Josef von Stackelberg

Entspannung

Yoga, sagt man, dient der Entspannung von Körper, Geist und Seele, was immer letzteres auch bedeuten mag. Ich jedenfalls fand über einen langen Zeitraum die gründlichste Entspannung darin, für einen mir nahe stehenden Menschen alte Maschinen zu zerlegen, zu reinigen und sie dann wieder zusammen zu setzen, schön geruhsam und schön gründlich. Der Geist fokussiert sich auf die unmittelbar anstehende Handlung, er darf bisweilen etwas schweifen, wenn an einem Flansch viele Schrauben in der richtigen Reihenfolge mit dem richtigen Drehmoment festgezogen sein wollen, er darf sich aber nicht so sehr um einen schwierigen Pfahl im Leben wickeln, dass in der Seele wieder Spannung entsteht, was immer, wie geschrieben, damit gemeint sein mag. Manches Mal gab es bei diesen Zerlege- und Zusammenbauaktionen schon mal eine kleine Herausforderung, die nach der ausschließlichen Konzentration aller notwendigen Ganglien auf selbige verlangten, aber das ist wie beim Essen: wenn sich im Brei nicht zwischendrin ein Stückchen Frucht befindet, das zwischen den Zähnen zu zermalmen ist, dann ist der Brei langweilig.
Es gab nach einigen Jahren dieser entspannenden Tätigkeiten ein paar unerfreuliche Dispute und ich brachte mich selbst um die zufriedenstellenden Freudenmomente in meinem Leben, indem ich beschloss, den Kontakt zu dem mir nahe stehenden Menschen schlagartig einschlafen zu lassen.
Viele Jahre später, der Kontakt hatte sich zwischendrin in seinem Ruhebett ein paar Mal gedreht, laut gegähnt und die ersten Anzeichen von Wachsein von sich gegeben, erinnerte ich mich an diese Wochenenden mit Dieselduft in der Nase und Mineralöl an Händen und Hosen und Lust kam mich an, diese Akte der bewussten Entspannung wieder von Neuem zu durchleben. Um in meiner Neigung nicht erneut von der Nähe zu anderen Menschen abhängig zu sein, entschloss ich mich, mir einen eigenen Haufen Stahl und Schrauben zuzulegen, an dem ich ganz nach Lust und Laune rumbasteln durfte.
Die Entscheidung, welche Marke der Stahlhaufen haben sollte, fiel mir nicht ganz leicht. Ich wollte nicht irgendein Objekt der Lust oder Begierde auf meinen Hof stellen. Er sollte Charakter haben und mich gleichzeitig charakterisieren beziehungsweise der Charakter des Objektes sollte zu meinem eigenen Charakter in eine harmonische Relation treten, um Resonanzen auf einer transzendenten Ebene entstehen zu lassen. Es gibt einige Kultmarken, deren Preise sich jedoch jenseits meines Budgets bewegen und die meistens schon so vermurkst sind, dass es sinnlos ist, an ihnen das Entspannungsschrauben zu zelebrieren. Zu groß wäre der Ärger über all die sinnlose Vergeudung einstiger Ingenieursliebe.
Ein weiteres Charakteristikum war die Anzahl von Zylindern, die der Antrieb haben sollte. Ein Sechszylinder bietet eine Klangvariante, die erst wieder vom Zwölfzylinder erreicht wird, die ein Fünfzylinder bisweilen fast erfolgreich zu erreichen schafft und die einen Vierzylinder als armseliges Produkt einstufen; Laien sprechen hierbei von Laufkultur, ein Begriff, der ungefähr so unsinnig ist wie der der Liebe im Zusammenhang mit schnöder Geilheit. Weiterhin erinnerte ich mich an all die Schauergeschichten vom Hafermehl in den undichten Wärmetauschern flüssigkeitsgekühlter Triebwerke und linste entschlossen ins Lager der luftgekühlten Entspannungsobjekte. Die Auswahl potentieller Marken schrumpfte bereits merklich, als ich mich an ein Bild aus meiner Jugend erinnerte, in dem ein gleichaltriger Junge aus der Nachbarschaft dem Sechszylinder eines Bekannten alle Köpfe abgenommen hatte, um die Ventile neu einzuschleifen. Das Bild dieses Lusttraktors mit dem scheinbar ewig langen Motor, dem steil in den Himmel ragenden Abgasrohr und den mächtigen Reifen hinten und vorne gaukelte vor meinem träumenden Auge.
Der Übergeordneten Intelligenz sei Dank gibt es heute ein weltweites Datenverteilnetz mit einer Informationssuchkrake, gegen deren Schnüffelnase ein Trüffelschwein eine sinnenlose Kreatur bleibt. Es waren nur wenige Wortkombinationen notwendig, bis mich die Krake auf die richtige Spur führte: Ein Stahlhaufen, knapp fünf Tonnen schwer, mit einem beeindruckenden Klotz von Motor und einem noch beeindruckenderen Namen – einer germanischen Gottheit gewidmet – Männerachselschweißgeruch in der Nase …
Die Preise für diese gottgleichen Ackermaschinen waren ebenfalls beeindruckend und ich fragte mich bisweilen während meiner wochenlangen vergeblichen Suche in all den Kleinanzeigenpublikationen, warum ich mir diese Quälerei antun wollte. Ich war doch zufrieden mit meinem Leben, oder?
Der germanische Gott hatte von seinem Hersteller noch eine ganz profane vierstellige Nummer zur Klassifizierung erhalten, und wenn ich nicht einen Denkfehler gemacht hätte, würde ich mich wahrscheinlich immer noch vor Neid auf die Besitzenden eines Gottes quälen, während meine eigene Suche vergeblich war. Und das kam so: An einem Frühlingsabend stieß ich beim Durchfilzen der Kleinanzeigenrubrik im Wochenblatt auf eine kurze Annonce, in der ein „sehr gut erhaltener“ des Germanengotttyps – angegeben war nur die Klassifizierungsnummer – zu einem überraschend günstigen Preis feilgeboten wurde. Ich vergewisserte mich anhand der Vorwahl, dass der Standort in erreichbarer Nähe war und rief den Glückspilz an, Glückspilz, weil er das beeignete, was mir so begehrenswert schien. Wir vereinbarten einen Besichtigungstermin zwei Tage später. Am Vorabend des verheißungsvollen Tages ritt ich wieder mal die Wellen des weltweiten Netzes, um mich an den schönen Germanengötterbildern zu delektieren und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass die Klassifizierungsnummer, die ich für einen Gott gehalten hatte, einem Kleinschlepper zugeordnet war. In das Entsetzen mischte sich unsägliche Erleichterung, hatte ich doch vor vielen Jahren jeglichen suchtartigen Anfällen nach was auch immer entsagt und fühlte während der letzten Monate in Augenblicken geistiger Helle starkes Unbehagen über das mir so fremde starke Wollen von etwas, was nicht lebensnotwendig war. Ich schlief nach Monaten wieder mal gut, wusste ich doch, dass ich am nächsten Tag einen Traktor sehen würde, der in mir keine Emotionen wecken würde. Ich hatte einen Ausflug mit meiner geliebten Familie vor mir, ein Ereignis, zu dem ich mir sehr selten die Zeit nahm, und es gab keine schwere Entscheidung, ob ich das Geld für das Objekt der Begierde ausgeben sollte oder nicht, weil es kein Objekt der Begierde gab, der Übergeordneten Intelligenz sei Dank.
Die Reise zu dem Standort des Objektes der Nichtbegierde dauerte den gesamten Vormittag des Folgetages, ich fühlte mich gelassen und frei. Wir waren etwa eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit am Zielort angekommen, stellten das Auto ab und gingen auf den Hofplatz des Betriebes, zu dem die in der Anzeige angegebene Telefonnummer gehörte. Da ich wusste, dass mich kein germanischer Gott erwartete, blieb mir die Enttäuschung erspart, keinen germanischen Gott auf dem Hofplatz stehen zu sehen, aber was ich sah, das hätte ich doch nicht gedacht. „Können Sie mir sagen, wofür Sie so einen Riesenkarren brauchen?“, fragte mich der Glückspilz zur Begrüßung. Da stand er, fünf Tonnen Stahl auf riesigen Rädern, mit einer riesigen Kabine, mit einem Sechszylindermotor mit den Einzellüftern auf der rechten Seite und dem ewig langen Abgasrohr auf der linken Seite. „Zum Spielen“, sagte ich und gab dem Glückspilz die Hand, ohne den glasigen Blick von dem Objekt der Begierde abzuwenden. Vergessen waren alle germanischen Gottheiten, vergessen war die innere Ruhe, ich war wieder glücklich im Strudel der Sucht angekommen, scheiß auf Gelassenheit.
Ich streckte mich nach oben, um die Klinke der Kabinentür zu erreichen. Mit einem lauten Klacken gab die alte Mechanik des Schlosses mürrisch nach, als ich die Klinke zog. „Darf ich?“, fragte ich schüchtern, ehe ich die Leiter zur Operationszentrale hochkletterte. Der muffige Duft einer alten landwirtschaftlichen Zugmaschine hüllte mich mütterlich ein, als ich mein Gesäß auf den gepolsterten Sitz fallen ließ und das riesige Lenkrad umfasste. Die heruntergewirtschaftete Armaturentafel sah erbärmlich aus, der rostige Boden der Kabine desgleichen. Die Kühlerhaube oder was immer da vor mir lag, erstreckte sich bis zum Horizont, meine Frau legte den Kopf in den Nacken, um zu mir hochzusehen. Ich versuchte ganz cool wieder abzusteigen, so wie ich früher auf dem Schiff die Niedergänge ganz cool an den Handläufen runterglitt, ohne meine Beine mit den Stufen zu belästigen, und wäre beinahe aufs Gesicht gefallen. Verdammt hoch, dieses Teil.
Verzückt blickte ich auf den Motor, auf den öligen Klotz des Blockes, auf dem die schier endlose Reihe von Zylindern aneinandergestellt worden war, memorierte die einhundert Millimeter der Bohrung und die einhundertfünfundzwanzig Millimeter des Hubes, ein Langhuber im wahrsten Sinn des Wortes. Ich ging einmal um die Maschine herum, nahm die zerrissenen Hinterreifen (von wegen sehr guter Zustand!) in mich auf, strich mit den Fingerspitzen verzückt über die runden Hauben der Zylinderlüfter, umkreiste den mächtigen Kühlergrill und landete wieder auf der linken Seite, starrte nach oben, wo die Operationszentrale lustvolles Fahrgefühl versprach. „Darf man den Motor hören?“, fragte ich, ehe ich wieder in die Höhe kletterte. „Natürlich“, erwiderte der Glückspilz, hieß mich, die Schalthebel für die Getriebeübersetzungen in Neutralstellung zu bringen, drehte den Startschlüssel in die erste Arbeitsstellung und drückte kurz auf den darunter liegenden Knopf. Ein kräftiges Husten, als der erste Kolben durch den oberen Totpunkt ging, dann setzte das Sextett ein. Stellen Sie sich vor, Bruce Springsteen und Meatloaf würden von einer gemein gespielten Bassgitarre begleitet „Stille Nacht“ singen. Das treibt einem nicht nur die Haare auf den Armen in die Höhe, bei diesem Sound bleibt nichts liegen, aber auch gar nichts. Ich blickte kurz auf meine Frau, die Frage in den Augen, ob sie mitfahren wollte. Sie reagierte