Juliana Schöneich

Servus Mutter

Servus Mutter

Es war Juni. Leise betrat ich das Zimmer. Das Fenster war weit geöffnet, ein warmer Windhauch bewegte die Gardinen. Außer dem Zwitschern der Vögel hörte ich nur deine schweren Atemgeräusche. Ich setzte mich an dein Bett und hielt deine Hand. Ich war angespannt. Trauer und Angst breiteten sich aus. Trauer, weil der Abschied näher rückt und ich dich loslassen muss. Angst, weil ich auch mit meinem eigenen Tod konfrontiert werde.
Während ich hier sitze, denke ich über dein Leben nach. Du hast ein sehr selbstloses Leben geführt. Selbst die härtesten Zeiten hast du gemeistert. So hast du z.B. fünf Kinder durch den Krieg gebracht. Du hast harte Strapazen auf dich genommen, um die knappen Lebensmittel aufzubessern. So bist du für einen Sack Kartoffeln mit einem Fahrrad 62 km gefahren.
Auf dem Rückweg hattest du eine Reifenpanne. Du ersuchtest einen Bauern um Hilfe. Dieser
wollte jedoch dafür deine Kartoffeln. Du hast zu ihm gesagt, dass deine Kinder hungern und hast das Fahrrad die Strecke zurück geschoben. Während dein Mann noch in Kriegsgefangenschaft war, hast du mit deinen fünf Kindern ein Haus besetzt und es später käuflich erworben. Du warst so fleißig. Du hast nachts an deiner Nähmaschine gesessen und für deine Kinder genäht. Am nächsten Morgen hast du die Ergebnisse stolz präsentiert.
Du warst zufrieden, wenn es uns gut ging. Wir konnten uns immer auf dich verlassen. Natürlich gab es auch Konfliktsituationen. Es gab sogar Momente, in denen ich dich nicht lieben konnte. Weißt du eigentlich, dass es eine Phase in meinem Leben gab in der ich genauso werden wollte. Ich habe dann aber verstanden, dass ich mein Leben mit meinen Erfahrungen leben muss und habe dein Leben mit deinen Erfahrungen respektiert.
Irgendwann fingst du an, vergesslich zu werden. Es war ein schleichender Beginn.
Dein Kurzzeitgedächtnis ließ dich immer öfter im Stich. Vor vier Monaten brauchtest du eine Betreuung rund um die Uhr. Wir meldeten dich in einem gut betreuten Heim an. Du bist jetzt hier, um medikamentös eingestellt zu werden. Ich verabschiedete mich von dir und wusste noch nicht, dass du zwei Tage später, an meinem Geburtstag deinen Körper verlassen würdest. Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass es den Tod nicht gibt und ich weiß, dass wir uns wiedersehen.

Juliana Schöneich

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Juliana Schöneich).
Der Beitrag wurde von Juliana Schöneich auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.04.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Juliana Schöneich als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Lustwandel: Erotische Anthologie von Care



Seit Menschengedenken wurden Geschichten über die Lust in der Liebe verfasst. Fand der Leser früher die lustbetonenden Texte noch eher versteckt unter dem Deckmantel der damals gängigen literarischen Sprache und konnte nur erahnen, was der Schreiber damit eigentlich ausdrücken wollte, so ist dies heute "Gott sei Dank" nicht mehr von Nöten. Erotische Literatur hat sich dem Wandel der Zeit unterworfen. Was damals in Gedichten und Balladen gepriesen wurde, nämlich wie lustvoll die Erotik ist, wird heute in aller Deutlichkeit in erotischen Geschichten wiedergegeben. Fasziniert hat sie die Leser in jedem Jahrhundert.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Abschied" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Juliana Schöneich

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Mein kleiner Bruder von Juliana Schöneich (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Wieder geht ein Jahr von Rainer Tiemann (Abschied)
Die Magische Feder von Barbara Greskamp (Zauberhafte Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen