Christa Astl

Der Rabe mit der weißen Feder




 
 
Es war einmal ein Rabe, der sah anders aus als alle anderen Raben. Er hatte nämlich eine weiße Feder in seinem Schwanz.

Auf der höchsten Fichte einer kleinen Baumgruppe, die die stürmischen Winde vom Dorf abhielt, hatten seine Eltern ihr Nest gebaut. Kleine Äste und Zweige, trockenes Gras, sogar ein Stück Schnur und einen Fetzen Plastik, all das trugen die Eltern zusammen und ordneten es geschickt an, dass es der Wind nicht davontragen konnte. Innen wurde das Nest noch ein wenig mit Moos, sogar mit einigen kleinen Vogelfedern ausgepolstert. In dieses weiche Nest legte die Rabenmutter fünf Eier.

Nun musste sie drei Wochen darauf sitzen bleiben, bis die Jungen ausschlüpften. Der Rabenvater versorgte sie fürsorglich mit Futter. Endlich klopfte das erste Rabenkind von innen an seine Schale und pickte ein Loch heraus. Es musste sich sehr mühen, aus dem engen Ort ins Freie zu gelangen. Etwas zerzaust lag es noch da und musste sich erst mal erholen. Nicht lange danach kamen die anderen Rabenkinder ans Licht der Welt. Sie kuschelten sich eng zusammen und ließen sich von der Mutter von den restlichen Eierschalen reinigen und dann unter ihrem Bauch wärmen. Rabenkinder kommen nackt und hilflos auf die Welt. Unermüdlich war der Vater nun im Einsatz, für Frau und Kinder Nahrung zu besorgen. Nach ein paar Tagen half ihm auch die Mutter, die Kinder waren groß genug, ein paar Minuten allein zu bleiben. Ganz still duckten sie sich ins Nest, aber aufmerksam auf das Wiederkommen der Eltern lauschend. Dann gab es ein Geschrei, wer als erster was zum Fressen bekommt. Würmer, Schnecken, hin und wieder sogar eine Maus, aber auch zarte Gräser und Früchte, Raben sind eben Allesfresser.

Kein Wunder, dass die ewig hungrigen Rabenkinder schnell wuchsen, und bald begannen auch die Federn zu sprießen. Schöne, schwarze, wie es sich für richtige Raben gehört. Aber Nein! – Ein Rabenkind hatte etwas Weißes! Sosehr es die Rabeneltern auch putzten, sosehr sie an dem Weißen herumpickten, es wuchs und wurde zu einer schönen weißen Schwanzfeder. „Pfui“! riefen die Eltern, „wie siehst du denn aus!“ und sie schubsten den Kleinen zur Seite. Auch die Geschwister krächzten: Bäh!“ und pickten nach ihm, da sie die Feder nicht erwischten. Der kleine Rabe hatte sich so gedreht, dass niemand mehr daran zupfen konnte. Und so stießen sie ihn noch weiter weg.

Niemand mochte ihn, weil er so anders war. Aber er war doch gar nicht anders, er sah nur etwas anders aus, weil hinten am Schwanz eine weiße Feder herausschaute. Dem kleinen Raben gefiel sie eigentlich ganz gut, nur die anderen wollten nicht, dass einer ihrer Familie anders aussähe. So wurde der Kleine überall weggedrängt, musste in der hinteren, dunkelsten Ecke des Nestes bleiben, die anderen fraßen ihm sein Futter weg, wenn er nicht um jeden Bissen kämpfte. Und weil er immer kämpfen musste, wurde der Rabe mit der weißen Feder bald größer und stärker als alle anderen. Bald brauchte er den meisten Platz im Nest und drängte die anderen zur Seite. Leider waren die zu viert und somit stärker. So geschah es, dass er über den Nestrand gedrängt und hinaus gestoßen wurde, noch bevor er richtig fliegen konnte.