nicht, verstand wohl die Frage nicht wegen des archaischen Orchesters, das da vor mir mit ungefähr fünfhundertfünfzig Umdrehungen pro Minute werkelte, trat aber einen Schritt zurück und ergriff schützend die Schultern meiner Tochter. Ich zog die Kabinentür zu, trat die Kupplung (Männerarbeit!) und würgte einen Gang hinein (Männerarbeit!!). Dann ließ ich die Kupplung los, ziemlich ruppig, weil sie sehr hart arbeitete. Aber einen Sechsliterlanghubmotor würgt man nicht ab mit einer roh losgelassenen Kupplung. Er treibt die fünf Tonnen Stahl mit einem Satz nach vorn. Ich drückte mit dem rechten Fuß auf das Gaspedal, was dem Sextett zwar nicht den Schweiß auf die Stirn, aber ob des Motorengesangs meinen Hormonpegel in die Höhe trieb, und fuhr los. Das Wechseln des Ganges war nicht nur Männerarbeit, es war schlichtweg unmöglich. Wahrscheinlich habe ich in den dreißig Jahren, während denen ich nur noch mit synchronisierten Warmduscherautomobilgetrieben zu tun hatte, verlernt, das schwere Getriebe einer landwirtschaftlichen Zugmaschine umzuschalten, dachte ich wehmütig ob der verlorenen Fertigkeit. Ich drehte eine kurze Runde, dabei ungefähr für zwei Sekunden mein Deutsches Gewissen mit dem Gedanken belastend, dass ich mit einem nicht zugelassenen Fahrzeug am allgemeinen Verkehr teilnehme, und kehrte auf den Hofplatz zurück, wo ich betont umständlich wieder auf den vorherigen Stellplatz rangierte, um das hormonisierende Fahrgefühl ein paar Sekunden länger auszukosten. Ich ließ den schweren Sechszylinder noch einmal bedachtsam hochjubeln und stellte ihn dann ab. Wir fuhren anschließend in die nahegelegene Stadt zum Mittagessen und dann wieder nach Hause. Ich kaufte diesen Luststahlhaufen nicht, weil die Reifen in einem grauenerregenden Zustand waren, weil der Motor qualmte, als würde er dafür bezahlt, und weil sich der Antriebsstrang nicht bewegen ließ (heute weiß ich, dass die Kupplung und das Getriebe dieses Traktors wahrscheinlich in den letzten Zügen lagen). Aber ich hatte etwas gelernt. Es kam nicht darauf an, Göttern hinterherzujagen. Der Hersteller dieser sagenhaften Sechszylindertraktoren hatte eine Reihe von Maschinen als Nachfolgemodelle der germanischen Götter aufgelegt, die dem Hormonspiegel eines Mannes erheblich mehr das Geschlecht kraulen. Ich wandte meinen Fokus nun diesen neu entdeckten Klassifizierungsnummern zu (ich hatte die Nummer in der Anzeige falsch gelesen und daher gedacht, ich würde einen Kleintraktor zu sehen bekommen). Es dauerte noch eine Weile, ehe wir fündig wurden. Und es dauerte dann eine Weile, bis das Fahren Spaß machte. Während der ersten Wochen und Monate nach dem Kauf meines Lustobjektes vergaß ich beinahe, dass ich den Traktor eigentlich gekauft hatte, um geruhsame Basteltage zu verbringen, weil die Grundinstandsetzung erheblich umfangreicher ausfiel als geplant. Und er ist immer noch groß. Wenn man durch die engen Straßen der Altstadt fährt, dann wird es links und rechts bisweilen ziemlich spannend mit dem Restabstand zwischen den mannshohen Reifen und den Rinnsteinen, Fußgängern und Hauswänden. Aber ein kleiner Druck aufs Gaspedal der Maschine gleicht den angestiegenen Adrenalinspiegel mit einer ordentlichen Ladung Testosteron aus und führt zu einem Cocktail im Blut, der in der Literatur wahrscheinlich mit dem abgedroschenen Begriff „Glückshormon“ beschrieben wird.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.02.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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