Martin Breuer

Was ist Liebe?

Und schon wieder stritten sie sich. In letzter Zeit machte es Sam keine Freude mehr, mit seinen Eltern gemeinsam Abend zu essen oder abends fern zu sehen. Nein, etwas hatte sich verändert. Er konnte tun was er wollte, die Streitereien ließen nicht nach und Sam begann zu verzweifeln. „Ein letztes Mal“, sagte sich Sam und betrat das bereits mit Anschuldigungen und Vorwürfen geflutete Wohnzimmer. Sie bemerkten ihn nicht. Sam setzte sich ohne ein Wort aufs Sofa, kauerte sich zusammen und beobachtete sie. Der große kräftige Mann, der keine Erfüllung in seinem Job findet, ewig frustriert das eigene Haus betritt auf der einen, die kleinere, jedoch ungemein wortgewandte und emotionale Hausfrau auf der anderen. So bizarr dieses Bild für den neutralen Beobachter doch scheinen möge, Sam hatte sich allmählich daran gewöhnt. Bei dem Gedanken, dies könnte für immer so sein, brach er in Tränen aus. Er fragte sich häufig, was denn der Grund war für das Alles, für all die Dinge, die ihm den Alltag so unangenehm machten. Er wusste es nicht. Sam ging in die Küche und starrte auf die Zettel am Kühlschrank. „Alles Liebe zum Muttertag“ stand in typisch kindlichen Buchstaben auf einer besonders aufwendig verzierten Karte. Diese Karte war nicht mehr als ein Produkt seines Kunstunterrichts der zweiten Klasse, jedoch übte es auf ihn eine traurige Faszination aus. Er schaute auf das aufgeklebte Foto inmitten der Karte. Zu sehen waren seiner Mutter und ihr Vater, lachend, Arm in Arm, im Hintergrund die Strandpromenade des französischen Urlaubsortes, den sie früher zu besuchen pflegten. Beinahe zwei Jahre war das schon her. Er vermisste die Urlaube, die Sonne, die Pinien, doch was er am Meisten vermisste, war die glückliche, freie Zeit, in der man so fern von allem Bedrückenden war, in der Sam das Gefühl hatte, eine Familie zu haben. „Alles Liebe“ las er wieder und wieder und hinterfragte den Sinn dieses Ausdruckes. Konnte man jedem Liebe wünschen? Und was war Liebe überhaupt? Sam wusste es nicht und er glaubte auch nicht daran! . Er zog sich seine Schuhe an, nahm seine Jacke von der Garderobe und verließ leise das Haus.
Als er in den Bus stieg, fragte ihn der Busfahrer wohin er denn wolle, so spät am Abend, doch als Sam ihm nicht antwortete, winkte er ihn herein und schloss hinter ihm die Türen.
An der Elisabethstraße stieg er aus. Er lief die ihm bekannte Straße entlang und öffnete das Gartentor eines Alten, gutbürgerlichen Anwesens, das er schon zu lange nicht mehr gesehen hatte. Er drückte auf die Türklingel, auf der sein eigener Familienname stand und seine Großmutter öffnete. Er schlich an ihr vorbei in die Stube und kauerte sich aufs Sofa. Opa setzte sich zu ihm und streichelte seinen Kopf. Sam schien es nicht als wollten seine Großeltern genauestens erfahren was denn eigentlich los sei, er wollte es aber ohnehin nicht erzählen. Er blieb zusammengekauert auf dem Sofa liegen. Opa deckte ihn mit einer Wolldecke zu, Oma brachte ihm einen Tee. „Bist du ganz alleine gefahren?“ fragte sie. Er nickte nur. „Soll ich mal Mama und Papa anrufen?“ Er schüttelte vehement den Kopf. „Achso“. Oma verstand. Sie wusste von den gelegentlichen Spannungen zwischen den Eltern. Sie ließ ihn allein. Sam blieb alleine liegen. In seinem Kopf drehten sich seine Gedanken um die Vorkommnisse der letzten Wochen. Er versuchte sich verzweifelt an eine liebevolle Berührung, ein Kompliment oder auch nur eine nette Geste zwischen seinen Eltern zu erinnern. Vor drei Wochen, als er Geburtstag hatte, hatten sie sich nicht gestritten, zumindest nicht am Morgen. Als er am späten Nachmittag zum Kaffee kam, war es vorbei mit der Ruhe und er verkroch sich wieder in sein Zimmer. "Liebe“ dachte er. „Kann man das sehen?“ Wieder wusste er keine Antwort. Sam stand auf und ging in die Küche. Oma kochte noch einen Tee. „Oma“ fragte Sam. „Ja mein kleiner?“ Dann stellte Sam die Frage, die ihn nun schon seit längerem beschäftigte: „Oma. Was ist Liebe?“ „Mein Kleiner, das ist nicht so einfach. Du kannst nicht einfach sagen, das ist Liebe und das nicht. Liebe zeigt sich in den kleinen Dingen. Liebe ist mehr als ein Kuss, eine Berührung oder ein verliebter Blick. Liebe ist das Gefühl, eine Person zu vermissen, auch wenn sie gerade neben dir liegt, denn man weiß, dass man nicht mehr viel Zeit miteinander hat und diesen Moment für alle Zeit fest! halten w ill.
Liebe ist wenn man die eine Person gefunden hat, mit der man über alles reden kann und sich verstanden fühlt. Liebe ist auch Sorge, man sorgt sich um die Person und ist stets um das Wohlergehen von ihm bemüht. Liebe ist das absolute Vertrauen. Denn man weiß, wie der andere empfindet und will ihn niemals verletzen. Aber Sam, Liebe ist nicht einfach, das siehst du. Manchmal liebt man sich und gleichzeitig hasst man sich. Weißt du, wenn man sich wirklich liebt, steht man auch die schwierigen Phasen durch. Mach dir keine Sorgen mein Lieber, das wird schon wieder.“ Sie umarmte ihn liebevoll und brachte ihn ins Bett. „Aber Morgen geht’s wieder nach Hause“. Sam dachte lange nach. Er konnte nicht schlafen. Er stellte sich vor, was Oma gesagt hatte und ihm fiel auf, dass seine Eltern doch nicht nur stritten. Gestern hatten frische Blumen auf dem Tisch gestanden, letzte Woche waren sie im Kino gewesen. Zu zweit, ohne ihn. Er dachte wieder an all die fröhlichen Momente im Urlaub und an die Fotoalben aus seiner Kindheit. Nie hatten seine Eltern sich nach einem Streit nicht wieder vertragen, nie hatten sie ihn wissentlich damit belastet. Um ihn hatten sie sich immer gekümmert. Sam spürte etwas neues, ein neues Gefühl. Neben all der Traurigkeit die ihn umgab, spürte er Hoffnung. Spät in der Nacht schlich er zu seinen Großeltern ins Schlafzimmer und beobachtete sie leise. Ein harmonisches Bild, wie sie da lagen. Opas Schnarchen schien Oma kein bisschen zu stören, sie kuschelte sich an ihn und er legte einen Arm um sie. Sam stellte sich vor, seine Eltern lägen da und vergaß für einen Moment alle Streitereien und Missverständnisse.
„Das also ist Liebe“ flüsterte er. „Danke“.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Martin Breuer).
Der Beitrag wurde von Martin Breuer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Martin Breuer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Das 1x1 der Möbelantiquitäten: Stilkunde, Lexikon, Der Tischler, Galerie, Pflege von Bernhard Valta



Wenn Sie sich für das Wohnen, für Menschen, antike Möbel, Geschichte oder Verknüpfung all dessen interessieren, liegen Sie bei diesem Buch richtig: Das 1X1 der Möbelantiquitäten. Über 900 Abbildungen sind enthalten für diejenigen, die nicht viel lesen wollen und trotzdem mitreden möchten. Leserinnen können sich kleine G´schichterln heraussuchen, wie etwa die von Joschi dem Holzwurm, Josef II und der Klappsarg, Kaiserin Maria Theresia und ihr Heer, oder was Bill Haley 1956 mit Berlin zu tun hatte.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Liebesgeschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Martin Breuer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Abschied von Martin Breuer (Abschied)
Eine Nacht mehr von Nando Hungerbühler (Liebesgeschichten)
Freunde auf Umwegen von Uli Garschagen (Fabeln)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen