Patrick Rabe

Die graue Stunde

Sie war schön – und sie war fünfzig Jahre alt. Ihre blonden Haare umwallten wie bei einer Putte ihr Gesicht und ihre Kleidung war elegant, aber etwas altmodisch.
 
Sie stand am Telefontischchen und zitterte. Ihr ganzer Körper stand unter Anspannung. Hastig zog sie eine Schublade auf und holte ein Döschen hervor. Sie entnahm ihm drei kleine, weiße Pillen und schluckte sie herunter. „Es gibt kein Leben in der grauen Stunde:“, murmelten ihre Lippen. Sie ging hastigen Schrittes den Flur hinunter und gelangte in ihr gepflegtes Wohnzimmer. Sie öffnete ein Fenster und sog die schwül-warme Luft ein, die aus dem Garten drang. Eine Weile schaute sie hinaus, schien sich beruhigt zu haben. Ihr Blick überflog die Beete und Hecken. Da plötzlich – ein Rascheln! Sie knallte das Fenster zu und rannte durch den Flur zurück zum Telefon. Sie starrte das graue Gehäuse an und trommelte auf das Tischchen. Da klingelte es an der Tür. Ein Schrei entfuhr ihr, halb Schrecken, halb Erleichterung und sie lief hin und öffnete. Draußen stand ein kräftiger, schwarzhaariger Mann mittleren Alters.
 
„Ah, Kommissar Maikamp! Endlich kommen sie!“ „Ja“, sagte der Mann, „Liebe Frau Reber, darf ich eintreten?“ Sie nickte und bat Kommissar Maikamp herein. „Es hat also wieder Anrufe gegeben?“, fragte er. „Ja“, sagte sie, „Zwei Anrufe und einen neuen Brief.“ Der Mann und die Frau gingen ins Wohnzimmer. „Ich habe noch einen Kaffee da, möchten sie?“, bot sie leutselig an. Maikamp ließ sich in einen der Sessel fallen und nickte. Sie ging kurz nach draußen und kam bald wieder mit zwei Tassen Kaffee und einer Schale Gebäck. Maikamp nahm einen Schluck, dann sagte er: „In Ordnung, Frau Reber, ihre Gastfreundschaft in allen Ehren, aber kommen wir zur Sache! Zeigen sie mir den Brief?“ Sie holte ihn aus einer ihrer Taschen hervor. Kommissar Maikamp nahm ihn und las:
 
„Liebste, von mir verehrte Margret! Ich muss Dir nun schon wieder schreiben, weil ich am Telefon keinen Laut hervorbringe. Wie kann ich Dir sagen, was Du für mich bist? Ein Engel, der mir gefallener Seele zu Hilfe kommt? Ein sprudelnder Quell in der Ödnis meines Lebens? Nein! Kein Wort kann beschreiben, was ich für Dich fühle! Ich werde Dich wohl nie berühren! Aber ich will, dass Du von mir weißt, mir schon in der Kindheit abgelehnten, verspotteten, verstoßenen armen Teufel, der sich lieber sein Genital abschneiden würde, als damit Deinen feengleichen Körper zu entweihen! Liebe mich!! Liebe mich, denn ich sterbe, und es gibt kein Leben in der grauen Stunde! Auf ewig der Deine!“
 
Maikamp seufzte. „Das wird ja immer obsessiver. Ich habe das Gefühl, ihr Stalker steigert sich immer mehr in seinen Wahn hinein. Aber ich glaube, er würde eher sich selbst Gewalt antun als ihnen.“ „Ihr Wort in Gottes Ohr!“, rief sie. „Aber verstehen sie denn nicht, dass ich mich nicht mehr sicher fühle? Ich als alleinstehende Frau? Ich traue mich schon gar nicht mehr raus!“ „Wir werden weiter ermitteln!“, sagte der Kommissar. „Der Brief ist wie immer in Schreibmaschine geschrieben. Ein sehr altes Modell. Wenn wir einen konkreten Verdacht hätten, könnten wir Hausdurchsuchungen machen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Mir fällt wirklich niemand ein.“ „Weiter“, sagte der Kommissar, „vermute ich, dass der Täter aus besseren Kreisen kommt. Er drückt sich sehr gewählt aus. Und er ist schamhaft. Sonst hätte er statt >Genital< sicherlich >Schwanz< oder so Etwas  geschrieben.“ Der Kommissar hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort: „Und dieser Begriff von der grauen Stunde? Können sie sich darauf einen Reim machen?“ „Ja schon.“, sagte sie. „Die graue Stunde könnte der wolkenverhangende Sommernachmittag sein, wenn ich immer diese Anrufe kriege. Aber – schmeckt ihnen der Kaffee?“
 
„Doch, doch.“, seufzte Maikamp. „Aber ich muss auch gleich wieder los, meine Zeit ist knapp bemessen.“ „Schade!“, rief sie, „Ich fühle mich immer so sicher, wenn sie da sind. Nur für den Fall – hoffen wir es nicht – dass wir uns noch einmal wiedersehen, könnte ich ihnen ja mal den Garten zeigen.“ „Sehr freundlich, Frau Reber, aber ich muss jetzt los. Den Brief nehme ich mit.“ Maikamp erhob sich und nahm das Schriftstück an sich. Seine Kaffeetasse war halb ausgetrunken und das Gebäck hatte er gar nicht angerührt. An der Tür drückte sie seine Hand, wie flehend, und er nickte freundlich und ging.
 
Sie seufzte, ging zum Telefontischchen, zog eine Schublade auf und holte das Döschen hervor. Sie schluckte drei weiße Pillen und ging ein Stockwerk höher. Hier war ein schönes, geräumiges Arbeitszimmer. Sie stieß ein Fenster auf und setzte sich an ihre Schreibmaschine. Sie legte ein Blatt ein und schrieb:
 

„Liebste, von mir verehrte Margret! Wann erlöst Du mich!?“

 
Der Kommissar war ein stattlicher Mann. Und der Sommerhimmel war mit Wolken bezogen. Würde die graue Stunde jemals enden?
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.02.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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