (Werkstatt), in dem er seinem Handwerk als Messerreider nachging, d.h. er setzte Taschenmesser jeglicher Machart zusammen mit Klingen und diversen Werkzeugen. Für mich war es ein tägliches Vergnügen, ihn zu besuchen und ihm bei der Arbeit zuzusehen. Herr Höhmann war witzig und unter anderem Bauchredner, was er dazu benutzte, um mich wieder loszuwerden, indem er verlauten ließ: „Friedhold, komm herop un hol dir en Botter (Butterbrot)“, worauf ich, der immer gerne was zu essen hatte, nach oben zu meiner Mutter eilte, die von nichts wußte. Bei einer anderen Nachbarin, Frau Ficker, deren Namen mir natürlich nichts sagte, die aber eine gute Freundin unserer Familie sein mußte, stahl ich jeden Morgen ein Brötchen aus der Tüte, die der Bäcker an ihrer Türe deponierte, aber das wurde wohlwollend geduldet. 
Und dann war da noch das Erlebnis mit Frau Höhmann, der Frau des Bauchredners, die ich wie eine Großmutter liebte und bei der ich Stunden zu Hause verbrachte, weil sie ja nur auf der anderen Straßenseite wohnte. Sie hatte viel Geduld und erzählte mir stundenlang Geschichten und Märchen, und ich hätte mir nichts Schöneres wünschen können. Eines Tages erzählte sie mir „Hänsel und Gretel“, wo bekanntlich ja eine Hexe eine wesentliche Rolle spielt. Ich hing gebannt an ihren Lippen, und als sie mich am Ende fragte, ob ich denn mal eine Hexe sehen wolle, nickte ich ihr begierig zu, worauf sie ihr Gebiß aus dem Mund nahm und mich anstarrte und grinste. Das war dann doch zuviel für mich, und ich nahm schreiend Reißaus. Danach habe ich Frau Höhmann nie wieder besucht.
Dagegen zog mich der in der Hofschaft wohnende Bauer, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, immer mehr an, weil es auf seinem Hof interessante Tiere zu beobachten gab. Das interessanteste und auch größte dieser Tiere war sein Pferd, ein dicker kaltblütiger Belgier, eine Rasse, die man heute kaum noch zu Gesicht bekommen kann. Am meisten faszinierte es mich, wenn er mit diesem Pferd auf seinem nahegelegenen Feld Jauche ausfuhr, die dann hinten aus seinem Kübelwagen zischend heraussprizte. Diese Arbeit ahmte ich mit meinem Schaukelpferd und Dreirad dann am Feldrand nach und vergaß mich dabei so sehr, daß ich einmal nicht schnell genug nach Hause zum Klo kam und folglich dann selbst Jauche in der Hose hatte.
Alle Häuser der Hofschaft Weinsberg waren typische bergische Fachwerk- und Schieferhäuser. An der Ecke der Einfahrt zur Hofschaft stand das einzige massive zweieinhalbstöckige verputzte Steinhaus, in dem der Besitzer namens Paul Schmitz seinen Lebensmittelladen unterhielt. Herr Schmitz war etwa Mitte fünfzig, ein großer, etwas beleibter Mann mit rundem, glattrasiertem Gesicht, der meist eine schwarze Strickjacke mit zwei Reihen großer Knöpfe auf der Brust trug. Ein Lebensmittelladen bestand zu jener Zeit aus einer Theke mit Waage, Regalen und vielen Schubläden, in denen sich Zucker, Salz, Mehl, Nudeln, Hülsenfrüchte und anderes befand, das Herr Schmitz oder seine ältliche, unscheinbare Frau für die Kunden in Tüten füllte und abwog. Milch wurde vom Bauer angeliefert in großen Kannen und literweise abgefüllt , vom Bäcker geliefertes Brot lag auf der Theke oder in den Regalen, wo  auch Büchsen oder Gläser mit Gemüse standen. Dazu gab es auch alle möglichen Haushaltwaren, Putzmittel usw. 
Ich begleitete meine Mutter immer sehr gern zu diesem Laden, denn Herr und Frau Schmitz waren joviale Leute mit viel Herz für Kinder, so daß für mich immer ein Bonbon oder Plätzchen herüberkam. Sie hatten auch ein Herz für ihre Kunden, die fast ausschließlich einfache Arbeiter und wie auch meine Eltern recht arm waren. Das wußten die Schmitz, weshalb man bei ihnen „anschreiben lassen“ konnte, bis man wieder Geld hatte, und Geld hatte man eigentlich immer nur freitags, wenn Vater mit dem Wochenlohn in seiner Lohntüte nach Hause kam. Und dann wurden die Schulden bei Schmitz getilgt. Wenn es mal nicht reichte, waren die Schmitz auch bereit, weiterhin zu stunden. 
Eines Tags sagte Herr Schmitz zu mir Knirps, als ich wieder mal mit Mutter in seinem Laden war: „Jong. Ech glöv, ech han jet für dech. Om Ouler han ech noch en staatse Jicke. Dat wör doch jet für dech. Ech well direckt ens jon on se herongerholen.“ Ja, zu der Zeit sprach man in Arbeiterkreisen in Solingen nur Platt, und das verstand ich natürlich auch mit vier Jahren schon. Nur was „en Jicke“ war, wußte ich nicht. Ich wartete also gespannt, bis Herr Schmitz vom Speicher seines Hauses zurückkehrte ... mit einer wunderbaren, selbsgebauten “Seifenkiste“, vier Kinderwagenräder unter ein massives Holzbrett montiert und darauf eine hölzerne Lenksäule mit einem fünften Rad, das durch Drähte mit der Vorderachse verbunden war, die sich auf diese Weise steuern ließ. An den Seiten waren hölzerne Hebel befestigt, mit denen man die „Jicke“ bremsen konnte. Ich war begeistert und ebenso meine Mutter, die es sich nicht nehmen ließ, eine erste Fahrt mit mir anzutreten. So wurde ich zum erstenmal in meinem leben Autobesitzer, was ich weidlich ausnutzte auf den abschüssigen Wegen der Hofschaft Weinsberg.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.01.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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