Michael Nagel

Blaugrau

Er blickte hinauf in den Himmel, der einmal blau gewesen war. Nun war er grau, von schwarzen Schlieren durchzogen wie Schnee, der zu lange auf der Straße gelegen hatte. Er lag auf einer Mauer aus roten Backsteinen, ein Bein lässig ausgestreckt.
„Ich möchte auch nach dort oben, Rocko“, sagte er und Rocko winselte zustimmend.
„Dort oben treffe ich geflügelte Pferde, die auf Wolken reiten und Engel, die weinen, damit es regnet. Ich weiß es.“, sagte er, die Augen in den Himmel gerichtet. Er lächelte breit und legte seine Hand auf das braun gescheckte Fell neben sich. Rocko winselte zustimmend.
„Es ist alles dort oben. Hinter dem Dreck. Ich weiß es ganz sicher Rocko!“
Er war sich sicher, dass Rocko sich auch sicher war. Rocko war sich jedoch bestimmt sicher, dass dort oben Engel saßen, die mit Schinken um sich warfen und er selbst über Wolken springen durfte.
Bei dem Gedanken wollte er auch über Wolken springen. Und gegen Schinken war auch nichts einzuwenden.
„Rocko?“ Rocko winselte fragend.
„Wenn wir sterben, werden wir dann zu Engeln oder geflügelten Pferden?“
Rocko blickte ihn an und legte den Kopf zur Seite. Seine tiefen braunen Augen waren wie tiefe Seen, die alles wussten und gleichzeitig nichts. Seine Zunge hing zu einer Seite aus seinem Maul, er hechelte sanft.
„Nun sag schon, du bist schließlich älter als ich!“, forderte er den Hund mit seinen braunen Augen auf.
Rocko hechelte nur, legte den Kopf schief und in einer plötzlichen Bewegung zog er seine Zunge, die mittlerweile aus der anderen Seite hing quer durch das kleine, schmutzige Gesicht.
„Dummer alter Hund!“, lachte er und wischte sich mit seinem blauen Ärmel über das Gesicht. Rocko bellte freundlich.
„War das jetzt ein Ja für Engel oder ein Ja für geflügeltes Pferd?“
Rocko legte den Kopf auf die andere Seite. Wahrscheinlich war es beides, oder nichts.
„Es ist ja auch egal, ich will beides sein! Oder gar nichts. Wer weiß das denn schon so sicher?“ Rocko winselte zustimmend.
Er sah den Himmel, grau mit den schwarzen Schlieren, aber nicht mehr so genau wie vorher. Es war als ob er durch ein Aquarium schauen würde, alles war irgendwie unscharf.
„Rocko? Wie kommt man eigentlich in den Himmel?“, fragte er. Rocko legte den Kopf schief.
Er seufzte. Rocko wusste bestimmt viel mehr als dass er zugab. Und er behielt alles für sich selbst.
„Denkst du die Engel holen einen ab? Auf geflügelten Pferden?“
Er wartete gar nicht auf eine Antwort, es war sowieso nur ein Winseln, ein Kopfschieflegen oder wenn man besonders viel Glück hatte ein Bellen.
Der Himmel über ihm wurde blasser, er bildete sich sogar ein, dass er ein wenig blau zwischen den Schlieren sah.
„Siehst du das Rocko? Fängt das so an?“
Rocko sah, da war er sich sicher, denn der Hund blickte ganz konzentriert nach oben. Oder sah er etwas anderes zwischen den Wolken; da war er sich nicht so sicher.
Die Backsteinmauer war der bequemste Platz zum Liegen den er sich vorstellen konnte und doch war er sich da nicht ganz sicher, denn er konnte gar nichts anderes machen als Liegen, auch wenn er es versuchte. Er ging also davon aus, dass es so bequem war, dass sein kleiner Körper nur zu Liegen brauchte.
Rocko lag nicht, er saß. Natürlich neben ihm, wie immer, aber irgendwie war es so, als würde er aufpassen.
Vielleicht passt er auf, ob wir bald abgeholt werden.
„Hey Rocko!“, sagte er, „Denkst du die haben im Himmel noch andere Sachen als Schinken, geflügelte Pferde und weinende Engel?“
Rocko wusste es nicht, denn er bewegte sich nicht. Also sprach er einfach weiter:
„Ich könnte mir so einiges vorstellen was der Himmel gebrauchen könnte. Betten zum Beispiel und einen Himmel ohne Schlieren, vielleicht auch Pizza oder Schokolade…“
Er stockte. Er mochte Schokolade, er mochte auch Pizza. Aber eigentlich mochte er Rocko lieber. Und irgendwie war es gut, dass er hier war, auf der Mauer und Rocko neben sich. Es fühlte sich richtig an; aber da war er sich nicht so sicher.
„Rocko? Weißt du was ich mir am meisten Wünsche im Himmel?“ Rocko winselte fragend.
„Ich wünsche mir, dass du einen anderen Hund findest. Einen der fliegen kann und dir das Fliegen beibringt, damit du über Wolken springen kannst!“
Rocko leckte ihm quer über die Nase, winselte dabei und drehte sich zu der Mauer hin, die tiefbraunen Augen auf ihn gerichtet. Irgendwie war es ihm so, als wüssten sie mehr als er.
Der Himmel war ein wenig dunkler geworden als vorher. So war es ihm jedenfalls, aber er war sich auch nicht so sicher. Er konnte nicht mehr so weit sehen und hoffte auch nicht mehr, dass er noch erkennen konnte, wenn die Engel mit ihren Pferden kamen.
„Rocko?“, sagte er, „wie lange denkst du müssen wir noch warten bis sie kommen?“ Rocko legte den Kopf schief, er war sich nicht sicher. Seine feuchte schwarze Nase schnupperte an ihm. Ganz sanft. Und ab und zu winselte er ein wenig.
Er griff in das braun gescheckte Fell, vergrub seine Finger darin. Der Himmel war viel zu weit weg.
„Du, Rocko?“, sagte er, „wenn du im Himmel bist, dann musst du gucken, dass du mich findest, sonst weiß ich ja nicht ob es dir gut geht!“
Rocko winselte. Er war sich sicher, dass er verstanden hatte. Er hustete, es tat weh in seiner Brust. Rocko sprang auf die Mauer und legte sich neben ihn, schmiegte sich eng an den kleinen Körper heran.
„Rocko wenn du dich so versteckst werden sie dich nie finden. Sie werden dich bestimmt vergessen!“, sagte er.
Rocko schien es egal zu sein.
Er hustete wieder, es tat wieder weh. Er wischte sich mit seinem blauen Ärmel über das Gesicht. Der Stoff schien irgendwie grauer geworden zu sein. Rocko leckte über seine Nase und über seinen Handrücken. Er winselte.
„Ich glaube Rocko“, begann er, „dass die Engel nur kommen, wenn wir es nicht erwarten. Ich glaube dann vergessen sie auch niemanden. Da bin ich mir ziemlich sicher!“
Rocko war sich auch sicher, da war er sich sicher auf seiner roten Backsteinmauer in der grauen Welt unter dem grauen Himmel.
„Rocko?“, fragte er. Rocko winselte zurück.
„Kannst du den Engeln zeigen wo ich bin, wenn sie kommen? Ich nicht, dass ich mich so lange konzentrieren kann!“ Er hustete. Rocko winselte.
„Okay?“
Rocko leckte ihm über den Handrücken, über den Arm und über die Nase. Er nahm dies als Ja.
„Gut“, sagte er, schloss die Augen und legte sein Gesicht in das weiche Fell neben ihm.
„Wenn sie fragen ob ich sicher bin, dass ich in den Himmel will, dann sag ihnen, dass ich nur gehe wenn ich fliegen darf. Sag ihnen das, okay?“ Rocko winselte.
„Sag ihnen das…“
Mit geschlossenen Augen fing er an ruhig zu atmen. Er musste nicht mehr husten. Es war als ob sein Körper leichter wurde, sich erhob und wie von selbst nirgendwo hin ging. Er fühlte sich frei, freier als jemals zuvor, da war er sich sicher. Das Fell neben ihm wurde immer weicher, die Mauer immer bequemer.
„Rocko? Ich…“
Er hörte auf zu reden, verstand auf einmal jedes Winseln, jedes Kopfschieflegen und jedes Bellen, das Rocko jemals von sich gegeben hatte.
Und als er begann von der Mauer aufzustehen und gleichzeitig liegen blieb, war es ihm als ob er Engel sah, die auf Pferden aus dem blauen Himmel ritten und ihn an seinem blauen Ärmel zogen. Er gab dem Ziehen nach und dachte nur noch, dass auch irgendwann Engel zu Rocko kommen würden und ihn an seinem braunen, gescheckten Fell ziehen würden bis er mit ihnen kam.
Da war er sich sicher.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Michael Nagel).
Der Beitrag wurde von Michael Nagel auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.03.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Michael Nagel als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Wolkenflieger - Gedichte von Liebe, Lust und Himmelsmacht von Heidemarie Sattler



"Wolkenflieger" ist ein Wegbegleiter, der mir aus dem Herzen spricht.
Er ist ein Dankeschön, ein Seelenwärmer und zwinkert dir mit einem Auge schelmisch zu.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Abschied" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Michael Nagel

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Rufen ohne Echo von Michael Nagel (Alltag)
Endgültig von Monika Klemmstein (Abschied)
Das Geständnis eines reuigen Verkehrssünders von Heideli . (Skurriles)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen