Manfred Bieschke-Behm

Balkonien



Bewusst habe ich eine Kirche in Berlin-Tempelhof besucht. Ich wusste, dass es zurzeit eine Bilderausstellung gibt, die ich unbedingt ansehen wollte. Was mich erwartete waren zauberhafte Aquarelle einer Hobbymalerin. An den kahlen weißen Wänden des Kirchenschiffes waren rundherum Bilder mit den unterschiedlichsten Motiven aufgehangen. Dominiert wird die Ausstellung von Landschaftsbilder und Stillleben. Nur der Altarbereich unterbricht die Bildergalerie.
Es ist Mitte März und für diese Jahreszeit viel zu kalt. Neuschnee hat den Winter zurückgebracht und ein kalter Ostwind lässt mich zusätzlich frieren. Die Kirche ist nicht beheizt. Anfänglich geglaubte Wärme verliert sich und lässt die Kühle des mächtigen Kirchenbaus spüren. Und trotzdem gibt es für mich keinen Grund die Kirche fluchtartig zu verlassen. Die Bilder, sprich die Motive und die warmen Farben lassen mich die Kälte aushalten, fast vergessen. Ich bewege mich von Bild zu Bild. Spüre dabei innere Wärme und gleichzeitig immer kälter werdende Füße und Hände. Jedes Bild erzählt mir eine Geschichte von der ich nicht weiß, ob diese Geschichten auch der Malerin im Kopf waren, als sie das jeweilige Bild gemalt hat. Hätte ich Gelegenheit die Künstlerin zu befragen, würde ich bestimmt sehr schnell feststellen müssen, dass sich ihre Bildergeschichten mit den meinen nicht gleichen. Aber das ist gerade das Schöne am Betrachten von Bildern. Jeder hat seine eigene Fantasie und Erinnerungsmomente. Mit mir sind weitere Personen in der Kirche. Alle sind gekommen, um die Ausstellung zu besuchen. Die Kirche bietet den Rahmen aber nicht den Anlass des Besuches. Eine Person kann ich beobachten wie sie im Altarbereich inne hält und Altar und Kreuz bewusst wahrnimmt. Für einen Augenblick scheint der Grund ihres Besuches vergessen. Es ist nur ein Augenblick. Aber genau dieser Augenblick ist es, der mir auffällt und mir bewusst macht, dass auch ich mich in einer Kirche aufhalte.
Ich habe alle Bilder angesehen und will gehen. Gleich rechts neben dem Eingang hängt ein Bild das den Namen „Balkonien“ trägt. Dieses Bild hat es mir offensichtlich besonders angetan. Ich lasse die Klinke der Kirchtür los und gehe zu dem Bild „Balkonien“. Stelle mich davor und schwelge in Erinnerungen.
Das Haus ist ein bisschen heruntergekommen. Es wirkt kriegsbe-schädigt. Große Teile des Putzes fehlen. Die Grundfarbe ist nicht deutlich zu erkennen. Farben haben sich im Laufe der Jahre verwischt. Stellenweise fehlt der Putz, so dass Mauerwerk erkennbar ist. Zwischen einzelnen Mauersteinen fehlt der Verbindungszement. Es entsteht der Eindruck, als könne man in das Haus hineinsehen und bräuchte hierzu nicht die Fensterscheiben. Es bedarf einiger Fantasie, um sagen zu können, dass das Gebäude einmal ein stattlich anzusehendes Haus war. Auffällig sind die Balkone. Sie wirken durch ihre filigrane Ornamentik südländisch und von einer nicht zu beschrei-benden Leichtigkeit. Gleichzeitig wirken die Balkone als wären sie nachträglich montiert und nicht von Anfang an Bestandteile des Hauses. Bei genauer Betrachtung lässt sich jahrelang gebildeter Rost an den Gitterornamenten erkennen. Aber wer möchte sich daran stören?  Der Zahn der Zeit hat genagt und wird es weiter tun und trotzdem die Schönheit der Balkongitter kaum schmälern.
 
Besondere Aufmerksamkeit erfährt das Haus zur Pflanzzeit. Immer wenn die Zeit gekommen ist die leeren Balkonkästen zu bepflanzen, durchlebt das Gebäude einen Wandel. Meist feuerrote Geranien zieren alle Balkone und lassen glauben, dass die Vergänglichkeit wieder einmal aufgehalten wird. Das ist die Zeit, in der ich besonders gerne in diesem Haus wohnte in dem ich viele Jahre meines Lebens verbrachte. Gerne stand ich auf meinem Balkon und beobachtet alles was um mich herum geschah. Da gab es den Balkon gleich neben an. Wenn es sich ergab wurde ich vom Nachbarn freundlich begrüßt. Natürlich grüßte ich zurück und nicht selten entstand ein Plausch von Balkon zu Balkon. Auf dem Balkon unter meinem Nachbarn saßen die Mieter, die erst vor ein paar Monate eingezogen sind. Es ist ihre erste Saison auf Balkonien, wie ich die Zeit benenne, die ich auf dem Balkon verbringe. Das junge Pärchen sitzt sich angeregt unterhaltend gegenüber. Sie schlürfen eine Limonade und schauen sich verliebt in die Augen. Junges Glück. Unbeschertes Leben, denke ich und knicke zwischen den Geranien welke Blätter und abgeblühte Blütenstände weg. Ob Pflanzen merken dass ihnen etwas weggenommen wird, nur weil es den Menschen, so wie es ist, nicht gefällt? Ich weiß nicht, ob Pflanzen denken und fühlen können. Wüste es aber gerne. Es gibt Menschen, die sprechen mit ihren Pflanzen. Mindestens diese müssen ja wohl glauben, dass mit Pflanzen Kommunikation möglich ist.
Die wärmende Sonne tut meinem Gesicht gut. Ich spüre die Wärme auf der Haut. Geschlossene Augen und ein leichter Wind lassen mich glauben im Süden zu sein. Meeresrauschen stellt sich nicht ein aber ein leichter Wind ist wahrzunehmen. Er spielt sanft mit meinen Haaren und trägt den besonderen Duft der Geranien in meine Nase.
Ich stehe noch immer vor „meinem“ Bild und träume. Ich rieche den Geranienduft und höre das Pärchen auf dem Balkon unter mir lachen. Das einsetzende Glockengeläut lässt mich aufwachen und spüren dass mich friert und dass meine kleine Zeitreise zu Ende ist. Ich verlasse die Ausstellung und die Kirche und werde von dicken Schneeflocken empfangen. Alles hat seinen Sinn, denke ich und freue mich auf die Zeit der Geranien und auf mein Balkonien.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.03.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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