Gregor Fischer

Das Mädchen und der Oger

In den nördlichen Ruinen bekam man auf den Sklavenmärkten für einen strammen Burschen einen ganzen Sack Münzen. Die Viehtreiber aus Meatmarket verheizten ihre Arbeiter schneller, als die Sklavenjäger sich die Hände reiben konnten. Auch im großen Schlachthaus passierten genug Unfälle, dass immer Bedarf nach Männern mit Muskeln und starkem Magen bestand. Selbst die Alten, die Lesen und Schreiben konnten, taugten noch als Schreiber oder Buchhalter.
Mädchen dagegen brauchte man im Norden nur für einen Zweck.

Quaid hatte die Kapuze gegen den Regen hochgezogen und betrachtete die Käfige, in denen die Sklaven angebunden waren. Die Fackel knisterte, das Licht glitzerte schwarz in ihren Augen. Man spürte ihre Angst. In der Miene des Jägers spiegelten sich allerlei Gefühle, von Ekel, Widerwillen bis hin zu Mitleid, doch das prägnanteste unter ihnen war ein nagendes Gewissen.
„Das ist der Verräter“, flüsterte eine Frau aus der Masse angklagend.
Von Norden her zog ein Gewitter auf und ein Blitz zuckte in der Ferne durch den bleiernen Horizont. Er kam näher und die Gefangenen zuckten zusammen. Sie wichen vor ihm zurück, wie Kakerlaken vor einer Laterne. Sie erinnerten sich an sein Gesicht, knöchrig wie eine Eiche, das vor zwei Tagen in ihr Dorf geschneit war. Der graue Zopf, die hagere Statur – er wirkte wie ein alter Wolf auf der Suche nach der Heimat.
Es war stets eine ähnliche Routine.
Er fragte höflich nach dem Weg und erzählte von einer beschwerlichen Reise durch ein nahgelegenes Sperrgebiet, um etwas Tand und Glitzerkram gegen frisches Wasser aus den Brunnen tauschen zu dürfen. Abends, kurz bevor er wieder aufbrach, spendierte er den Wachen an den Toren und Zäunen immer noch eine Runde, dass sie ja die Augen aufhielten.
Dann verschwand er wieder so lautlos, wie er gekommen war.
Kurz darauf kamen der Oger und seine Treiber.
Ich habe ihnen nur den Weg gezeigt, hörte Quaid sich denken, sonst habe ich doch nichts getan?
„Glotzt mich nicht so an“, schnauzte er, „ich tue euch nichts. Nichts, verstanden? Seht ihr das Messer hier?“ Er zückte das kleine Wildmesser aus der Lederscheide an seinem Gürtel. „Es ist sehr scharf, also seid vorsichtig. Ich vergrabe es hier vor dem Käfig im Schlamm, habt ihr verstanden? Wenn ich wieder weg bin, könnt ihr es ausbuddeln. Der Käfig ist aus Holz, die Seile sind nicht dick. Nehmt es um euch zu befreien. Aber egal was passiert, haltet euch vom Treibstofflager fern, hört ihr?“
Die Gefangenen glotzten ihn versteinert an, wie Holzpuppen. Er warf das Messer in den Matsch, schaufelte es mit dem Stiefel zu, nicht sicher für wen er das tat – sie, oder sein Gewissen.
Was kümmerte es mich?
Die Freiheit liegt ihnen vor den Füßen, dachte er, zugreifen müssen sie selbst. Mehr kann ich nicht tun.
„Was ist mit dem Mädchen?“
Eine Frau drängte sich nach vorne an das hölzerne Gitter, ihr Gesicht war verklebt von Ruß und getrockneten Tränen. Den Lumpen, die sie trug, haftete ein Gestank wie von einem Benzinfass an. Sie musste nur knapp dem Feuertod entgangen sein.
„Ich weiß nicht, von welchem Mädchen du sprichst.“
„Der kleine Mann hat sie geholt, mit der Narbe auf der Glatze.“
„Du meinst Taggard.“
„Er hat ihr einen Eisenkragen umgelegt und mitgenommen. Dort hinüber, in das große Zelt hat er sie gebracht.“
Er brauchte dem Fingerzeig des dürren Weibs nicht zu folgen, er wusste auch so, auf welches Zelt sie zeigte. Es war das größte von ihnen. Wegen des Stallgeruchs bauten die Männer ihre Lager immer im größtmöglichen Abstand zum Zelt des Ogers.
„Hör mir zu, damit habe ich nichts zu schaffen.“
„Aber was wird mit ihr passieren?“ wollte die Frau erfahren und griff nach Quaids Arm. „Was hat er mit ihr vor?“
„Er ist ein Mutant, verdammt. Du kannst es dir doch bestimmt denken.“
„Lass sie nicht alleine dort zurück!“
„Warum sollte mich das Gör kümmern?“
„Aus dem selben Grund, aus dem du gerade das Messer im Dreck vergraben hast.“
Quaid setzte zu einer Antwort an, als eines der Zelte sich öffnete und ein bärtiger Kerl daraus hervorkroch. Er ächzte und streckte knackend die Glieder.
„Was guckst du denn so bedröppelt, alte Schlampe?“ Er baute sich vor dem Käfig auf und öffnete den Reißverschluss. „Hast wohl noch nie eine Anaconda gesehen, was?“
Lachend pisste er den Gefangenen auf die Füße, während hinter ihm der Jäger in den Schatten verschwand.

Er tauchte zwischen den Zelten ab und drückte sich wie ein Schatten durch den engen Kanal der Nylonwände. Am anderen Ende tauchte er auf und schlenderte plötzlich harmlos in Richtung der großen Feuerstelle. Drei Plastikstühle knackten und ebenso viele Männer reckten ihre Hälse, um zu sehen, wer dort aus der Dunkelheit kam.
„Sag bloß, es ist wieder soweit, Quaid. Schleichst du herum und suchst nach einem Fleckchen, von dem aus du den Mond anheulen kannst?“
Die Männer lachten und im nahenden Frost warf ihr Gelächter Wolken. Um ihre Schultern hatten sie schwere Decken geschlungen. Vom Feuer und vom Schnaps leuchteten ihre Visagen rot wie Pavianärsche. Der Witzbold in der Mitte war Taggard, der Sklavenmeister. Er war außerdem die rechte Hand des Ogers. Über seinen Schädel zog sich eine Narbe wie eine Furche im Acker.
„Halt dich an der Flasche fest, Taggard“, erwiderte Quaid im Vorbeigehen, die Hände in den Manteltaschen „sonst kippst du noch aus dem Stuhl. Ich vertrete mir nur die Beine.“
„Bist du dir zu gut, dich hinzusetzen und mit uns einen Schluck gegen die Kälte zu nehmen?“
„Heute nicht, ich bin müde. Ist der Oger noch auf der Jagd?“
„Das ist er. Aber er wird sich beeilen, wieder nachhause zu kommen, wenn das Essen wartet.“
Taggard lachte und entblösste dabei die Lücken und fauligen Stümpfe, die ihm noch als Zähne geblieben waren. Seine zwei fies aussehenden Kumpanen in den Plastikstühlen stimmten mit ein, wobei einer fast betrunken hinten überfiel.
Quaid guckte irritiert.
„Irgendetwas, das ich wissen sollte, Taggard?“
„Hast du die Kleine nicht gesehen, Wolfsmann? Es ist wieder so weit.“
„Wen zum Teufel meinst du?“
„Sie werden von Mal zu Mal jünger, Quaid. Die Neue ist gerade mal elf. Nicht mehr lange, und wir rauben Kinderkrippen für ihn aus. Er ist ein Mutant, verdammt. Ich weiß nicht, was er in seinem Zelt da mit ihnen treibt. Aber wenn er keine bekommt, wird er unruhig und verliert die Kontrolle. Es ist für uns alle besser, wenn wir zusehen, dass er Nachschub kriegt.“ Taggard nahm einen Schluck aus der Flasche, spuckte aus. „Dabei ist die Kleine echt hübsch, verdammt. Augen wie Kastanien. Wenn sie noch Jungfrau ist, kenne ich in Meatmarket ein, zwei Züchter, die sich die Finger nach ihr lecken würden.“
„Ich bin mir sicher, du würdest einen Spitzenpreis aushandeln.“
„Da kannst du Gift drauf nehmen“, zischte Taggard und gab die Flasche weiter. „Morgen knöpfen wir uns das Dorf oben am Ende des Flusses vor, sagt der Boss. Hübsche Mädchen hocken da auf ihren zarten Jungfernhäutchen, Wolfsmann. Sieh zu, dass du schlafen gehst. Du musst fit sein. Müde bist du nur totes Fleisch.“
Quaid nickte und überließ mit ernster Miene Taggard und die Söldner wieder dem Schnaps.

Er ging an den Zelten vorbei in Richtung der Uferböschung, wo man ihn öfters um diese Zeit antreffen konnte. Der Regen tropfte von seiner Kapuze, er fror, als er ein Geräusch hörte und widerwillig seinen Schritt anhielt. Niemand beobachtete ihn, dessen versicherte er sich mit einem Schulterblick. Dann lauschte er.
Es klang wie das gedämpfte Winseln einer Hündin, die im hohen Gras ihre Jungen auspresst. Das Schluchzen war erbärmlich. Quaid ahnte, wer dort weinte.
„Dafür habe ich keine Zeit“, knurrte der Jäger nervös und schielte zum Treibstoffdepot. Er wollte weitergehen und das Geräusch einfach ignorieren, als sich etwas im Zelt bewegte und sich die dünne Nylonplane wölbte. Das Muster einer Hand zeichnete sich ab und fuhr von innen über den Stoff.
Eine rostige Metallschere schnitt ihm ins Gedärm, zerteilte genüsslich seine Eingeweide.
So fühlte es sich zumindest an, denn er erinnerte sich an das erste Kind, das im Zelt des Ogers verschwunden war. Nie hatte Quaid soviel gesoffen, wie in dieser Nacht, als die Schreie aus dem Zelt durch das Lager gehallt waren.
Grimmig warf er einen Blick über die Schulter zum Feuer, wo Taggard und die Anderen lachten.
Dann verschwand er lautlos hinter dem Vorhang in das Zelt.

Im Inneren des Zelts fühlte Quaid sich, als hätte er einen Schweinestall betreten. Die Luft war stickig, klebte ihm im Gesicht und zwischen den Fingern. Stroh lag auf dem Boden verstreut, durcheinander als hätte eine Familie Ferkel sich darin gewälzt. Licht gab es keins. Quaid glaubte nicht an die Gerüchte, nach denen der Oger im Dunkeln sehen konnte – er hatte vielmehr eine feine Nase, mit der er seine Beute erschnüffelte. Wie er jedoch den Gestank in seinem Quartier aushalten konnte, war Quaid schleierhaft.
Seine Pupillen nahmen sich ihre liebe Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber Quaid brauchte auch nicht lange. Das raschelnde Stroh war nicht zu überhören. Außerdem gab es in einem fünf mal fünf Schritt großen Zelt nicht viel Gelegenheit, sich zu verstecken. In der rechten hinteren Ecke bewegte sich ein kleiner dunkler Fleck und Quaid trat näher, um nachzusehen. Sofort stieg ihm der scharfe Ton frischen Urins in die Nase und der Jäger machte einen Schritt über die Pfütze hinweg, wo das Mädchen sich gezwungenermaßen entleert hatte. Als seine Augen sich endlich angepasst hatten, brach ihm der Anblick fast das Herz.
Die Kleine konnte kaum älter sein als zehn oder elf Jahre. So ein junges Ding, dachte Quaid, und unterdrückte eine überraschend aufkommende Übelkeit. Was hat er nur mit ihr vor?
Von ihrem dünnen Hals baumelte ein Eisenkragen, den man sonst für einen Bullen gebraucht hätte. Die Kette verschwand an eine Karabiner im Boden, sodass dem Mädchen nur ein kleiner Radius blieb, in dem sie wie ein Hund kriechen konnte. Dass sie stand, war nicht vorgesehen. Ihr Gesicht wirkte nicht nur aufgrund des schlechten Lichts schwarz; Dreck und Schmutz verklebten ihre Haare, setzten sich unter den Fingernägeln fest und machten aus ihrem sonst süßen Gesicht das Antlitz eines Flüchtlings. Sie trug keine Kleidung, nur einen alten Kartoffelsack um ihre Schultern.
Quaid schaute sie lange an. Ich habe keine Zeit, dachte er wieder. Ich hab getan, was ich konnte. Jetzt muss ich an mich denken. Der Oger zieht mir die Haut ab. Zum Teufel mit diesem Mädchen, sie sitzt ja nicht in meinem Zelt!
Da meldete sich in Quaids Eingeweiden das selbe Ziehen wieder zu Wort, das ihn bereits ins Zelt geführt hatte. Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Die Augen des Mädchens flackerten wässrig. Sie zuckte wie eine verängstigte Ratte, als Quaid seine Hand nach ihrem Hals ausstreckte.
„Wehe, du beißt mich“, knurrte er und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Es klimperte kurz, er nahm seinen Schlüssel vom Gürtel, dann machte es 'Klick!'. Er hob den Kragen von den Schultern des Mädchens und legte ihn leise ins Heu.
„Komm“, sagte er knapp und reichte ihr die Hand. Der apathische Blick der Kleinen wanderte von den knorrigen Falten auf Quaids Gesicht zu seiner Pranke. Wahrscheinlich merkte sie selbst nicht, wie sehr sie zitterte. Sie starrte nur auf das Angebot des Jägers, als verstünde sie die Sprache nicht, während unbemerkt eine Träne aus ihrem Auge floss. „Komm schon“, wiederholte Quaid drängender, aber die Gefangenen zeigte keine Reaktion. Ich habe keine Zeit dafür, dachte er wieder und stand auf. Es fühlte sich kaum anders an als geschossenes Reh zu tragen, als er das Mädchen vom Boden aufhob und unter seinem Mantel versteckt nach draußen in den Regen trug.

„Macht die Käfige auf, ihr müden Penner! Frischfleisch im Anmarsch!“ Taggard war auf einmal wieder auf Hochtouren, seine Wangen glühten rot wie die Kohlen im Feuer. Trotz seines gehörigen Pegels hielt er sich stramm, als durch Regen und am Horizont grollenden Donner in das Lager drei Reiter geritten kamen. Schlamm spritzte, die Tiere scharrten unruhig mit den Hufen; man hörte das Klirren der Ketten, wie sie von den Sätteln gelöst wurden. Zwei der Reiter stiegen ab, der Regen tropfte ihnen von den Bärten. Sie sahen ebenso müde aus, wie ihre Gefährten, die eilig aus den Zelten krochen und Fackeln brachten. Am Ende der Ketten hingen die Hälse von zwölf bemitleidenswerten Männern und Frauen. Mit den Knien im Schlamm ertrugen sie den herab prasselnden Regen, spürten die Tropfen auf ihren Köpfen und fühlten sich wie begossene Pudel. Sie waren vor dem Heuschreckenangriff des Ogers geflohen. Offenbar nicht weit genug. Der Oger hatte sie im Unterholz aufgespürt. Und er mochte es nicht, wenn er Flüchtlingen folgen musste.
„Da hat sich der Aufwand ja gelohnt“, stellte Taggard fachmännisch fest, während er dem ersten Gefangenen das Maul aufriss und die Kiefer inspizierte. Der Mann, der vor ihm kniete, hatte sehnige Muskeln, wirkte vital und gesund, ein Bauer mit Hang zur körperlichen Arbeit. „Dem hier“, bemerkte er beim nächsten in der Reihe, „müssen wir aber ein paar Zähne ziehen, sonst faulen sie ihm weg. Nicht, dass sich die Viehtreiber im Norden große Sorgen um die Hygiene ihrer Feldarbeiter machen, aber schlechte Zähne hinterlassen einen schlechten Eindruck beim Einkauf, verstehst du, Boss?“
Der dritte Reiter an der Spitze blieb auf seiner pechschwarzen Stute sitzen und sah zu, wie die Männer die eingefangenen Sklaven vor ihm aufreihten. Die Dämmerung hatte sich zur Nacht gewandelt, und abseits das Fackelscheins war von ihm nicht mehr zu erkennen, als eine gigantische Silhouette. Er lauerte am Rand des Geschehens, wie eine teerfarbene Bestie. Das Tier unter ihm schnaubte verächtlich, stampfte mit den Hufen auf. Ungeduldig wartete es auf ein Zeichen.
„Sperr sie in die Käfige“, hörte man den Schatten auf der Stute mehr bellen als sprechen, denn seine Stimme klang unmenschlich, fast wie von einem Tier. „Schaff Platz, wenn du musst und sortier die Kranken aus. Bind ihnen Steine an die Füße und versenk sie im Fluss. Der bissigen Schlampe da“ - sein Arm hob sich und deutete auf eine Frau an der Kette, die Flüche in Richtung der Sklavenjäger spie - „ihr rupfst du die Zähne. Bis zum letzten Stumpf. Die stören nur bei der Arbeit, die sie künftig leisten wird.“
Das Lager quittierte den Befehl mit einem boshaften Lachen.
„Jawohl Boss, mit Vergnügen“, rieb sich Taggard die Hände.
„Ist sie da?“
„Es ist angerichtet, Boss. In deinem Zelt.“
„Wie sieht sie aus?“
„Ein Engel, Boss.“
„Ich will nicht gestört werden.“
„Wirst du nicht, Boss. Viel Spaß.“
Die pechschwarze Stute des Ogers wieherte, als er sie herumriss und in Richtung der Ställe führte. Für Quaid war dies der Moment, sich endgültig zum Flussufer zu orientieren. Das Mädchen unter seinem Mantel bibberte und schielte apathisch in die sie umgebende Dunkelheit. Der Jäger fragte sich, ob der Weg mit der Kleinen überhaupt zu schaffen war. Schattengleich tauchte er zwischen den Zelten ab. Hinter ihnen hörte man den Tumult der Gefangenen, die stolz oder dumm genug waren, sich zu wehren und nun die Peitsche zu spüren bekamen. Das bissige Weib schrie und spuckte, versuchte ihre Peiniger zu treten. Taggards dreckige Lache verhöhnte sie. Da hörte man das Klatschen ihres Speichels, wie es den Sklavenmeister ins Gesicht traf. Die Lache verstummte. Kurz darauf klimperten rostige Zangen; Quaid drückte das Mädchen fester an sich, in der Hoffnung sein Herzschlag übertöne die Schreie des bissigen Weibs.

Die Lagergrenze lag direkt vor ihnen. Das feuchte Gras duftete nach Freiheit. Ein Lurch floh vor Quaids Sohlen und sprang in eine Pfütze, als der Jäger abrupt Halt machte und stehen blieb. Das Mädchen an seiner Brust spürte, wie sein Herz eine Sekunde aussetzte. Es war merkwürdig, denn auf einmal entspannte er sich, richtete sich auf und reckte die Schultern. Er ließ demonstrativ seine Nackenwirbel knacken, als mache er sich bereits ins Bett zu gehen.. Geräuschvoll zog er die Nase hoch, spuckte den Rotz wie ein gewöhnlicher Bauer mit Schmackes über das Ufer in den Fluss. Das Mädchen hatte er auf die Beine gesetzt - aber vorsichtig. Sie war aus seiner Umarmung geglitten, ihre nackten Füße quetschten sich in den Schlamm, aber er hielt sie mit einer Hand fest. Sie reckte fragend ihren Hals nach oben und er blickte ernst zu ihr herab.
„So spät noch auf den Beinen, alter Wolf?“ knurrte hinter ihnen eine Stimme wie tausend aneinander reibende Knochen. „Willst du uns verlassen?“
„Du bist zurück“, tat Quaid überrascht und drehte sich um, wobei er das kleine Mädchen so gut es ging versuchte zu verdecken. Sie duckte sich ins hohe Gras und biss sich auf die Lippe.
„War die Jagd erfolgreich?“
Das Grunzen aus der Schnauze des Ogers klang bedrohlich und boshaft. Der Regen prasselte schwer auf ihn nieder, doch es scherte ihn nicht. Das Wasser lief in Strömen an ihm herab, wie an einer grotesk entstellten Statue. Es glitzerte auf seiner schwarzen Haut, rann entlang seiner Nase und tropfte vom vorgeschobenem Unterkiefer, aus dem die Zähne eines prähistorischen Dämons ragten. Er kam näher und Quaid ballte unwillkürlich die Fäuste. Bei jedem Schritt klimperten die Knochen an seiner Lederjacke. Er hatte sie eigenhändig für seine gigantische Größe zusammen genäht, aus Fetzen und Flicken. Statt Knöpfen hatte er Hühnerknochen gebraucht. Wenn er lief, schlugen sie aneinander und verursachten ein gespenstisches Klickern.
„Siehst du das?“ knurrte er, und hob etwas, das von seiner Faust baumelte. Quaid brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es ein Strauß abgeschlagener Köpfe war. „Das sind die, die versucht haben zu fliehen. Ich werde sie den Maden im Käfig zeigen. Sie sollen sehen, was passiert, wenn sie wegrennen wollen. Was tust du hier draußen?“
„Gerade noch habe ich versucht, einen Strahl Wasser im Fluss zu versenken.“
„Taggard gefällt nicht, wie du durch die Dunkelheit pirschst.“
„Ich denke, genau dafür bezahlt ihr mich?“
Es klang beinahe so, als lache der Oger.
„Der kleine Glatzkopf kann dich nicht leiden, Quaid.“
„Ich komme drüber hinweg.“
„Freu dich zu hören, dass ich hingegen dich leiden kann.“
„Ist das so?“
Die Regentropfen hämmerten mit Gewalt auf die Zeltplanen, doch trotzdem konnte Quaid die Knochen in der Faust des Ogers knacken hören.
„Du bist das Gewicht deiner dürren Knochen in Gold wert, alter Wolf“, erklärte der Oger. „Die Dörfer, die du uns zeigst, sind wie reife Früchte, die nur darauf warten gepflückt zu werden.“
„Vielleicht wird es Zeit für eine Gehaltserhöhung.“
„Ha ha, ja. Du hast recht. Ich sollte dir mehr zahlen. Geh rüber zu den Käfigen. Such dir ein Mädchen aus. Es gehört dir für die Nacht. Aber sieh zu, dass sie dich nicht zu lange wach hält. Ich brauche dich morgen früh.“
„Danke“, sagte er. „Das werde ich tun.“
Quaid fühlte einen Zirkus aus Adrenalin durch seinen Körper springen, die Elefantenschau stampfte durch seine Schläfen. Er spürte jeden Herzschlag in den Adern pumpen. Ein Moment verstrich, zäh wie geschmolzenes Gummi, in dem sie sich durch den Regen hinweg anstarrten, ihre Blicke aufeinander trafen, als versuchten sie gegenseitig ihre Gedanken zu lesen. Quaid konnte nicht einfach einknicken und gehen. Hinter ihm hockte das Mädchen zitternd im Gras und drohte zu erfrieren. Wenn er sich weg bewegte, würde der Oger sie sehen. Dicke Tropfen klatschten auf die Schnauze des Mutanten, sie zuckte. Er versucht zu schnüffeln, dachte der Jäger, doch der Regen macht es ihm schwer. Ich stinke nach Stall, wie sein Zelt, aber der Regen spült mich ab. Jetzt dreh dich um und geh. Verschwinde. Du weißt es nicht, aber jede Sekunde ist hier der Teufel los.
Der Oger hob seine Nase, wie ein schrecklicher Hund, plötzlich in die Luft und drehte sich um.
„Was ist das?“ grollte er. „Was riecht hier so?“
„Ich weiß nicht, was du meinst ...“
„Riechst du das nicht?“
„Nein ...“
„Es stinkt nach Benzin … und Rauch!“
Ganz gleich, wie schwarz der Nachthimmel war, alle konnten die kleine Rauchfahne im nördlichen Teil des Lagers erkennen. Ein schneidender Gestank, eine Mischung aus Benzin und Schwefel, kniff plötzlich allen in der Nase. Die Männer im Lager waren gerade mit den Gefangenen beschäftigt, als sie den Rauch bemerkten.
Da war es auch schon zu spät.
Sie blickten auf, hörten den gellenden Schrei des Ogers und das Treibstofflager ging in Flammen auf.
Über dem Lager schoss ein gelber Feuerball empor.
Taggard brüllte Befehle. Zwei Männer rannten mit Eimern zum Fluss, zwei andere schlugen mit Decken auf einen brennden Kameraden ein. Die restlichen Sklavenjäger griffen ihre Gewehre und schwärmten aus durch das Lager. Es gab einen Angriff, oder einen Saboteur, auf jeden Fall mussten die Gefangenen bewacht werden.
Bei alle dem stand der Oger nur da, starrte auf die Flammen. Dann brüllte er wie ein Orkan.
„Schnapp dir einen Eimer, Quaid, zur Not piss das Feuer aus!“
Aber der Jäger antwortete nicht. Der Oger drehte sich um und dort wo eben noch Quaid ins hohe Gras gepinkelt hatte, waren nur noch ein paar zerknickte Halme zu sehen.
In der Dunkelheit raschelten derweil durch die Uferböschung zwei Schatten auf dem Weg in Richtung Waldrand.

Quaid rannte. Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Das Gestrüpp verfing sich in seinen Haaren, an seinem Mantel, zog und zerrte an ihm, aber er rannte weiter. Er war wie ihm Rausch, die Nacht flog an ihm vorbei. Bevor er es bemerkte, hatte er das offene Feld schon hinter sie gebracht und unter seinen Stiefeln knackten die ersten Äste. Seine Beine fühlten sich nicht länger als Teil seines Körpers; sie waren dumpfe Stelzen, und er atmete heißes Blei.
Das Kind klammerte sich an seine Brust und er presste das Bündel fest an sich. So war das alles nicht geplant gewesen, dachte er, das war nicht so gedacht. Haben die Sklaven das Messer ausgegraben? Wo sind sie hin? Was passiert mit ihnen?
Sind wir jetzt quitt?
Eine zweite Explosion donnerte in der Ferne. Die Nacht strahlte für eine Sekunde lang gelb auf. Quaid blieb stehen, beobachtete das Spektakel durch die Baumwipfel. Das war der Jeep, überlegte er, schwer atmend an einen Baum gestützt. Jetzt sitzen sie fest. Na, wenigstens eine gute Nachricht.
Das Mädchen hatte er abgesetzt. Barfuß stand sie auf dem feuchten Teppich aus Laub und Tannenzapfen. Sie kräuselte die Zehen vor Kälte, ihr Atem gefror in der Luft. Ihr zitternder kleiner Leib hing erbärmlich in dem Kartoffelsack. Doch sie selbst schien die Minusgrade nicht zu bemerken. Während Quaid sich die Arme rieb, beobachtete sie ausdruckslos, wie ein brauner Käfer über ihre Füße krabbelte.
„Bist du in Ordnung?“ fragte Quaid skeptisch und hob ihr kleines Kinn. Er wischte mit dem Daumen etwas Dreck von ihrer Wange, da schaute sie ihn an. Ihre Augen glitzerten schwarz und leer.
„Man nennt mich Quaid. Einem hübschen Ding wie dir werden sie doch bestimmt auch einen Namen gegeben haben, oder?“
Es kam kein Ton aus ihrem Mund. Sie schwieg und blickte wieder zu dem Käfer auf ihren Füßen.
Ich habe einen Fehler gemacht, dachte Quaid. Immer noch keuchend beobachtete er den leeren Blick in ihren Augen. Das Kind ist ausgebrannt. Manchmal passiert das, wenn man den Eltern entrissen und mit einem Haufen wimmernder Gestalten in einen Käfig gesperrt wird. Kaum zu ahnen, was Taggard mit den Gefangenen angestellt hat, was sie alles mit ansehen musste. Ihr Besuch beim Oger wäre nur das Finale der Tortur geworden. Vielleicht wäre es für sie sogar besser, wenn alles ein Ende hätte.
Und wer ist an all dem schuld?
Zwischen den Baumwipfeln sah man den Mond hinter den Wolken schimmern. Wenn sie vorbei zogen, erhellte ein surrealer Silberglanz den Wald. Äste knackten in der Dunkelheit, etwas tummelte sich zwischen den Büschen. Die Tiere horchten aufmerksam auf die beiden Gestalten in ihrem Revier. Als Jäger kannte Quaid sich aus, er brauchte nicht mehr als den Mondschein um seinen Weg zu finden. Er fragte sich nur, was er mit dem Mädchen machen sollte; ob es überhaupt etwas gab, was er tun konnte.
Das geringste, beschloss er, war ihr Wärme zu spenden. Also nahm er seinen Mantel und wollte ihn ihr um die Schultern wickeln, als sie den Kopf hob und ihn wieder direkt in die Augen sah.
„Ich heiße Lee“, sagte sie plötzlich.
Dann schwieg sie wieder.

Quaid kannte den Wald sehr gut. Es waren zwar schon einige Winter ins Land gezogen, seitdem er das letzte Mal ein Reh zwischen diesen Bäumen geschossen hatte. Doch er erinnerte sich noch sehr genau an die verschiedenen Landmarken und Wege durch das Unterholz. Ihre Position las er wie aus einem Buch vom Nachthimmel ab. Er führte sie nach Osten. Dort, direkt hinter dem Waldrand, lief der alte Highway Richtung Norden, zur Enklave Meatmarket. Natürlich war das ein Risiko, denn auch der Oger würde sie auf der Straße suchen. Aber mit etwas Glück würden sie schon am ersten Tag auf eine Karawane treffen. Jetzt ließ der Winter langsam die Felder frieren und das war traditionell die Zeit, in der sich die Viehzüchter von den Treks nach Süden wieder auf den Heimweg machten. Ein freundliches Lächeln und ein paar Münzen, schon waren sie in die Zivilisation unterwegs.
So lautete zumindest der Plan für einen einsamen Wolf. Begleitung hatte er nicht bedacht, wie sollte er auch. Jetzt war er mit einem kleinen Mädchen unterwegs, das barfuß durch den Wald stapfte und am ganzen Leib erbärmlich zitterte. Den Mantel hatte sie wie eine Decke um die Schultern geschlungen, aber dadurch lief sie nicht schneller. Ihre Schritte hatten nicht die selbe Spannweite, sie brauchte immer wieder Hilfe, um über umgestürzte Baumstämme zu klettern, die Quaid mit einem Satz überspringen konnte. Außerdem fror nun Quaid, dem nur ein alter löchriger Pullover gegen die Kälte geblieben war. Seine Zähne klapperten wie ein hungriges Skelett. Er rieb sich die Arme warm, doch damit hielt er gerade mal seine Kohlen am glühen. Er brauchte dringend einen neuen Plan, in dem – ob er es wollte oder nicht – auch ein kleines Sklavenmädchen Platz hatte.
„Wir ändern den Kurs, Kleine“, teilte er bibbernd mit. „Nur ein kleiner Umweg. Dafür verspreche ich, wird es bald warm, hörst du?“
Lee antwortete nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Weg vor ihren Füßen und sie folgte einfach Quaids Spuren auf dem Waldboden, als der seine Route leicht in Richtung Süden korrigierte.

Taggard stieß den reglosen Körper mit der Stiefelspitze an. Er drehte ihn herum und weit aufgerissene Augen schauten ihn an. Der Tote war mit dem Gesicht im Schlamm ertrunken. Aus seinen Nasenlöchern tropfte der Dreck. Eine beschissene Art draufzugehen, dachte Taggard. Aber immer noch besser, als wenn einem bei lebendigem Leib die Haut abgezogen wird. Denn das blühte dem Mistkerl, der das Feuer gelegt und seine Sklaven befreit hatte. Der Sklavenmeister ließ den toten Söldner im Schlamm liegen und überblickte die qualmende Schweinerei, die von seinem Lager übrig geblieben war.
Aus den Schatten zwischen den Zelten hinter seinem Rücken grollte ein Knurren.
„Wie viele?“
„Nur eine Handvoll, Boss“, erwiderte Taggard, ohne sich umzudrehen. „Die fangen wir wieder ein. Dumme Idioten, rennen wie ein paar kopflose Hühner nach Norden, weil sie glauben in Meatmarket hilft ihnen jemand. Gib mir drei Männer mit Pferden und ich wette, wir sammeln sie auf dem Highway wieder auf, wo sie der nächstbesten Karawane die Füße küssen, sie aufzusammeln.“
„Kein Sklave überlebt die Flucht aus meinem Käfig, hast du verstanden?“
„Alles klar, Boss. In ein paar Stunden kannst du ihre Köpfe an deinen Gürtel binden, versprochen.“
„Was ist mit der anderen Sache?“
„Karl hier“ - er nickte zu dem bulligen Leichnam vor ihnen im Schlamm - „dürfte es nicht gewesen sein. Keiner ist so blöd, Feuer zu legen und sich dann von einem durchgehenden Pferd niedertrampeln zu lassen, nur um einer Pfütze zu ersaufen. Nein, Karl war das nicht.“
„Wer fehlt sonst?“
„Mace ist so gut wie hinüber, sein halbes Gesicht ist verbrannt, als der Jeep explodiert ist. Wenn er das Feuer gelegt haben sollte, hat er seien Quittung jetzt bekommen, wenn du mich fragst. Er wird die Nacht nicht überleben und das wird keine schöne Nacht für ihn.“
„Jemand wie Mace ist nicht schlau genug für so etwas. Wer fehlt noch?“
„Niemand ...“
„Keiner?“
„Außer Quaid.“
„Quaid ...“
Der Oger trat aus dem Schatten und das Licht des brennenden Lagers glitzerte auf seiner schwarzen, ledrigen Haut. Taggard musste seinen Kopf nach oben neigen, wenn er mit ihm sprach.
„Willst du, dass ich jemanden hinter ihm her schicke?“
„Nein“, grollte der Mutant wie ein drohendes Gewitter. „Das mache ich selbst.“

Gegen Mitternacht näherten sich von Norden her zwei Gestalten der kleinen Lichtung. Ihre Ankunft wurde durch raschelndes Laub angekündigt. Die Tiere in der Umgebung spitzten die Ohren; ein Fuchs flüchtete ins Dickicht, suchte das Weite zwischen den Bäumen. Die ansässige Fauna blieb auf Abstand zu dem alten Jäger und dem schweigsamen Kind an seiner Seite, als müssten sie mit Vorsicht begutachtet werden. Wer weiß, welchen Ärger sie mit sich brachten.
Am Rand der Lichtung kniete sich Quaid neben einen Baum und berührte die Rinde. Seine Knochen knackten, er fühlte sich alt. Wie es seine Marotte war, streichelte er über das zarte Moos und schnupperte danach an seinen Fingern. Er nahm sich einen langen, schweigsamem Moment Zeit, das Areal genau beobachten. Sein Blick war finster.
In der Mitte der Lichtung stand ein Haus. In den Fenstern spiegelte sich der Vollmond. Gitterstäbe waren sowohl an den Fenstern, als auch an der Haustür angebracht, wie bei einem Gefängnis. Entlang der Außenfassade schlängelte sich wie ein grüner Teppich wildwuchernder Efeu, der bis hinauf zum Dach kletterte und mit festem Griff den Schornstein umklammert hielt. Trotz kleinerer Löcher im Holz wirkte das Haus stabil, beinahe schon massiv und unbeweglich. Der Vollmond entblösste zwar einige Lecks im Strohdach, dennoch machte es den Eindruck einer gemütlichen Behausung. Schon der Anblick wärmte einem das Herz mit der Erwartung eines warmen Betts und eines knisternden Kamins.
Im Hof dagegen standen Kreuze aus Knochen und Totenschädeln.
„Lass dich nicht einschüchtern“, erklärte Quaid mit einem gedehnten Seufzen, als er sah, wie sich Lees Augen ängstlich weiteten. „Das soll nur die Feiglinge auf Distanz halten.“
Im Mondlicht strahlten die Knochen kalkweiß wie Gespenster. Es waren Dutzende von Kreuzen aus Oberschenkeln, Arm- und Beckenknochen, die als makabere Totems im Hof aufgereiht waren. Von jedem grinste boshaft ein Totenschädel. Kränze aus Fingern baumelten an ihnen herab und klimperten leise in der Nacht. Wollte man zur Veranda, musste man zwischen den Kreuzen entlang gehen, als besuche man einen skelettierten Friedhof.
„Siehst du Gitterstäbe vor den Fenstern? Das ist kein Gefängnis. Früher gehörte das Haus einer Familie aus den südlichen Enklaven, du weißt schon, da wo sie Hunde und Katzen essen. Im Winter sind sie geflüchtet, vor der Gewalt und dem Chaos da drüben. Mit zwei kleinen Kindern sind sie durch den Schnee gewandert, immer Richtung Norden, bis sie den großen Highway hier am Waldrand entdeckt haben. Dann sind sie über Lichtung gestolpert und dachten sich wohl, hier sind wir sicher. Von der Straße aus sieht man jedenfalls nichts. Sie haben das Haus gebaut, und nur für den Fall die Gitterstäbe vor die Fenster und Türen gemacht.“
Lee schien ihn nicht zu hören. Sie hockte barfuß im kalten Laub, die Arme um die Knie geschlungen wie eine frierende Ratte im Abwasserkanal. Wortlos starrte sie die Hütte an.
Quaid fragte sich, ob sie noch bei Verstand war.
„Keiner weiß so genau, was aus der Familie geworden ist“, fuhr er fort, „aber man erzählt sich, dass eines Tages eine Rotte Marodeure bei ihnen vor der Tür stand. Ihr Anführer war dieser wahnsinnig gewordene Schamane, mit einem Tumor so groß wie meine Faust, der behauptete, die Geister hätten ihn zu diesem Ort geführt. Er ließ ihnen die Wahl: Entweder sie kamen raus, oder er würde das Haus niederbrennen. Die Familie hat sich gegen das Feuer entschieden. Niemand weiß so recht, ob einige der Knochen hier ihre sind. Aber seitdem steht das Haus leer. Banditen und Schmuggler haben diese Totems zur Abschreckung aufgestellt, um ungestört unter sich zu bleiben. Wir brauchen uns nicht zu fürchten. Aber bevor wir da hinein spazieren, will ich mich erst umsehen. Du wartest so lange hier zwischen den Büschen, verstanden? Hörst du mir überhaupt zu?“
Quaid wartete vergebens auf eine Reaktion, bevor er beschloss, dass es vergeudete Liebesmühe war. Mit ernster Miene löste er sich von seinem Baum. Etwas stimmte mit dem Kind nicht und das bereitete ihm Sorgen.
Er näherte sich der Westseite des Hauses mit geduckten Schritten. Von hinten führte eine mit Eisenmanschetten verstärkte Holztür in die Küche. Quaid achtete darauf wo er hintrat, denn im Gras spiegelte sich das Mondlicht. Überall lagen Scherben verstreut. Im Erdgeschoss und dem ersten Stock fehlten hinter den Gittern einige Fenster. Quaid kniete sich nieder, hob vorsichtig einen Splitter auf und wunderte sich.
Scharf und klar funkelte die Glaskante im Mondlicht. Lange konnte sich noch nicht hier liegen.
Wie es seine Methode war, streckte Quaid die Fingerspitzen aus. Er fuhr sachte mit der Hand über das Gras, spürte es auf der Haut kitzeln, fühlte die vom Regen feuchte Erde.
Er fand was er suchte.
Es war als glühten die Fußspuren vor seinen Augen in der Nacht auf. Sie führten geradewegs zur Hintertür. Doch sie waren schief, wie von einem Klumpfuß. Quaid richtete sich wieder auf, mit knackenden Knochen und schielte zu Lee, die zitternd am Rand der Lichtung kauerte. Dann schritt er zur Tür und drückte die Klinke.
Die Scharniere schoben sich mit einem erbärmlichen Quietschen aneinander. Staub kitzelte ihn plötzlich in der Nase. Schwanger vom alten Holz schlug ihm der trockener Geruch verbrauchter Zeit entgegen. Die Küche gähnte in dunkel an.
Zwischen den Gitterstäben fiel Mondlicht durch die Fenster und ließ den Staub ein silbriges Ballet vollführen. Alles war noch so,wie Quaid es in Erinnerung hatte. Ein schwerer Holztisch stand in der Mitte des Raums, wo er selbst einst einen Hirsch ausgenommen ahtte. In einem alten Fischernetz darüber gammelte ein Haufen zerbeulter Töpfe und Pfannen. Die Schubladen und Schränken der Anrichte versteckten Teller, etwas Geschirr und Besteck, aber kein Essen, nicht einmal eine alte Konserve. Hinter einem abgerissenen Vorhang lag eine leergeräumte Abstellkammer, die er schon beim letzten Mal vergebens auf den Kopf gestellt hatte.
Neu waren lediglich die Fußabdrücke.
Quaid folgte ihnen in den Flur. Rechts ab führte der Korridor zum Eingang. Nägel ragten aus den Wänden, wo schon lange keine Bilder mehr hingen. Jenseits der Tür lag die Veranda; die Tür selbst war massiv, aber zusätzlich noch mit Eisenstreben verstärkt. Eine Treppe mit eher zweckmäßigen Geländer führte in den ersten Stock, wo die Schlafzimmer lagen. Der Mond schien von der Ostseite im schrägen Winkel am Ende der Stufen durch ein Fester. In seinem scharfgestellten Blick schimmerten die stiefelförmigen Flecken im Staubteppich in alle Richtung, sowohl zum Eingang, als auch die Stufen nach oben. Als Erstes folgte er ihnen jedoch in die Kaminstube.
In dem großen Zimmer fehlte das Mobiliar, seit der letzten Stippvisite des Jägers hatte sich offenbar jemand an der Einrichtung vergriffen. Zum Glück haben sie den Kamin da gelassen, dachte Quaid, da muss man ja fast schon dankbar sein. Die gemauerte Feuerstelle war kalt und klamm, es lag noch etwas Asche darin. Hier hatte sich kürzlich niemand aufgewärmt, bemerkte Quaid, aber was bedeutete dann diese Spuren hier?
Die Fußabdrücke liefen in chaotischen Kreisen von einem Ende des Raums zum anderen. Breite Schlieren durchzogen die Staubschicht auf den Dielen, als hätte jemand etwas über den Boden gezerrt. Bei näherer Betrachtung kam dem Jäger der Eindruck, ein Rumpelstilzchen hätte hier einen kleinen Tanz gehalten. Er fand einen halbverdunsteten Fleck, einen Sprenkel einer Flüssigkeit und probierte ihn mit seinem Finger, als in der Küche quietschend die Tür in den Angeln schepperte.
Lee stand wie ein Flüchtling in der Küche und beobachtete ihn.
„Du solltest doch draußen warten, nicht? Ist was passiert?“
Das Mädchen zeigte wieder keine Reaktion. Langsam kochte in Quaid der Ärger hoch. Wenn sie wenigstens mal den Mund aufmachen würde, dachte er, dann wüsste ich vielleicht, ob sie noch gesund im Kopf ist.
„Bleib hier unten, hörst du?“, sagte er schließlich und stieg die Treppe hoch. „Ich schaue mich oben um.“
Das Mädchen blinzelte nicht mal. Ihr Blick klebte an ihm wie an frischem Teer, sie verzog die Oberlippe leicht, aber das Schimmern ihrer Augen war stumpf und hohl. Quaid ließ sie nur ungern zurück, doch er musste nach dem Rechten sehen.
Oben fand er das, was er erwartet hatte, mehr geplünderte Leere. Die Kammern waren nackt und kahl, nur ein zerbrochenes Bettgestell und ein Schrank waren vom Beutezug noch übrig. Pflichtbewusst prüfte Quaid jeden Winkel, selbst in der Toilette sah er sich um, denn auch die Fußspuren hatten kein Zimmer ausgelassen. Holzwürmer nagten in den Wänden. Im Schlafzimmer grub er eine mottenzerfressene Decke unter dem Schrank hervor und steckte sie dankbar ein. Gegenüber im Kinderzimmer, unter einer Schräge versteckt, stand ein kleines Puppenhaus. Der Jäger betrachtete es und dachte an das Mädchen in der Küche. Eine Spur aus feuchten Flecken führte zu dem Miniaturhaus, auf dem Dach glänzte es matt und Quaid klappte die Scharniere auf, um hineinzusehen. Im Wohnzimmer der Puppen lag ein zerbeulter Flachmann und verströmte einen stechenden, beißenden Geruch nach Schnaps, da schepperte es im Erdgeschoss.
Quaid hetzte wie vom Teufel getrieben die Treppe hinab. Er sprang über drei Stufen gleichzeitig, bereit sich allem zu stellen. Lee erwartete ihn schon in der Küche, sie hielt ein Messer in der Hand, neben ihr auf dem Boden eine Schublade um die verstreut ein Chaos aus Messern, Gabeln und Löffeln lag.
„Alles in Ordnung, was ist passiert?“
Sein Blick tastete die Schatten nach Angreifern ab. Es dauerte einen Moment, bis er bemerkte, wie krampfhaft Lee das Messer umklammert hielt und ihn fixierte. Ihr Gesicht war eine Maske aus Zorn.
„Bist du verletzt?“
Lee antwortete nicht, sondern sprang mit einen Satz auf ihn los, die Messerspitze voran. Die Klinge blitzte zwei, drei Mal im Mondlicht und rotes Blut spritzte auf den Boden. Quaid taumelte rückwärts. Er sah einen dicken Schnitt in seiner Hand klaffen, aus dem es tropfte, doch er hatte keine Gelegenheit etwas zu tun. Lee setzte ihm hinterher, schrie wie am Spieß und er musste ausweichen.
„Was zum Teufel ist in dich gefahren?“, fluchte er und machte einen Satz nach hinten in den Flur. Jetzt hat sie endgültig den Verstand verloren, dachte er, da hielt das Mädchen keuchend inne.
„Lass mich in Ruhe!“ brüllte sie unter Tränen, „lass mich in Ruhe, oder ich schneide dich auf!“
„Dafür ist es zu spät, ich blute wie ein Schwein.“
„Recht so, du Mörder!“
„Beruhig dich, leg das Messer weg.“
„Nein! Lass mich in Ruhe, nimm deine Hände weg!“
Sie fuchtelte mit der Klinge, als er versuchte sich zu nähern. Aus den Augen funkelnd wie ein tollwütiges Reh stand sie im Durchgang zur Küche, ihre kleine Brust hob und senkte sich hektisch. Der Jäger atmete tief durch und presste die blutende Hand an den Pullover, ertränkte seinerseits die aufkeimende Wut und beruhigte sich.
„Es ist alles in Ordnung, du bleibst da, ich bleibe hier. Jetzt sag mir, was ist los?“
„Du gehörst dem Oger!“, platzte sie hervor und drohte mit dem Messer. „Du hast mich ihm gestohlen und jetzt ist er hinter dir her! Er schneidet dir den Kopf ab, wenn er dich findet!“
„Da wirst du recht haben, aber mit dem Rest liegst du falsch, Mädchen. Ich gehöre niemanden, dem Oger am allerwenigsten.“
„Verschwinde von hier! Lass mich in Ruhe und verschwinde, ich brauche dich nicht!“
„Ich seh' schon, du kannst auf dich selbst aufpassen. Aber ich kann dich nicht alleine lassen, in den Wäldern bist du verloren. Und hier bist du auch nicht sicher. Wir müssen nur die Nacht überstehen, dann treffen wir eine Karawane, versprochen. Du wirst sehen, im Handumdrehen sind wir auf dem Weg nach Meatmarket.“
„Und dann kannst du mich an den Höchstbietenden verkaufen, wie?“
„Glaubst du etwa, deshalb habe ich dich aus dem Zelt geholt?“
„Du lügst! Ich hab gehört, was der Glatzkopf gesagt hat!“
„Meinst du etwa Taggard, den alten Holzkopf?“
„Man bekommt im Norden viel Geld für kleine Mädchen! Besonders für Jungfrauen!“
„Geld interessiert mich nicht!“
„Lügner!“
Sie stürmte wieder vorwärts, doch diesmal war Quaid vorbereitet und machte rechtzeitig einen Schritt zur Seite. Lee schlitzte mit der Klinge die Luft auf, wobei sie kaum etwas sah, durch den Vorhang aus Tränen, der ihr die Sicht verschleierte. Sie schluchzte und heulte und ihr Arm wurde lahm. Ihre Hand zitterte wie Espenlaub, ihr ganzer Körper schien zu beben und schließlich gab sie es auf, nach den Schatten zu stechen. Quaid wagte es noch nicht, ihr zu nahe zu kommen, doch in diesem Moment blutete außer seiner Hand auch noch sein Herz.
„Ich habe Pipi ins Stroh gemacht“, stammelte das Mädchen unter Tränen. „Es war so kalt in dem Zelt. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte.“
„Du bist jetzt in Sicherheit, Kleines. Der Oger ist weg.“
„Warum war ich in dem Zelt? Was hat er von mir gewollt? Ich bin doch noch ein Kind ...“
Quaid musste schlucken.
„Er ist … ein Mutant. Er ist anders, nicht menschlich. Ich weiß nicht, was er tut. Aber denk nicht darüber nach. Wichtig ist, dass wir weit weg von ihm sind. Und glaub mir, ich tue dir nichts. Ich habe genau so viel Angst wie du“
Der letzte Satz war nicht einmal gelogen oder erfunden; Quaid fühlte tatsächlich das dumpfe Schneiden in den Eingeweiden, ein Pressen und Ziehen, die aufsteigende kalte Angst bei der Frage, wie es nun weitergehen sollte. Das Kind ist ein Wrack, dachte er, sie fürchtet sich vor ihrem eigenen Schatten. Was zur Hölle mache ich jetzt?
Er sah, wie Lee mit hängendem Kopf da stand, die eigenen Tränen tropften ihr vor die Füße, und er konnte nicht anders. Der Jäger beugte sich zu dem Kind herab und schloss es in die Arme, wog es vor und zurück und strich ihr sachte über das Haar. Ein lang vergessener Instinkt flackerte in ihm wieder auf, er erinnerte sich an etwas.
„Alles wird gut, Schätzchen. Papa passt auf dich auf.“
Es war ein merkwürdiger Augenblick in diesem verlassenen Haus, wie das Kind das verheulte Gesicht in der Brust des Jägers vergrub und der Jäger sie an sich presste, als könnte sie verloren gehen. Minuten verstrichen, in denen nichts anderes zu hören war, als das Pfeifen des Windes vor der Tür, die bohrenden Würmer im Gebälk und ein unterdrücktes Schluchzen. Und ein Knarzen, das aus dem Rahmen fiel.
Langsam, wie eine Schnecke, öffnete sich eine gut geölte Geheimtür unterhalb der Treppe. Aus der Finsternis dahinter kroch ein Schatten hervor. Vorsichtig verschloss er die Tür wieder, sodass sie unsichtbar in der Wand verschwand, und begutachtete das rührselige Schauspiel. Der Schatten unterdrückte ein Kichern. Er tastete sich ab, schien etwas zu suchen und nicht zu finden und ärgerte sich, als er sich erinnerte, wo er es gelassen hatte. Dann eben ohne, beschloss er, und holte das andere Ding hervor.
Ein prägnantes Klicken unterbrach den Moment.
Quaid hatte dieses Geräusch in seiner Zeit nur zu gut kennengelernt und rührte deshalb keinen Muskel. Lee hob ihr Gesicht von seinem Pullover, auf dem ihre Tränen einen feuchten Fleck zurückließen und sah Quaid an. Sie verstand erst, was passierte, als sich der Schatten hinter ihr erhob. Das silberne Blitzen einer Revolverspitze ließ ihren Atem stocken.
„He he, heuta muss Hanks Glückstag sein, issa nech? Erst machta das Geschäft sein's Lebens mit na Tonne Stoff vom besten Schlach, und dann stolperta übers Rotkäppchen und'n bösen Wolf, inna engen Umarmung, wie am'n ersten Date, wa? Los, Pfoten hoch, Hank jucktas inna Finger!“
Der Befehl war an Quaid gerichtet. Der Jäger baute sich auf und seine Knochen knackten, doch er stürzte sich nicht wie erwartet auf den Schatten. Vorsichtig hob er die Hände. Lee begriff nicht, da wurde sie gepackt und ins Dunkel gezogen. Der Schatten kicherte. Widerstrebend hielt Quaid sich zurück. Ein Röcheln wie aus einem verstopften Abfluss war zu hören, als aus den Schatten ein verhutzelter Gnom hervorkam.
Er sabberte wie ein Schwein. Aus dem schiefen Mundwinkel troff ihm der Speichel auf sein Lumpengewand, auf den Boden, tropfte auf die Hand, in der er den Revolver hielt. Ein Grinsen klebte ihm in der Visage. Seine Augen funkelten gierig. Er hatte getankt, daran ließ sein Atem kein Zweifel, doch das machte ihn nur unberechenbarer.
„Deine Spuren habe ich durch's ganze Haus verfolgt“, gestand Quaid anerkennend, „du hast dich gut versteckt.“
„Hank weissa, wie er zu verschwind'n hat inna Dunkelheit, wa? Nix gibt’s, wo Hank sich nicht versteck'n könnta, das's ma' sicha!“
„Wenn du die Kleine einfach loslässt, tu ich so, als wäre nichts passiert.“
„Ha! Da sprichta große böse Wolf, als hätta selbst ne Knarre inna Hand, wa? Mussa wohl'n Knick inna Optik hab'n, denn Hank siehta bei ihm nur leere Pfoten! Oder will das Wölfchen etwa beißen, hm? Mit seinen Zähnchen?“
„Du tust dir keinen Gefallen damit.“
„Schnauze, Wolfsmann. Hank hatta genug von deinen Worten. Und schön die Pfoten hoch, hörsta?“
„Als wäre das Eisen überhaupt geladen.“
„Glaubta, Hank macht Scherze?“ Ein Donnerschlag knallte und Quaid zog den Kopf ein. Lee zuckte in der Umklammerung des Gnoms und stieß einen unterdrückten Schrei aus. Da, wo der Jäger eben noch seinen Kopf gehabt hatte, klaffte im Türrahmen ein faustgroßes Loch. Holzspäne rieselten herab. Der Geruch von Schießpulver machte sich breit.
„Gut, ich glaube dir.“ Quaid holte Luft. „Aber du tust dir keinen Gefallen, wenn du sie jetzt einfach mitnimmst.“
„Hank siehta nix falsches daran, dassa jetzt nen neues Spielzeug hat.“
„Hat Hank denn schon mal einen Oger gesehen?“
„Langsam gehta böse Wolf mit seinen Fragen Hank auffe Nerven!“
„Hank sollte mal gut nachdenken, woher sein neues Spielzeug kommt. Kleine Mädchen wachsen nämlich nicht auf Bäumen. Sie ist eine Sklavin und weggelaufen. Ein ganzer Haufen Halsabschneider sucht sie, an ihrer Spitze ein Mutant. Den wird es nicht viel kümmern, was Hank vorhat. Das Spielzeug gehört schon jemandem, verstehst du?“
Der Gnom schien einen Moment über die Worte des Jägers zu grübeln. Er kratzte sich mit dem Revolverlauf über die dreckige Stirn und entblößte dabei eine auf den Handrücken tätowierte schwarze Spinne. Sie bewegte sich widerwärtig mit den Sehen seiner Hand.
„Netter Versuch, Wolfsmann“, grinste er und bleckte eine Reihe blutigen Zahnfleisch, „aber Hank fürchteta sich vor niemandem. Hank hat Freunde, und wenn hier irgendwelche Ogers kommen, issa schon längst über alle Berge. Dann liegt hier nur noch eine Leiche im Staub.“
Er verlieh seinem Satz Nachdruck, indem er den Hahn spannte. Lee stöhnte. Hanks Ellbogen schnürte ihr den Hals zu. Hinter verschlossenen Lippen presste Quaid die Kiefer aufeinander. Noch hat er es nicht bemerkt, dachte er.
„Erschieß mich ruhig, Hank“, sagte er. „Aber selbst wenn du es hier weg schaffst, wirst du an der Kleinen nicht viel Freude haben.“
„Die Uhr für Worte ist abgelaufen, Wolfsmann!“
„Denkst du etwa, du bist der erste, dem beim Anblick der Kleinen das Wasser im Mund zusammenläuft? Jung mag sie ja sein. Aber auf Jungfrau würde ich kein Geld setzen. So, wie sie dir auf die Füße tropft.“
Der Gnom lehnte sich vor.
„Na und, das Blag pissta sich ein! Soll'se nur!“
„Der Oger hatte sie die ganze Nacht über im Zelt. Wer weiß, was er mit ihr angestellt hat. Du bist doch kein Dummkopf. Wäre doch unangenehm, wenn Hank die Kleine im Norden verschachern will und sich rausstellt, dass die Leitungen nicht mehr richtig funktionieren, oder?“
„Argh“, machte Hank, „das lässt sich aber rausfinden! Los, kleines Fötzchen, schieb den Rock hoch. Lass ma sehen, wie du verkabelt bist!“
Gierig schmatzend beugte er sich über Lees Schulter und schob mit dem Revolverlauf den Kartoffelsack nach oben. Kaltes Metall traf auf nacktes Fleisch, und sie bekam eine Gänsehaut. Die kleine Inspektion kam ihm gerade recht. Er leckte sich die Finger nach der Göre. So lange es ging, kostete er den Augenblick aus, in dem sie unter seiner Liebkosung zitterte, wie ein berstender Vulkan. Sie wollte es doch. Sobald er mit ihr ungestört war, gab es kein Halten mehr und er würde ihr zeigen, was Hank für ein Mann war. Aus welchem Holz er geschnitzt war. Langsam tastete sich seine Hand zu ihren Schenkeln vor, strich über die kleinen Härchen an ihren Beinen, da zuckte ein silberner Blitz in seinem Augenwinkel auf.
Hank stieß das Kind sofort von sich weg und schoss. Das Mädchen schrie, der Jäger stürmte mit gefletschten Zähnen vor wie ein Wolf. Der Schuss knallte durch das Haus, Hank duckte sich und das Küchenmesser verfehlte ihn knapp. Er schlug mit dem Revolverknauf nach Quaid und traf ihn am Kinn. Der Alte taumelte. Er holte mit dem Messer aus und die Klinge schnitt durch die Luft. Hank sprang in den Flur, doch etwas hielt ihn fest. Das kleine Miststück hatte seine Lumpen gepackt. Er verpasste ihr einen Tritt in den Bauch, sie fiel keuchend um und blieb liegen. Er drehte sich um, da machte es ein schmatzendes Geräusch und ein teuflischer Schmerz lähmte seine Schulter. Der Jäger zog die Klinge heraus und Blut sprudelte aus einem Loch zwischen Hanks Schlüsselbein. Der Gnom hieb mit dem Eisen nach Quaid, doch der packte seinen Arm und verdrehte ihm das Handgelenk. Er schrie auf, der Revolver fiel auf die Dielen. Hank versuchte nach ihm zu treten und kassierte einen Faustschlag auf die krumme Nase.
Sterne tanzten vor seinen Augen. Er wollte noch nicht aufgeben. Er hatte noch ein Ass im Ärmel. Winselnd warf er sich zu Boden, heulte laut auf, rutschte zur Tür. Quaid betrachtete ihn scheel. Versteckt tastete Hank nach der Rasierklinge in seinem Stiefel. Der Jäger näherte sich und Hank wartete auf den passenden Moment. Gerade schien er gekommen, als er wieder ein schmatzendes Geräusch vernahm. Plötzlich bekam er keine Luft mehr.
Er spürte, wie sich seine Lungen mit Flüssigkeit füllten. Er hustete und spuckte rote Farbkleckse auf das Holz. Aus seinem schiefen Mundwinkel rann ein dunkles Bächlein und so wie er gelebt hatte, starb Hank sabbernd wie ein abgestochenes Schwein.
„Geht es dir gut? Bist du verletzt?“
Bevor der Gnom seinen letzten Atem ausgehaucht hatte, packte Quaid das Mädchen und untersuchte sie gründlich.
„Mir geht es gut … glaube ich.“
„Du blutest.“
„Ich spüre aber nichts.“
„Meine Hände sind ganz rot.“
„Das … bin nicht ich.“
Quaid sah an sich herab und auf einmal packte ihn eine Schwärze, und zog ihn herab.

