Inge Hoppe-Grabinger

Stolz auf mich

Ich weiß nicht genau, was Stolz bedeutet.  Wenn ich höre, jemand ist stolz auf sein Land, wird mir schlecht, weil ich befürchte, dass derjenige,
der das sagt, gar nichts dazu beigetragen hat, dass es seinem Land irgendwie besser gehen könnte.  Wieso ist jemand, der  dick und
faul vor dem Fernseher hockt und zuschaut, wie sich irgendwelche Männer bei irgeneinem Sport abstrampeln, stolz auf sein Land im
Falle eines Sieges?  Was für ein merkwürdiges Gefühl der Überlegenheit  (gegenüber wem ?) stellt sich da ein?  

Wenn  Stolz überhaupt einen Sinn hat, dann ist es der, Stolz auf sich selbst zu sein. Denn dann ist irgendetwas geschehen, was
nicht vorprogrammiert war und das etwas positiv verändert hat.

Heute erlebte ich eine Aufführung  in den Berliner Kammerspielen von Shakespeares Coriolan: ein phantastisches Bühnenbild, aus Dutzenden von Schubladen wurden Treppen, Tische, Stühle,  Zwischenstücke, Abstände, Abgründe, Siegeshügel.  Die römischen Soldaten:  allesamt von Frauen gespielt, zu meiner großen Enttäuschung , weil ich immer Mühe habe, mich in diesen Rollentausch zu fügen.  Die Frauen verwandelten sich, je nachdem , wieder zurück in Frauen, sehr gewöhnungsbedürftig,  unwillig folgte man dem hin und her, aber dann - Musik  verwandelt alles - war es plötzlich völlig selbstverständlich:  Coriolan, machtbesessen, intrigant,  gerissen, zynisch, das Volk als Stimmvieh benutzend,
war eine Frau. Vier andere Schauspielerinnen schlüpften je nach Bedarf auch in Männer- und Frauenrollen, und man folgte
mit angehaltenem Atem , wie sie auf auf den herausgerissenen Schubläden auf- und abturnten, alles war - obwohl total künstlich - sofort
nachvollziehbar: da ist ein Riss, da eine Brücke,  da ist eine Anbahnung, da ist eine Spaltung, ein Verhängnis.
Der Beifall am Ende des Stückes war zunächst kräftig, aber verhalten. Ich konnte nicht an mich halten und rief  in den Raum "bravo",
nicht laut, aber doch wahrzunehmen.  Niemand  reagierte. Dann kamen die Schauspielerinnen zurück und nun gab es schon drei "bravo-
Rufe",  und das Wunder geschah, von  "Vorhang" zu "Vorhang"  wuchs  die Zahl der   "bravo"-Rufer, so dass  es, sich ständig steigernd,
zum Schluss  geradezu einen Chor von "bravo"-Rufern gab. 
Diese jungen, wundervollen Frauen, die so gut artikulierten, dass man jedes Wort verstand, was heute nicht selbstverständlich ist,
feierten noch hinterher ihren Sieg in der Kneipe. Heute war ich, ausnahmsweise, stolz auf mich.
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Inge Hoppe-Grabinger).
Der Beitrag wurde von Inge Hoppe-Grabinger auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Inge Hoppe-Grabinger

  Inge Hoppe-Grabinger als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Lebensbilder von Brigitta Firmenich



Der Gedichtband Lebensbilder lotet die Tiefe des Lebens in seiner Vielfalt aus. Die grossenteils besinnlichen Texte zeigen das Leben in verdichteter Form. Hier geht es um Liebe und Leid, Vertrauen und Schmerz, Leben und Tod. Es sind Gedichte zum Nachdenken, Texte, in denen man sich wiederfindet.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (4)

Inge Hoppe-Grabinger hat die Funktion für Leserkommentare deaktiviert

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wahre Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Inge Hoppe-Grabinger

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Landlust oder die Liebe zur Natur von Inge Hoppe-Grabinger (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Hinaus in die Ferne von Karl-Heinz Fricke (Wahre Geschichten)
Was nun? von Rainer Tiemann (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen