Christa Astl

Die Fanny




 
 
Fanny war in der Nachkriegszeit als Arbeiterkind in einer Stadtrandsiedlung aufgewachsen. Obwohl sie recht klug gewesen wäre, durfte sie keine höhere Schule besuchen, sondern musste gleich nach der Volksschule eine Arbeit suchen. Eine große Strickerei war in der Gegend neu errichtet worden und Fanny bekam dort einen Platz. Die Arbeit machte ihr Freude und das selbst verdiente Geld machte sie stolz. Dann lernte sie ihren Mann Egon kennen.

Nach einem Jahr heirateten sie und Fanny zog in seine Stadtwohnung, auf die er als städtischer Beamter ein Anrecht hatte. In seinem Büro gab er sich als stiller, bescheidener, gewissenhafter Untergebener, der dem Chef alle Wünsche schon vor dessen Aussprechen zu erfüllen suchte.

Zuhause entpuppte er sich bald als Despot. Frau und Kinder, von denen jedes Jahr eines mehr wurde, hatten zu kuschen, alles zu tun, was der Herr wünschte. Den Mantel aufzuhängen, die Hausschuhe einstiegbereit hinzustellen, die Zeitung und sein tägliches Bier zu holen, und wehe, wenn nicht alles schon bereit lag!

Im Winter hatte die Wohnung angenehm warm zu sein, er sah allerdings nicht, wie sich seine Frau abmühte, die schweren Kohlenkübel in den zweiten Stock zu schleppen. Das selber zu tun, wäre ihm nicht im Traume eingefallen. Er war doch der Verdiener, der Geldgeber! Und passte etwas nicht, war er gleich auf hundertachtzig, brüllte durch die Wohnung, und wehe, wer von den Kindern in seine Reichweite kam.

Auch mit dem schweren Wäschekorb hinabzusteigen und die Wäsche im Sommer oder Winter in den Hinterhof zum Trocknen aufzuhängen, war - für ihn - doch keine Arbeit, das taten andere Frauen auch.

Als sie einmal, schon im letzten Schwangerschaftsmonat, mit dem Korb im Arm, das kleinste Mädchen an der Hand hinunter stieg, stürzte sie die Stiegen hinab. War ihr schwindlig geworden? War sie ausgerutscht, gestolpert? Niemand konnte das nachher noch sagen. Mit lautem Krachen polterte der Wäschekorb bis ins nächste Stockwerk, nasse Leintücher, Unterhosen und Hemden verteilten sich wirr auf den schmutzigen Stufen.

Fanny lag wie leblos auf dem Podest des Zwischenstockes. Die kleine Agnes schaute vor Schrecken erstarrt auf die liegende Mutter. Sonst regte sich nichts. Endlich begann das Kind zu brüllen.

Fanny erwachte aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie spürte Feuchtigkeit unter sich, um sich, Kälte, grelles Licht, vor dem sie die Augen schloss und in die nächste Ohnmacht glitt.

Stefan, der ältere Sohn, der wegen Krankheit von der Schule zu Hause geblieben war, hörte das Schreien seiner kleinen Schwester. Er schlüpfte aus dem Bett, hängte sich eine Decke um und ging auf wankenden Beinen die Treppe hinunter. Über das Geländer gebeugt, sah er mehrere Menschen stehen und hörte sie in aufgeregtes Gespräch vertieft. Agnes weinte leise vor sich hin, als Stefan kam, und streckte die Händchen nach ihm aus. Oh Gott – Mutter blutete, - oder was war das für eine Feuchtigkeit um sie?

Frau Meier kam aus ihrer Wohnung, sie war die Einzige, die damals schon ein Telefon besaß. „Die Rettung wird gleich hier sein.“ – Niemand kümmerte sich um die Kinder, Stefans Frage wurde überhört, oder wollte man ihm keine Antwort geben? Die Mutter war wieder wach geworden, stöhnte leise. Stefan kniete sich zu ihr, auch Agnes packte Mutters Hand und wollte sie aufziehen. So klein sie auch war, das verstand sie schon, dass Mutter nicht so liegen bleiben durfte. Mutter aber achtete nicht auf sie, ihr Gesicht verkrampfte sich und sie stöhnte vor Schmerz.

Endlich ging unten die Tür, die Sanitäter kamen mit einem Tragstuhl die Treppe hoch. Voraus lief ein Arzt, der Fanny kurz untersuchte. „Wir müssten sie liegend transportieren, doch für die Bahre ist das Stiegenhaus zu eng.“ Eine Mitbewohnerin des Hauses erbarmte sich der Kinder und führte sie in ihre Wohnung.

Die stark blutende Frau wurde in den Stuhl gesetzt, die Sanitäter versuchten so vorsichtig wie möglich mit ihr die Treppen hinunter zu steigen, eine Frau sammelte die Wäschestücke ein, schon raste das Rettungsfahrzeug mit Blaulicht ins Krankenhaus.

Mittags kam der Ehemann und sah die halb offene Wohnungstür. Er stutzte, rief nach seiner Frau, - keine Antwort. Er schrie noch mal, schrie nach den Kindern, die Zornröte stieg ihm ins Gesicht. Niemand antwortete. Plötzlich wurde er still, begann leicht zu zittern. Nur zögernd betrat er die Wohnung, aufs Schlimmste gefasst – und war erleichtert, sie leer zu finden. Doch wo war seine Frau, die offene Tür beunruhigte ihn doch ein wenig. Diesmal musste er selber seinen Mantel aufhängen, seine Schuhe ausziehen, die er allerdings achtlos durch den Flur schleuderte, und sich bücken, um in die Hausschuhe zu schlüpfen. Eine Weile wartete er im Polstersessel, die Zeitung vor sich, doch nicht fähig zu lesen. Allmählich stieg Angst in ihm hoch. Da musste was passiert sein, es war ja Mittag, das Essen sollte bereits fertig auf dem Tisch stehen!

Endlich öffnete sich die Tür, Stefan schlich still herein, hinter ihm Agnes an der Hand von Frau Lebner aus dem ersten Stock. „Guten Tag, Herr Markosch“, sagte sie. „Wie geht es ihrer Frau, wissen Sie schon was?“ Wie von der Tarantel gestochen fuhr Fannys Ehemann vom Sessel hoch. „Was? – Wo ist? – Warum….?“ Die Sprache versagte ihm, sein Zittern wurde stärker, er musste sich wieder setzen. „Kommen Sie mit mir, vielleicht hat man Frau Meier schon angerufen“ sagte Frau Lebner und führte den völlig verstörten Vater hinaus. Stefan konnte nicht mehr mit, er fühlte sich so schwach und fiebrig und kroch in sein Bett. Die kleine Agnes schlüpfte zu ihm unter die Decke.

Kurze Zeit später eilte Herr Markosch nur schnell in die Wohnung, um Mantel und Schuhe zu holen und machte sich auf den Weg ins Spital. Seiner Frau ging es schlecht. Das Kind war zu früh auf die Welt gekommen, ob es überhaupt überlebensfähig sei, wagten die Ärzte nicht zu behaupten. Möglichweise hätte es innere Schäden.

Auch Fanny hatte durch den Sturz mehrere Verletzungen davongetragen. Außerdem war sie durch den starken Blutverlust sehr geschwächt. Still und bescheiden setzte sich der Ehemann auf den Stuhl am Fußende des Bettes. Aufmerksam beobachtete er jede Regung ihres Körpers, jedes Mienenspiel ihres Gesichtes. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, als sie ihn mit einem verlorenen Blick anschaute. „Fanny, meine Fanny“, mehr brachte er nicht heraus, doch sie lächelte ihn dankbar an. „Es wird schon gut…“ flüsterte sie und schloss die Lider wieder. Er blieb lange sitzen und hielt nur schweigend ihre blasse Hand.

Inzwischen waren die drei größeren Kinder von der Schule heimgekommen. Sie saßen schweigsam und gedrückt um den Tisch, nachdem ihnen Stefan von Mutters Unfall erzählt hatte. Keines dachte ans Essen. „Sollen wir beten für die Mama?“, meinte die siebenjährige Ursula, die vor kurzem ihre Erstkommunion hatte. Der Reihe nach sprachen sie Gebete, die sie in der Schule gelernt hatten oder die ihnen gerade eben einfielen. So vertieft waren die Kinder in ihre Andacht, dass sie gar nicht bemerkten, dass der Vater nach Hause gekommen war. Leise zog er sich aus und trat behutsam zu den Kindern. Bewegt hörte er ihnen zu, sagte mit ihnen das Amen und sprach dann selber ein Gebet aus seiner Kindheit. Wie lange war es schon her, dass er das letzte Mal gebetet hatte? Und wie lange war es her, dass er so mit seinen Kindern beisammen saß? Musste es erst so weit kommen?

Endlich dachten alle an ihren Hunger. Gemeinsam suchten sie, was sie kochen könnten, der Vater stellte im großen Topf Wasser für die Nudeln auf, die Buben schnitten Wurst und Gemüse, Monika, die Älteste, richtete Salat. Der Vater brachte dem kranken Stefan das Essen ans Bett und sprach lange Zeit mit ihm. Und die kleine Agnes saß dabei auf seinem Schoß und schlief zufrieden ein.

Nur Egon Markosch, der Vater, konnte lange nicht schlafen. Immer wieder sah er seine Frau mit schmalem, blutleerem Gesichtchen im Bett vor sich liegen. Hoffentlich erholt sie sich bald, hoffentlich hat sie keine inneren Verletzungen! - Wie wird es wohl dem Kindlein gehen? Ob es noch lebte? Ob es gesund würde? Lieber Gott hilf mir und hilf ihnen!

Er streckte die Hand aus in ihr leeres Bett. Sie fehlte ihm ungemein. Jetzt erst wurde ihm bewusst, wie sehr er sie liebte, wie sehr er ihr dankbar war für alles, was sie getan hatte und was er bisher kaum wahrgenommen hatte. Danken wollte er ihr für seine lieben Kinder, auch das war ihm erst heute so richtig bewusst geworden.

Drei Wochen musste Fanny im Krankenhaus bleiben, bis ihre Verletzungen verheilt waren. Egon arbeitete in dieser Zeit nur halbtags, am Nachmittag war er bei den Kindern oder besuchte seine Frau. Er war ein Anderer geworden.

Auch das Baby hatte überlebt, sogar schon etwas zugenommen und blinzelte manchmal aus noch müden Äuglein in eine Welt, die es viel zu früh betreten musste. Noch wusste man nicht, ob es durch Mutters Sturz Schaden erlitten hatte, immer wieder hieß es: abwarten. Nach zwei Monaten durfte es nach Hause, und die Geschwister bereiteten ihm einen liebevollen Empfang, sogar mit einer Blumengirlande an der Wohnungstür.

Erst nach einem Jahr bekam Fanny die Bestätigung, dass der Kleine wirklich rundherum gesund sei.
 
 
 

ChA 03.02.13

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.02.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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