Christa Astl

Nächtliche Begegnung


 
 
Auch dieses Erlebnis liegt schon Jahre zurück. Ich arbeitete in der zehn Kilometer entfernten Kleinstadt. Da ich den ganzen Tag an den Bürosessel geklebt war, beschloss ich, nicht mehr mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, sondern mit dem Zug. Das bedeutete, täglich jeweils eine gute halbe Stunde zum Bahnhof und zurück zu gehen. Dabei nahm ich aber nicht die vielbefahrene Hauptstraße, sondern einen etwas kürzeren Weg, der durch Wiesen und Felder, ein Stück am Waldrand entlang und schließlich durch einen kleinen, dunklen Wald führte.
 
Es muss Mitte oder schon Ende März gewesen sein. Am Morgen war es bereits hell, ich konnte beobachten, wie die Knospen der Ahorne, der Buchen und Erlen, die meinen Weg säumten, von Tag zu Tag praller wurden. Abends war es allerdings meist schon dunkel, denn ich arbeitete oft länger.

Es machte mir nichts aus, im Dunkeln zu gehen, man sagte mir schon nach, ich hätte Nachtaugen. Doch es ist so, dass sich die Augen rasch an Dunkelheit gewöhnen, man ist dies nur heute nicht mehr gewohnt! Alles muss hell beleuchtet sein, und dabei ist die Nacht so schön. Sie strahlt Ruhe und Frieden aus, der Arbeitslärm des Tages ist verhallt, aus den Kaminen steigt Rauch, der an heimelige Wärme erinnert, erleuchtete Fenster zeugen von Gemütlichkeit, auch ich freue mich schon auf mein Heim.

Ich verlasse den Bahnhof, durchquere den Ort. Bald liegt das letzte Haus, die letzte Straßenlampe hinter mir. Ein paar Sekunden schließe ich die Augen, um mich schneller ans Dunkel zu gewöhnen. Hohe Wolken verdecken Mond und Sterne, aber den Weg erkenne ich doch, da er sich noch etwas schwärzer von den braunschwarzen Wiesen und Feldern abhebt. Menschen begegne ich um diese Zeit nie, so brauchte ich auch keine Angst zu haben. Wer soll mir hier was tun? Räuber und Diebe lauern heutzutage wo anders, in dunklen Gassen der großen Städte. Da machen sie leichtere Beute, als einsame Wanderer zu überfallen.

Also schreite ich zügig aus, um die Strecke, die mich von meinem Dorf trennt, rasch hinter mich zu bringen. Die Felder habe ich bereits durchmessen, nun überquere ich die Brücke, unter welcher das rot-gelbe Band des spätabendlichen Verkehrs sich über die Autobahn zieht. Ein paar hundert Meter habe ich noch am Waldrand zu gehen, dann führt ein Hohlweg durch den hier sehr dichten Wald.

Plötzlich stockt mir der Atem. Oben, am Ende des Hohlweges steht jemand. Ein großer, massiger Kerl. Mitten am Weg. Was tun? Umkehren? – Ihm abseits vom Weg durch den Wald auszuweichen versuchen? – Einfach auf ihn zusteuern, grüßen und vorbeigehen? Umkehren würde bedeuten, zurück bis zur Straße, das wäre eine Wegverlängerung um mindestens eine halbe Stunde. – Im Wald könnte ich auf einen Ast treten, er würde mich hören und hätte mich erst recht fassen können. – Grüßen und vorbei gehen? Das wäre wohl die einfachste Möglichkeit. Ob er mich aber vorbei lässt? Was ist, wenn er mich packt und in den Wald zerrt? Gegen so einen Kerl wäre ich machtlos, da hilft mir auch mein spitzer Stein, den ich zu einer spontanen Notwehr immer in der Tasche habe, nichts. –

Ich wage die Begegnung. Sekunden des angstvollen Zauderns sind vorbei. Ich atme tief durch, nehme meinen Stein fest in die Hand, und gehe los. Im Notfall könnte ich ihm sicher entkommen und davon laufen, so wie der aussieht, ist er nicht so schnell. Die Bäume sind dicht genug, dass ich sicher leichter dazwischen hindurchschlüpfen kann als dieser ziemlich Dicke. Wahrscheinlich ist er ohnehin betrunken und nicht mehr so sicher auf den Beinen. Warum sollte er sich auch sonst in diese Einöde verirren?

Schritt für Schritt komme ich ihm näher. Der Kerl steht wie angegossen. Fünf Schritte noch, dann sind wir in Reichweite. Plötzlich, ich glaub, ich seh’ nicht richtig, - stehen zwei Gestalten da! Ja, bin jetzt ich betrunken und sehe doppelt? Nicht dass ich wüsste.

Ja, es sind zwei: Männlein und Weiblein, wie ich nun erkenne. Es war ein Liebespaar, das sich so hingebungsvoll umarmt hat und über mein Erscheinen wohl mindestens genau so erschrocken sein mag wie ich über „den dicken Kerl“. Vom Schrecken befreit und fröhlich lachend grüßen wir uns und ich gehe erleichtert meine letzten Minuten, die mich wieder mit Straßenbeleuchtung nach Hause geleiten.
 
 
ChA 19.01.2013

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