Alles drehte sich in der Dunkelheit. Für eine Ewigkeit waren die Himmelsrichtungen vertauscht, Oben war nicht länger das Gegenteil von Unten. Die Welt war kalt geworden, in tiefe Finsternis gehüllt, und aus ihrem Zentrum wimmelte ein Haufen Maden. Quaid hing regungslos in der Leere. Der Wunsch zu Sterben, endlich loslassen zu können, hallte wie ein Echo durch das Nichts. Stundenlang schien er in einem Albtraum vor sich hinzuvegetieren, nur wachgehalten von der Kälte und dem Schmerz.
Bis er eine Stimme hörte.
„Warum hast du mich gerettet?“
Er schaffte es tatsächlich, seine Augen einen Spalt zu öffnen. An Orientierung war nicht zu denken. Sein Herz pumpte in den Schläfen, bis ihn eine Ahnung überkam, wo er sich befand. Schmerzen schwemmten in Wellen von seinem Nabel aus durch seinen Körper. Der Wunsch, Loszulassen, drohte ihn erneut zu überwältigen. Da spürte er die Wärme, die sich wohltuend an seine Wange schmiegte.
Im Kamin knisterte ein Feuer.
Lee stand in der Stube, barfuß wie zuvor, die Hände zu den Flammen ausgestreckt und wärmte sich. Draußen vor dem Fenster klebte eine geradezu stoffliche Dunkelheit, die nichts zu durchdringen schien. Quaid lag an die Wand gelehnt, die mottenzerfressene Decke über den Schultern. Vorsichtig fühlte er nach seinem Bauch. Er berührte etwas Feuchtes und schlug die Decke beiseite, um nachzusehen.
„Wo hast du gelernt, aus einem Hemdsärmel einen Verband zu machen?“
„Mama hat es mir gezeigt.“ Lee drehte sich zu ihm um. „Sie war die Krankenschwester in unserem Dorf. Eines Tages sollte ich ihr bei der Arbeit helfen. Dann kam der Oger und hat das Dorf niedergebrannt.“
Quaid wusste darauf nichts zu antworten.
„Bald wird jemand kommen und uns mitnehmen. Es wird nicht lange dauern.“
„Es tut mir leid, das mit dem Messer.“
„Angst macht komische Dinge mit einem.“
Lee schwieg. „Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.“
„Ich weiß es selbst nicht, Kleines.“
„Wenn der Oger dich findet, wird er dich töten.“
„Wahrscheinlich.“
„Hast du keine Angst?“
„Vor anderen Dingen habe ich mehr Angst.“
Lee kam zu ihm, setzte sich neben ihn hin und lehnte sich an seine Schulter. Ein leichter Schmerz durchzuckte ihn, aber er ließ es sie nicht spüren.
„Mir ist kalt“, sagte sie leise.
„Kuschel dich an mich.“
So saßen sie eine ganze Zeit nebeneinander. Sie sprachen nicht. Das Feuer knisterte, die Flammen knackten, aber beide sagten nichts. Nach eine Weile des Schweigen drehte Quaid den Kopf zu ihr herüber, wunderte sich, ob sie schlief.
Da bemerkte er, dass sie die ganze Zeit mit offenen Augen in den Kamin starrte.
„Ich frage mich, wo mein Bruder ist“, flüsterte sie. „Er ist drei. Ich habe ihn gebadet, als der Oger kam.“
„Er wird bei deiner Mutter sein. Sie trennen Eltern und Kinder nicht. Zumindest nicht gleich.“
„Sag mir, leben sie noch? Geht es ihnen gut?“
„Ein kranker Sklave ist ein schlechter Sklave, habe ich gelernt. Sie werden nicht verwöhnt, aber es geht ihnen gut.“
„Warum hilfst du dem Oger?“
„Das ist eine traurige Geschichte.“
„Erzähl sie mir. Ich will es wissen.“
Quaid seufzte und richtete sich etwas auf. Das Sprechen bereitete ihm Schmerzen im Bauch. Aber als er einmal anfing, merkte er, dass es ihm schwer fiel,wieder aufzuhören.
„Ich habe mit meiner Frau zusammen gelebt, auf einem Hof im Westen. Wir hatten ein Kind, eine kleine süße Tochter. Ihr Name war Tara. Sie hatte die Augen ihrer Mutter, das sah man sofort. Außerdem hatte sie ein Talent für die Jagd. Immer, wenn ich auf die Pirsch gegangen bin, wollte sie mich begleiten. Ihrer Mutter gefiel das gar nicht. Aber jedes Mal hat sie sich raus geschlichen und ist mir gefolgt. Ihr erstes Wild hat sie erlegt, da konnte sie kaum ein Gewehr richtig halten.“
„Wie alt war sie?“
„So alt wie du jetzt bist, ungefähr. Eines Tages sind wir gemeinsam auf die Pirsch gegangen. Es gab dort diesen riesigen Hirsch, den wir tags zuvor in unserem Wald entdeckt hatten. Tara hatte ihr Gewehr dabei und wir schlichen durch das Unterholz. Tatsächlich haben wir ihn irgendwann auch entdeckt, mitten auf einer Lichtung. Ein echtes Prachtexemplar. Tara wollte ihn schießen, aber ich habe sie nicht gelassen. Das musste ihr Vater machen. Also habe ich die Patrone in den Lauf gelegt, angelegt und gezielt. Der Hirsch hat den Kopf gehoben, als hätte er uns bemerkt. Ich hab die Luft gehalten, mich keinen Millimeter gerührt. Er hat geglotzt, mit den Ohren gewackelt, als wäre irgendwas im Busch. Irgendwie war es komisch. Erst später habe ich verstanden, dass er nicht wegen uns aufmerksam geworden ist.“
„Was ist dann passiert?“
„Ich habe abgedrückt. Daneben. Der Hirsch ist weggerannt und im Wald verschwunden. Ich hab ihn nie wieder gesehen.“
Quaid machte eine Pause. Auf einmal wirkte er uralt, wie eine graue Eiche.
„War etwas mit Tara?“
„Es war, als hätte die Erde sie verschluckt. Von einem Augenblick auf den anderen war sie verschwunden. Der Hirsch muss sie gesehen haben; muss gesehen haben, wohin sie gegangen ist. Vielleicht war sie wütend, dass ich sie nicht habe schießen lassen. Ich weiß es nicht.“
„Aber du hast sie wiedergefunden, ja?“
„Wenn dem so wäre, wäre es ja keine traurige Geschichte, oder?“
Die kleine Lee schaute den alten Jäger lange an. Jetzt war es an ihm, reglos in den Kamin zu blicken.
„Wie ging es weiter?“
„Ich habe sie wochenlang gesucht. Monate. Bestimmt ein halbes Jahr lang bin ich jeden Tag in den Wald hinaus, habe nach ihr gerufen. Nachts habe ich eine Laterne vor dem Hof entzündet, damit sie uns wiederfinden kann. Ich habe draußen, damit ich wach werde, wenn sie kommt. Aber sie kam nicht.“
„Was war mit deiner Frau?“
„Sie hat es nicht ausgehalten. Sie hat nie etwas gesagt, aber ich wusste auch so, dass es meine Schuld war. Ich hätte auf Tara aufpassen müssen. Die meiste Zeit war ich auf der Suche nach ihr und habe viel zu spät bemerkt, dass der Husten, den sie hatte, einfach nicht aufhören wollte. Sie ist krank geworden. Die meiste Zeit lag sie im Bett, starrte regungslos aus dem Fenster, hustete. Eines Tages kam ich wieder, und sie starrte immer noch aus dem Fenster. Nur hustete sie nicht mehr.“
„Du hast auch noch deine Frau verloren.“
„Weißt du, wie es ist, wenn man aufwacht und keine Luft mehr bekommt, weil man merkt, dass man plötzlich alleine auf der Welt ist?“
„...ja.“
„Ich habe meine Sachen gepackt und den Hof niedergebrannt. Ich bin nach Osten gezogen, hab mich von der aufgehenden Sonne blenden lassen, bis ich irgendwann in den Ruinen eine Enklave gefunden habe. Alles, was ich besaß, habe ich für Schnaps eingetauscht. Ich war fest entschlossen solange zu trinken, bis entweder ich tot, oder meine Frau und mein Kind wieder lebendig waren. Was an diesem Abend geschehen ist, daran erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich muss mich mit einigen finsteren Kerlen eingelassen haben. Denn am nächsten Tag nahm ich an einem Raubüberfall auf dem Highway teil. Offenbar hatte mich jemand für das Spurenlesen bezahlt.“
„Du warst bei Banditen?“
„Der Kugelhagel kommt mir gerade recht, dachte ich. Mache ich mir so eben ein Ende. Hauptsache, ich kann endlich loslassen. Also habe ich stillgesessen und gewartet, bis die Schießerei losging.“
„Es gab keine Schießerei, richtig?“
„Die Banditen waren gut. Professionell. Alles ging reibungslos über die Bühne. Obwohl ich sturzbetrunken gewesen sein musste, waren sie so zufrieden mit meiner Arbeit, dass sie mich für noch einen Überfall angeheuert haben. Aus irgendeinem Grund habe ich ja gesagt. Den Lohn habe ich für Schnaps ausgegeben. Plötzlich war ich Teil einer Bande. Gut ein Dutzend Überfälle haben wir zusammen gemacht.“
„Hast du jemals jemanden getötet?“
„Sagen wir so. Ich habe viele Dinge getan, an die ich mich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern konnte. Dafür bin ich dankbar - denn auf die, an die ich mich erinnern kann, bin ich nicht stolz.“
„Wie bist du dann zum Oger gekommen?“
„Er tauchte einfach irgendwann auf. Er kam aus dem Westen, sagte man, aus der selben Richtung wie ich. Sogar fast zur gleichen Zeit. Eigentlich hätten wir uns begegnen müssen. Wir hatten Gerüchte über einen Mutanten gehört, sie aber nicht geglaubt. Bis er plötzlich vor uns stand. Eines kam zum Anderen und wir wurden Teil seiner Rotte. Von meiner alten Bande ist keiner mehr am Leben. Er hat sie Stück für Stück über die Klinge springen lassen, nachdem sie für ihn nutzlos geworden waren. Mich hat er behalten. Ich bin ihm ans Herz gewachsen.“
Eine kleine Ewigkeit lang starrten sie nun beide ins Feuer. Das Licht spiegelte sich in ihren Augen, tanzte auf ihren Pupillen wie eine Illusion vergangener Zeiten. Jeder sah etwas Anderes; vielleicht aber sahen sie auch beide das Gleiche.
„Ich bin nicht deine Tochter, Quaid. Sicher wärest du ein guter Vater, aber ich bin es nicht.“
„Ich weiß“, antwortete der Jäger, „halt mich nicht für naiv.“
„Das meine ich nicht.“
„Was dann?“
„Ich wollte sagen, dass ich dankbar bin. Dass du mich gerettet hast. Ich kann dir Tara nicht zurückbringen.“
„Das kann niemand.“
„Aber ich kann dir helfen, wieder gut zu machen, was falsch gelaufen ist. Bring mich nachhause und vielleicht schaffst du es, dir selbst zu vergeben.“
Quaid sah das kleine Mädchen an und für nur einen winzigen Moment glitzerten ihre Augen im Kaminfeuer wie damals die Augen seiner Tochter.
„Das werde ich, Kleines. Ich verspreche es.“
Dann glitt Quaid zurück in die Bewusstlosigkeit.

