Andreas Rüdig

Der Fahrgast

 

Dieser Fahrgast ist eine Nervensäge. Er kann alles besser und weiß alles besser. Er ist der Grund dafür, wieso ich meine Familie kaum noch sehe. Vor 10 Jahren waren unsere städtischen Verkehrsbetriebe faktisch pleite. Die Einnahmen durch die Fahrkartenverkäufe deckten nur noch 15 % der Kosten. Die restlichen Ausgaben wurden durch staatliche Subventionen gedeckt. Also mußte eine Lösung gefunden werden, wie die Kosten gesenkt werden könnten. Die Fahrpreise wurden drastisch erhöht. Die Leistungen wurden ebenso drastisch gesenkt. Buslinien wurden eingestellt, Neuanschaffungen nicht getätigt. Die Folge: häufige Verspätungen, zusammenbrechende Straßenbahnen, verdreckte Bahnhöfe.
 

Dieser spezielle Fahrgast sagten diesem miserablen Zustand den Kampf an. Er machte sich Notizen, sobald er Mißstände sah. Verspätungen? Defekte Fahrkartenautomaten? Verdreckte Haltestellen? Er schrieb es auf. Und beschwerte sich darüber. Nicht nur bei unseren Verkehrsbetrieben. Er versuchte auch, es in die Politik zu tragen. Und scheiterte. Er wollte ihm nämlich niemand zuhören.
 

Also mußte er sich Verbündete suchen. Doch wie einen Verbündeten finden, wenn sein Konzept lediglich „Kritik“ heißt? Verbesserungsvorschläge waren erwünscht. Also setzte er sich eines Freitagsabends an seinen Schreibtisch, begann ein neues Konzept für unsere Verkehrsbetriebe auszuarbeiten, und erhob sich erst, als es fertig war. Da war es Sonntagabend. Und Montagmorgen lag das Konzept bei uns auf dem Schreibtisch.
 

Seiner Meinung nach sollten wir uns neue Geschäftsfelder erschließen. Fahrdienstleistungen sind unser täglich Brot. Unsere Busse und Bahnen können Fahrten zu Ausflugszielen organisieren. Fahrten für Partys, Hochzeiten und Firmenausflüge? Sie sollten beworben werden. „Aktivität, nicht Passivität“ lautet sein Motto. Und er hatte Erfolg damit. Zuerst billigte unser Vorstand sein Konzept, dann der Stadtrat.
 

Vor 5 Jahren begannen wir, das Konzept in die Praxis umzusetzen. Heute schreibt das Unternehmen schwarze Zahlen und beginnt, seine Schulden abzubezahlen. Die Touristik – Branche ist der Goldesel, der den Gewinn abwirft. War ich vor 10 Jahren noch normaler Busfahrer, der Linie fuhr, gehöre ich heute zur Touristikbranche. Ich bin viel unterwegs, vor allem an Wochenenden und an Feiertagen. Da fahre ich oft bis spät in die Nacht. Meine Familie sehe ich nur noch, wenn sie schläft. Wenn ich spät nachts nach Hause komme, liegt sie laut schnarchend im Bett. Zum Ausgleich schlafe ich, wenn Frau und Tochter morgens aus dem Haus gehen. „Solange du nicht im Bus schläfst, ist es mir egal,“ meint meine Frau nur. Na ja, solange ich keinen Mann in ihrem Bett finde, soll es mir auch egal sein.
 

So, ich muß jetzt Schluß machen. Die ersten Fahrgäste kommen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.03.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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