Hilflos purzelte er durch die Luft, stieß sich an Ästen wund und landete schließlich hart auf der Erde. Einen Moment lang blieb er benommen liegen, da hörte er was und war schnell wieder ganz aufmerksam. Noch am Boden liegend erblickte er vier Füße, die geradewegs auf ihn zu kamen. Es war ein junger Fuchs. „He, guten Tag“, sagte der Fuchs, „bist du abgestürzt?“, und schaute ihn mitleidig an. Der Rabe wollte schon eine grobe Antwort geben, da erkannte er plötzlich einen weißen Strich, - nein, nicht seine weiße Feder, sondern etwas Weißes am buschigen Schwanz des Fuchses – und der Fuchs erblickte zur selben Zeit die weiße Feder am Schwanz des Raben. – „Das…“ - „Das ist…“ - „Du hast ja auch…“ - „einen weißen Fleck“ - „am Schwanz“ redeten beide in ihrer Aufregung gleichzeitig und durcheinander. Dann fingen sie herzlich zu lachen an. „Wir passen doch gut zusammen, wollen wir Freunde werden?“ – „Ja gerne, wir gehen gemeinsam in die Welt, um Abenteuer zu bestehen.“

Der Fuchs und der Rabe wanderten nun gemeinsam durch den Wald, das heißt, der Rabe flog zeitweise, um den Weg zu erkunden. „Wo wollen wir denn eigentlich hin?“ fragte er. Der junge, neugierige Fuchs meinte: „Ich will in die große Stadt! Dort soll es so viel köstliches Futter geben, hat mir mein Onkel erzählt. Aber nun ist mein Onkel nie mehr gekommen, ich weiß nicht warum.“ Der Rabe hatte auch keine Antwort dafür, er war ja noch genau so jung und unerfahren, und so merkten sie auch gar nicht, in welcher Gefahr sie schwebten. Denn hoch über ihnen, in einem Hochstand auf einem Baum, saß der Jäger auf der Lauer. Er hatte den schönen Fuchs mit der weißen Schwanzspitze schon öfter gesehen und wollte ihn schießen, um sein Fell für viel Geld verkaufen zu können.

Der Rabe, der gerade wieder einmal aufgeflogen war, entdeckte plötzlich ein Rohr, das sich aus dem Baum heraus schob. Erschreckt machte er eine scharfe Kurve, und die rettete den Fuchs. denn der Jäger konnte nicht zielen und der Schuss ging ins Leere. Der Rabe aber, der die Gefahr für seinen Freund erkannt hatte, wollte ihm helfen, denn der Fuchs stand noch immer vom Knall des Schusses wie gelähmt. Noch einmal strich der Rabe mit weit gestreckten Schwingen dicht am Fenster des Hochstandes vorbei, wo der Jäger damit beschäftigt war, sein Gewehr erneut zu laden. Dann flog er aufs Dach und begann, aus Leibeskräften mit seinem starken Schnabel auf das Dach des Hochstandes einzuhacken. Endlich regte sich der Fuchs, erkannte eine Gefahr und verzog sich ins Unterholz. Da durfte auch der Rabe sein Hämmern aufgeben und zu dem Freund hinunter.

Mit äußerster Vorsicht, um ja nicht mehr gesehen zu werden, schlichen die beiden weiter, bis sie das Ende des Waldes erreichten.

Da trafen sie Menschen. Schnell wollten sie sich wieder verstecken, doch schon rief ein Kind: „Schaut mal, der schöne Fuchs, mit seinem weißen Schwanz!“ – Und der Rabe hat auch einen weißen Schwanz!“ rief ein anderes Kind. „Kommt, wir wollen sie füttern!“ Das machten sie nun Tag für Tag. Die Kinder wohnten nicht weit vom Wald entfernt, aber auch nicht weit von der großen Stadt. Die Eltern erlaubten es ihnen, den beiden Tieren Nahrung zu bringen, denn der Winter stand vor der Tür.

Es dauerte auch nicht lange, da deckte dicker Schnee alle Wiesen und Felder zu. Für alle Tiere begann die Hungerzeit. Doch der Rabe und der Fuchs waren inzwischen an die Menschen gewöhnt und folgten den Kindern ohne Furcht auf deren Hof, wo sie den Winter unbeschadet überleben konnten.
 

ChA Okt.12

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.02.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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