Früh am Morgen zog sich der Nebel in kalten Schleiern zwischen den Bäumen entlang. Taggard hatte nicht geschlafen, seine Knochen schmerzten und nun kletterte ihm auch noch der Winter unter die Jacke. Der Wald war nie der richtige Ort für ihn gewesen. Er bevorzugte die alten Highways, die Ruinen, wo die Beute lag, und die Spelunken in den Enklaven, wo man sie wieder ausgeben konnte. Daher fiel es ihm gleich doppelt schwer, sich für die Suche nach dem Mädchen zu begeistern.
Er fragte sich, wie der alte Quaid das immer machte. In dem Unterholz zu seinen Füßen sah er Äste, halb gefrorene Tannenzapfen und morsche Erde, die klammer wurde, je tiefer er seinen Finger hineinsteckte. Er hatte einmal gesehen, wie der Jäger das ebenfalls getan hatte. Doch Taggard konnte seinen Finger so oft er wollte in den Boden stecken. Eine Spur fand er nicht.
Nur ein Fuchs, der ihn seit geraumer Zeit beobachtete, schien zunehmend blöder zu glotzen.
Ein hölzernes Klimpern näherte sich von hinten. In dieser gottverlassenen Wildnis hörte es sich an, wie die Sporen eines apokalyptischen Reiters. Ein langer Schatten überkam Taggard, baute sich hinter ihm auf.
Der Oger schnaubte.
„Sag mir, wohin sie sind, oder ich behalte deinen Sold ein, bis du sie findest.“
„Quaid war unser Fährtenleser, Boss, dafür haben wir ihn bezahlt! Ich kann nichts dafür, dass er weg ist!“
„Es waren deine Sklaven, Taggard, die geflohen sind. Finde sie wieder.“
Taggard verkniff es sich, allzu deutlich mit den Augen zu rollen.
„Was ist so besonders an diesem Mädchen, dass du sie unbedingt haben musst? Können wir dir nicht einfach ein anderes besorgen?“
„Du verstehst nicht, Taggard. Es sind ihre Augen.“
„Was ist damit?“
„Sie hat mich gesehen. Sie hat mich angeguckt...mit ihren Augen. Jetzt muss ich sie haben.“
Der Sklavenmeister betrachtete erst wieder seine Fingerlöcher in der Erde, dann den Oger, der stumm seine Kiefer wie zwei Mühlsteine aneinander rieb. Gerade war nicht der Zeitpunkt, ihm zu erklären, dass er keine Ahnung hatte, wohin Quaid und das Mädchen verschwunden waren. Er schaute um sich, suchte nach irgendeinem Hinweis, den er dem Oger präsentieren konnte. Da breitete sich plötzlich ein Grinsen in seinem Gesicht aus.
„Vielleicht wissen die ja, wo es lang geht, Boss.“
Der Oger folgte dem Fingerzeig seines Sklavenmeisters und entdeckte im Nebel zwischen den Bäumen einen Planwangen, hinter den gespannt ein halbes Dutzend zotteliger Büffel durch den Wald trottete.

Das Krächzen eines Raben holte Quaid zurück. Blinzelnd wurde er wach, ein Sonnenstrahl schien ihm warm ins Gesicht. Zwischen den Vorhängen schummelte sich das Licht durchs Fenster, ließ den Staub über die Holzplanken tanzen. Quaid lehnte an der Wand, die Decke über die Schultern gezogen. Das Feuer im Kamin war erloschen, nur ein paar verkohlte Äste blieben übrig. Der Geruch von Feuer und Asche lag schwer in der Luft. Er schmeckte ihn im Mund. Einen Moment lang blickte er verstört um sich, dachte, er wäre zurück im Sklavenlager zwischen den brennenden Zelten. Dann fing er sich, seine Sicht klärte sich.
Lee war nirgendwo zu sehen.
Quaid richtete sich auf, da schoss ein Schmerz durch seinen Bauch und drückte ihn zu Boden. Er tastete unter die Decke und fühlte etwas Feuchtes. Blut klebte an seiner Hand. Er schlug die Decke weg und sah den notdürftigen Verband, den Lee ihm aus seinem Hemdsärmel gemacht hatte. Draußen krächzte wieder der Rabe. Die Erinnerung kehrte zurück, an den Gnom, an den Revolver, das Messer und das Blut. Mühsam drückte sich Quaid an der Wand hoch, von der die weiße Farbe abblätterte, und ging in den Flur.
Lee war nirgendwo zu sehen.
Dafür lag dort die Leiche.
Das Mädchen hatten den Anblick offenbar nicht ertragen. Über dem Gesicht des Gnoms war eine Geschirrtuch drapiert, das die leblosen und glasigen Augen verbarg, nicht jedoch das Blut. Eine dunkelrote Lache erstreckte sich von der Leiche aus hin zur Eingangstür, versickerte zwischen den Dielen. In diesem See lag der Revolver. Das Schmuckstück glänzte im Sonnenlicht, und Quaid nahm es auf und prüfte die Kammern. Leer. Trotzdem steckte der Jäger sich das Eisen in den Hosenbund, wer wusste, wozu man es gebrauchen konnte.
„Lee?“ Auf seinen Ruf antwortete nur Stille. Er schleppte sich in die Küche, schaute unter den Tisch und in die Abstellkammer, doch das Kind war nirgends zu finden. Die Hintertür war geschlossen.
Er ging nach oben, suchte im ersten Stock nach ihr. Vielleicht hat sie das alte Puppenhaus gefunden, dachte er. Doch das Häuschen wartete noch immer verstaubt in der Ecke auf jemanden zum Spielen.
„Du kannst rauskommen, Lee, es ist alles in Ordnung!“
Wo hat sie sich versteckt, wo ist sie hin? Und wo kam dieser Gnom her? Quaid humpelte durch die Zimmer, als wieder der Rabe auf dem Dachgiebel zu krächzen begann. Diesmal lauter. Etwas passierte, er fühlte es trotz des blutigen Verbands, trotz der Wunde in seinem Bauch murmeln. Er eilte zum Fenster, meinte, etwas zu hören, schaute hinaus und duckte sich sofort in die Ecke.
Drei Männer kletterten zwischen den Knochenkreuzen und Totems aus einem Wagen, hinter den ein Dutzend hungrig aussehender Büffel gespannt war.
„Beim Arsch meiner Ex-Frau, Luke, zu was für einem gruseligen Friedhof hat man uns hier gelotst? Sieht aus, als kämen Alpträume hier zum Sterben her. Hol das Gepäck aus dem Wagen, wir haben wenig Zeit. Simon, füttere die Tiere! Sie sollen schön fett sein, wenn es ins Schlachthaus geht.“
Quaid drückte sich an die Wand und spähte hinter dem Vorhang nach draußen. Der morgendliche Tau tropfte noch von makaberen Möbeln im Hof, doch die zotteligen Viecher scharrten schon ungeduldig mit den Hufen. Ein Kind, ein Junge von etwa dreizehn Jahren, der einen zu groß geratenen Cowboyhut trug, füllte einen Eimer mit Hafer. Er fütterte die Tiere und gierig fraßen sie ihm aus der Hand.
Der, dessen Stimme über die Lichtung gerufen hatte, beobachtete ihn skeptisch. Plump wie ein Walross stand er da, schlug den Mantel zurück und klemmte die Daumen in den Gürtel unter seinem Wanst. Sein Schnauzer zuckte jedes Mal, wenn er unzufrieden eine Bemerkung machte. Auch er trug einen Hut, dessen Form und bräunliche Tönung ihn beinahe schon verräterisch als Rinderzüchter aus Meatmarket identifizierten.
Der, der gesprochen hatte, beobachtete ihn skeptisch. Plump wie ein Walross stand er da, in einen dicken Ledermantel gehüllt und zwirbelte seinen Schnauzer. Er trug ebenfalls einen Hut. Form und Farbe waren typisch für die Viehzüchter aus dem Norden.
Hinten aus dem Planwagen kletterte sein Gehilfe, mit Rucksäcken beladen. Er wirkte wie ein stacheliges Gerippe, mit Armen dünn wie Äste im Herbst und einem ausdruckslosen Blick in den Augen. Ein Gewehr hing über seiner Schulter und Quaid hatte den Eindruck, als wüsste er es zu benutzen.
Vielleicht waren es die Schusswunde und der Blutverlust, die das flaue Gefühl in seinem Magen beim Anblick der Drei betäubten. Aber Quaid richtete sich auf, öffnete das Fenster und winkte ihnen zu.
„He, ihr da!“ rief er, gegen die Sonne blinzelnd die über die Spitzen des Tannenwalds schien. „Ihr seht mir aus wie Viehhändler!“
„Viehzüchter, um genau zu sein, mein Freund“, antwortete das Walross und winkte zurück. „Und womit verdienst du dein Auskommen?“
„Ich gehe auf die Pirsch. Ich bin Jäger.“
„Da ergänzen wir uns doch hervorragend!“
„Wartet, ich komme runter.“
Quaid eilte so schnell ihn seine Bauchwunde ließ die Stufen herab. Er stieg wieder über die Leiche des Gnoms. Lee musste die Drei kommen gesehen haben und versteckte sich irgendwo. Er fragte sich, wo das sein konnte, da war er schon an der Tür.
Quaid öffnete sie und trat hinaus auf die Veranda ins Licht.
Die Sonne blendete ihn.
Ein Gewehr wurde entsichert.
„Nimm das gefälligst wieder runter, Luke“, hörte Quaid das Walross schimpfen. „Du siehst doch, dass er verletzt ist!“
Er schirmte mit der Hand seine Augen ab und die drei schwarzen Schatten, die wie Geister auf der Lichtung versammelt standen, nahmen langsam Gestalt an. Luke, der Gehilfe, senkte missmutig wieder sein Gewehr.. Der kleine Junge stand nah bei ihm und musterte Quaid unsicher. Sein Gesicht war gesprenkelt mit Sommersprossen.
„Simon, hol den Verbandskasten und wechsele die blutigen Fetzen dieses Mannes aus, ja? Du hast doch ein Händchen dafür.“
„Mir geht es gut“, ächzte Quaid, während der Junge hinten in den Wagen sprang und prompt mit einem Verbandskasten zurückkehrte. „Ihr seid mir nichts schuldig.“
„Ich sehe schon, du lässt dir nichts schenken. Das gefällt mir. Aber sieh es als Investition für unseren Heimweg an. Ein fähiger Jäger kommt uns nämlich gerade gelegen.“
Luke, der skeletthafte Gehilfe, grunzte missbilligend, spuckte auf den Boden. Das Walross ignorierte ihn. Derweil kniete der Junge sich neben Quaid und begann mit seinen flinken Fingern den durchgebluteten Hemdsärmel mit einem richtigen Verband zu ersetzen. Der Stoff aus dem Kasten mit dem Kreuz vorne drauf war weiß wie Schnee.
„Ihr seid auf dem Weg nach Meatmarket, nehm ich an?“, fragte Quaid. „Auf dem Heimweg vom Herbstverkauf, bevor der Winter einbricht?“
„Du kennst dich aus, mein Freund. Wir sind aber ein wenig spät dran. Die Viecher hinter uns sind die Überreste von der Tour. Die müssen wir nun ans Schlachthaus verhökern. Langsam geht uns das Futter für sie aus und deshalb kommt uns ein Jäger gerade recht, der unseren Weg ein wenig abkürzen kann. Was meinst du?“
„Klingt gut“, erwiderte Quaid und war froh. Besser hätten sie es gar nicht treffen können.
„Hast du dich auf der Pirsch verletzt?“
„Sozusagen...“, zögerte Quaid mit der Antwort. „Ich bin mit meiner Tochter unterwegs. Wir sind auf einen Banditen getroffen, der etwas unhöflich wurde.“
Das Walross und sein Gehilfe wechselten einen Blick.
„Eine Tochter, sagst du? Wie alt denn?“
„Elf.“
„Hm.“ Das Walross kratzte sich am Kopf. „Mein Name ist übrigens Brocker“, sagte er. „Das sind Luke, mein Gehilfe, und Simon, mein Junge.“
„Ich bin Quaid.“
„Schön dich kennenzulernen, Quaid.“
Brocker reichte ihm die Hand. Quaid schüttelte sie. Der Viehzüchter hatte einen festen Händedruck und seine Finger fühlten sich rau an, von Schwielen die von harter Arbeit zeugten. Er war Quaid sofort sympathisch. Unter anderen Umständen hatte er ihn wohl gemocht.
Doch der Handschlag änderte alles.
„Oh, lass dich von der Tätowierung nicht abschrecken“, sagte Brocker etwas entschuldigend, als Quaid die Spinne entdeckte, die über seine Hand zu krabbeln schien. „Das ist ein Relikt aus vergangenen Tagen. Eine Jugendsünde, als ich noch auf der falschen Seite des Gesetzes stand. Mein Bruder hat auch so eine.“
Quaid schluckte.
„Da wir gerade von meinem Bruder sprechen“, fuhr Brocker fort, sichtlich nervös, „habt ihr hier in der Hütte zufällig jemand anderen getroffen?“
Quaid schüttelte den Kopf.
„Das ist merkwürdig. Wir sind hier, um ihn abzuholen. Auf dem Hinweg haben wir ihn abgesetzt, sollten ihn einen Monat später dann hier an der Hütte treffen. Er meinte, er wüsste wie man einen Jahresvorrat Hochprozentigen rankäme. Ich hab's ihm nicht geglaubt. Um ehrlich zu sein, er ist so was wie das schwarze Schaf der Familie, immer hinter dem schnellen Geld her. “
„Außerdem trinkt er das Zeug lieber selbst“, fügte Luke voller Verachtung hinzu, „und hat eine Schwäche für kleine Mädchen.“
„Als du gesagt hast, dass ein Bandit dich verletzt hat und du dann auch noch von deiner Tochter erzählt hast, hab ich schon das Schlimmste befürchtet. Hank kann etwas unüberlegt sein.“
„Uns ist niemand über den Weg gelaufen“, sagte Quaid. Der kleine Simon hatte seine Arbeit beendet und ein neuer, frischer Verband drückte den Bauschuss ab.„Wahrscheinlich habt ihr euch verpasst. Ein paar Meilen von hier ist eine Siedlung, euer Bruder wird bestimmt dahin unterwegs sein. Ich kann euch den Weg zeigen, dann dauert es nicht lange. Macht euch schon mal fertig. Ich hole nur schnell meine Tochter.“
Quaid zog sich am Stützbalken des Verandadachs hoch. Dabei rutschte aus seinem Hosenbund der silbern glänzende Revolver. Er fiel auf die Stufen, direkt vor Simons Füße.
Der Junge hob ihn auf.
In seinen kleinen Händen wirkte er wie eine silberne Cobra.
„Hat Onkel Hank nicht auch so einen, Dad?“
Quaid sah Brocker an. Der starrte die Waffe in den Händen seines Sohnes an. Sein Schnauzer zuckte angespannt.
Luke sah erst zu seinem Chef, die Hand am Gewehr. Dann blickte er zu Quaid.
Der beobachtete weiter Brocker.
„Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst“, versuchte er zu erklären. In seinem Augenwinkel raschelten die Büsche am Waldrand.
Luke hob das Gewehr und legte auf Quaid an.
Sein Kopf wurde in Fetzen gerissen.

Ein Kind schrie laut auf. Quaid dachte im ersten Moment, es wäre Lee. Doch es war der Junge. Simon sah mit an, wie Luke mit dem Gesicht vorwärts ins Gras fiel und nur noch eine Höhle klaffte, wo sein Ohr gewesen war. Seine Sommersprossen strahlten plötzlich nicht mehr, er würde den Anblick seinen Lebtag nicht vergessen.
Dann wurde er von einer Kugel zerrissen.
Quaid taumelte hinter den Verandapfeiler.
Der Kugelhagel kam aus den Büschen am Waldrand. Simon zappelte röchelnd am Boden, fasste sich an den Hals. Blut quoll über seine Lippen.
Brocker stürzte zu seinem Sohn und drückte mit seinen Wurstfingern auf die Wunde. Er suchte auf der Lichtung fieberhaft nach den Attentätern, brüllte etwas, das Quaid nicht verstand. Mit der freien Hand zückte er einen Revolver aus dem Mantel, wollte schießen. Doch plötzlich tauchte ein fingergroßes Leck in seiner Brust auf. Ein Rinnsal roter Farbe lief über sein Hemd. Der gewaltige Schnauzer zuckte hektisch und Brocker sank auf die Knie. Er kippte um wie eine gefällte Eiche, das Gesicht in den Dreck, dazu gezwungen seinen erstickenden Sohn anzustarren.

„Du solltest dein Gesicht sehen, Quaid“, höhnte eine Stimme aus den Büschen. Es raschelte, Äste knackten, doch statt einem Fuchs oder Hirsch kroch aus dem Gestrüpp der glatzköpfige Taggard. „Guckst, als hätte dir jemand gerade den Eimer unterm Arsch weggezogen.“
Quaid wollte in das Haus flüchten, aber Taggard ließ ihn nicht. Mit einem abschätzigen Schnalzen der Zunge wedelte er mit dem Lauf seiner Flinte, spannte genüsslich den Hahn.
„Wenn dein Arsch auf Grundeis geht, hast du meine Erlaubnis zu zittern, Jäger. Mehr nicht. Du bleibst schön da, wo ich dich sehen kann. Meine Güte“, beschwerte er sich, als er über die Leichen stieg, „was hast du hier für eine Sauerei veranstaltet?“
„Dein Kerbholz, Taggard, nicht meins. “
„Haben wir dir gar nichts beigebracht? Du hast dich verarschen lassen, wie ein Mädchen mit der Milchkanne. Da musste ich eingreifen. Du hast mich quasi dazu gezwungen, könnte man sagen.“
„Fick dich, komm zum Punkt. Wo ist der Oger?“
„Hier.“
Das Geräusch glich dem eines umknickenden Baumes. Auf der gegenüberliegenden Seite wurden die Äste und Büsche einfach wie störende Vorhänge weggeschoben und der Oger trat auf die Lichtung. Der Wald hielt den Atem an. Quaid spannte seine Muskeln, seinen Kiefer, bereit den kommenden Schlag ins Gesicht einzustecken, da wurde er am Kragen gepackt und hochgehoben. Der Mutant ließ ihn wie ein Windspiel von seiner Faust baumeln.
„Ich hätte es wissen müssen“, knurrte der Mutant. „Männer wie du können ihr Gewissen nicht runterschlucken.“
Quaid fehlte die Luft, um zu antworten.
„Ich hoffe, du bist zufrieden mit dir selbst, alter Wolf. Fackeln und tollwütige Hunde. Davor flüchten deine Sklaven jetzt. Du hast sie befreit. Wegen dir werden sie sterben. Ich ziehe ihnen persönlich die Haut ab. Jeder soll sehen, was die Flucht bringt. Der Rest erfriert elendig im Unterholz. Was auch immer dein Gewissen quält. Diese kannst du nun mit dazurechnen.“
Die Pranke quetschte ihm den Hals zu, er konnte nur krächzen. Quaid spürte, wie die freie Hand des Ogers ihm über den Bauch strich, über den frischen Verband. Seine Finger tasteten sich wie Spinnenbeine vorwärts, bis sie die feuchte Stelle fanden.
„Da war jemand schneller als ich. Na gut. Sag mir“ - der Oger fletschte die Zähne und riss den Verband von Quaids Bauch ab - „wo du mein Mädchen versteckt hast. Dann erlöse ich dich von deinem Leiden. Wie fühlt sich das an?“
Schmatzend verschwand der Finger des Ogers in dem Loch, bohrte in der Wunde. Quaid fühlte, wie der Fingernagel des Mutanten in seinen Eingeweiden stocherte. Er riss die Augen zum Himmel und schrie wie ein Wahnsinniger. Am Rande seines Sichtfelds flimmerte die Ohnmacht. Er biss die Zähne zusammen, kämpfte mit aller Macht dagegen an.
Folter mich, dachte er, ich halte durch. Jede Sekunde, die ich die Zähne zusammenbeiße, verschafft ihr mehr Zeit. Ihre nackten Füße eilen über das Laub, sie rennt weit weg von hier. Ich muss nur durchhalten, dann ist sie in Sicherheit.
Daran glaube ich fest.
„Ich kenne deinen Sturkopf. Ich kann das den ganzen Tag tun. Ich werde nicht mal müde. Aber sag mir, wo sie ist. Sonst zünde ich einfach das Haus an. Dann wird sie schon von selbst raus kommen.“
Endlich lockerte der Riese den Griff. Der Jäger holte hektisch Luft.
Und nutzte sie, um zu lachen.
„Zünd besser gleich den ganzen Wald an. Du findest sie nicht.“
„Du bist dir deiner Sache sicher. Wo hast du sie versteckt?“
„Sie hat sich in Luft aufgelöst. Ich brauchte sie nicht mal zu verstecken.“
„Ist das so?“
„Selbst wenn ich wollte, könnte ich es dir nicht sagen, so gut ist sie.“
„Dann verschwende ich nur meine Zeit mit dir.“
„Geh zurück in dein La-“
Quaid brachte den Satz nicht zu Ende. Seine Augen weiteten sich plötzlich, sein Atem stockte, er wirkte aufgeregt. Mit leisem Knirschen knackte der eisenharte Griff des Ogers sein Genick und das Windspiel erschlaffte. Das Kinn des Jägers klappte auf seine Brust.
„Verschwenden wir keine Zeit“, befahl der Oger und warf den leblosen Körper beiseite, „das Gör ist hier noch. Bring sie mir.“
Taggard nickte und machte sich auf. Dabei ließ er es sich nicht nehmen, dem toten Jäger noch einen Tritt zu verpassen. Kurz darauf hörte man erst knarzende Schritte auf der Treppe, und später über das Parkett im ersten Stock. Ein Rumpeln und Brechen kam dazu. Das Geräusch von brechendem und splitterndem Holz drang von oben herab. Unterbrochen wurde es von Schreien, böswilligen Flüchen und wutentbrannten Verwünschungen. Ein Fenster zerbrach und eine Puppenhaus wurde aus dem ersten Stock auf den Hof geschleudert, wo es zwischen den Leichen zerschellte.
Der Oger gönnte sich mehr Zeit. Gemessenen Schrittes duckte er sich durch den Hauseingang. Er lächelte boshaft, als er den toten Gnom sah. Dann verschwand er in der Küche.
Man hörte das Klappern der Schranktüren über und unter der Anrichte, als der Oger sie erst öffnete und dann wütend aus den Angeln riss. Geschirr klirrte, Teller zerbrachen. Der Messerblock landete scheppernd an der Wand. Dann pflückte der Oger das Netz mit den Töpfen und Pfannen von der Decke und schleuderte den Inhalt gegen das vergitterte Fenster. Er rüttelte am Knauf der Hintertür, doch die war fest verschlossen. Vor Wut brüllte der Oger wie ein Orkan.
All das ergab mit dem Lärm aus dem ersten Stock eine Kakophonie der Frustration. Hämmern, Scheppern, Bersten, Reißen, Rumpeln – Taggard und der Oger nahmen das kleine Haus nach Strich und Faden auseinander.
Dabei überhörten sie natürlich das zimperliche Quietschen einer gut geölten Geheimtür, die unterhalb der Treppe lag.


„Hast du sie gefunden, Taggard?!?“
„Ich kann sie nicht finden, Boss“, erklärte der Sklavenmeister, als sie sich wieder im Flur trafen. „Sie ist wie vom Erdboden verschluckt!“
„Das kann nicht sein!“
„Ganz ruhig, Boss. Wir besorgen dir einfach eine Neue. In den Dörfern in der Nähe gibt es genug kleine Mädchen.“
„Das reicht nicht. Ich will sie. Sofort.“
Der unheimliche Rhythmus, in dem sein Anführer seine Fäuste öffnete und schloss, bereitete Taggard Sorgen. Der Oger war krank. Irgendetwas an ihm war falsch. Das dumpfe Grollen aus seiner Kehle signalisierte nur, dass es mehr und mehr mit ihm zu Ende ging. Vielleicht war es nur gut so, dass sie das Mädchen nicht fanden.
„Riechst du das, Taggard?“
„Das bildest du dir ein, Boss“, antwortete er, einen vorsichtigen Schritt zurück machen, als der Oger seine Schnauze wie ein Hund in die Luft hob und schnupperte. „Du bist angespannt.“
„Nein...das ist...Rauch!“
Taggard sah sich um. Plötzlich fiel ihm auf, dass der Fußboden sich warm anfühlte.
„Du hast recht...“
Es tat ein lautes Knallen, als die Haustür zuschlug. Von draußen hörte man noch ein Kratzen, dann war ein Riegel vorgeschoben.
Die Sklavenhändler sprangen zur Tür, hämmerten dagegen.
Doch das Holz war überraschend stabil. Schließlich hatte man es gebaut, um selbst den härtesten Schlägen stand zu halten.
Die kleine Lee kniete auf der Veranda. Zu ihren Füßen lag der regungslose Körper des alten Wolfs, der sie beschützt hatte, der Hals unnatürlich verdreht. Die ganze Hütte schien unter den Schlägen und dem Gebrüll des Ogers zu erzittern. Erste Fahnen schwarzen Rauchs schlängelten sich unter dem Türschlitz hervor.
Lee fuhr Quaid durch das graue Haar.
„Ich hab im Keller die Sachen des Gnoms gefunden. Ganze Fässer voll mit dem Zeug, nach dem er gestunken hat. Ich glaube, du wärest stolz auf mich. Es brennt sehr gut. Aber es tut mir leid, dass du nicht weiter gekommen bist, als zu mir. Egal was du getan hast, es sei dir verziehen. Mach es gut, alter Wolf. Ich hoffe, du findest deine Tochter mit den Kastanienaugen.“
Zum Abschied schenkte sie ihm einen Kuss auf die erkaltende Schläfe. Im ersten Stock der Hütte wurden Fenster zerschlagen, die Scheiben rieselten auf das Verandadach.
„Hier oben sind sie auch vergittert!“ schrie der kleine Mann mit der Glatze, aufkeimende Panik in der Stimme.
Als wäre die brennende Hütte und die tosenden Gefangenen in ihrem Inneren Teil einer anderen Welt, zog die kleine Lee behutsam der Leiche zu ihren Füßen den Mantel aus und wickelte sich darin ein, wie in eine Decke. Ihre nackten Zehen kräuselten sich, als sie von der Veranda auf das blutdurchtränkte Gras trat.
Im Vorbeigehen verscheuchte sie eine Krähe von der Brust des walrosshaften Viehhändlers, die nach seinen Augen pickte. Krächzend flog der schwarze Vogel davon, drehte eine Kurve um die aufsteigende Rauchsäule aus dem Dach. Lee lief vorbei an den Leichen zum Planwagen, wo unbeeindruckt vom Massaker die Büffel warteten. Schnaubend machte einer von ihnen auf seinen leeren Eimer aufmerksam
„Ihr kommt mit“, flüsterte sie, hob den Hafersack auf und füllte nach.
Dann machte sie die Tiere am Wagen fest und kletterte auf den Kutschbock.
„Mach die Tür auf, du kleine Schlampe!“ brüllte der Oger durch die Gitterstäbe im Erdgeschoss. „Mach sie auf, oder ich schneide von deiner Fotze aufwärts dir den Hals auf, argh!“
„Mach doch“, flüsterte sie und versuchte den zwei störrischen Eseln vorne am Wagen mit der Weidenrute das Laufen beizubringen. „Ich gehe jetzt nachhause.“
Widerwillig setzten die Esel sich in Bewegung und verschwanden zwischen den Bäumen im Wald, gefolgt von einer kleinen Büffelherde.
Die Schreie aus der brennenden Hütte begleiteten sie.

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Gregor Fischer).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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