Michael Nagel

Rufen ohne Echo

Als ich den Klassenraum betrat, fiel er mir sofort auf. Es war ein Apparat mit drei Flügeln, genauso wie vorne an dem kleinen Flugzeug, das in der Kiste hinter der Tür zu meinem Zimmer lag. Ich wusste nicht, ob man sie Flügel nannte, aber es war mir egal. Als ich mich auf einen Stuhl setzte, begann er sich zu bewegen, bis es aussah, als ob eine kreisrunde Scheibe an der Decke hing. 
„Emil?“
Ich war unzufrieden. Auf meinem Platz musste ich mich umdrehen, um den Apparat zu sehen. Ich stand auf und wechselte meinen Platz. 
„Emil!“
Jemand tauchte vor mir auf und versperrte mir die Sicht. Es war eine Frau, ungefähr so groß wie Mama, größer vielleicht, ich hatte keine Ahnung woher sie auf einmal kam. 
„Was ist los Emil?“
„Was ist das?“, fragte ich und zeigte auf das Gerät an der Decke. Es war kühler geworden, als ich meinen neuen Platz gefunden hatte. 
„Das ist ein Ventilator, Emil.“
Ich prägte mir das Wort ein, sagte es ein, zwei Mal vor mich hin. 
„Emil, wir sind gerade dabei uns vorzustellen. Möchtest du gerne weiter machen?“
Das leise Rattern des Ventilators beruhigte mich irgendwie. Ich schloss die Augen und versuchte nur den Ventilator zu hören. Es war besser als das Rauschen des Meeres, das Mama immer in den CD-Player legte, wenn ich schlafen wollte.
Ich spürte etwas an meiner Schulter und öffnete meine Augen. Es war eine Hand und sie gehörte zu der Frau von eben. Sie versperrte mir immer noch den Blick. 
„Geht es dir nicht gut?“
„Ich glaube mir geht es ganz gut“, sagte ich, „Kann… Ich meine… Kann ich den Ventilator bitte haben?“
Die Frau lachte, die anderen Kinder lachten. Es war gut, dass sie lachten. Mama lachte immer, wenn sie glücklich war. 
„Nein, das kannst du leider nicht. Der gehört doch der Schule.“
Ich wusste nicht mehr genau was oder wer Schule war. Mama hatte es mir die letzten Wochen erklärt, aber ich fand es nicht sonderlich interessant. Durch die Flügel des Ventilators schimmerte die graue Decke. Eine Fliege flog um ihn herum, immer gefährlich nahe an den Flügeln. Ich fragte mich was passierte, wenn…
„Na los, Emil. Du bist mit Vorstellen an der Reihe. Steh bitte auf.“
Ich stand auf, konnte jedoch die Decke nicht aus den Augen lassen. Die Fliege flog nun über den Flügeln, ich erkannte sie durch die Scheibe. 
„Also Emil, was machst du denn gerne?“
Ich blickte zu der Frau und als ich sah, dass sie mich auch anschaute, blickte ich schnell zu der grünen Wand ganz vorne. Es stand Frau Floß daran, ich erkannte die Buchstaben, die Mama mir beigebracht hatte. Ich wusste aber nicht, was das bedeuten sollte. 
„Ich…“
„Nur nicht so schüchtern. Du magst also Ventilatoren, habe ich schon bemerkt. Was magst du denn noch?“
Es war mir alles unangenehm. Ich versuchte einen Punkt in der Klasse zu finden, den ich anschauen konnte, aber nichts war besser als der Ventilator an der Decke. 
„Ich mag Flugzeuge“, sagte ich. 
„Flugzeuge. Das ist doch schon einmal was.“ Die Frau ging vor mir in die Knie und legte ihre Arme auf meinen Tisch. Ihre Fingernägel waren rot, sie sahen ganz anders aus als meine. Am kleinen Finger war die Farbe ein wenig abgeblättert, das störte mich. Über mir hörte ich das Rauschen des Ventilators. 
„Emil, du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind alle nervös an unserem ersten Schultag.“
Ich nickte. Ich schaute schnell in ihre Augen, an ihren Mund, die Augenbrauen, verstand sie aber nicht. Ich glaubte zumindest, dass ich keine Angst hatte. Meine Hände waren feucht. Ich wischte sie an der Hose ab und schaute wieder nach oben. 
„Okay Kinder, dann machen wir weiter. Paula, stellst du dich einmal vor?“


„Mama?“
„Ja, Schatz?“
„Es gibt da so etwas, so ein... ein Ventilator. Ich… kann ich so was haben Mama?“ Es fiel mir schwer zu sagen, was ich will; das war schon immer so.
Mama wischte ihre nassen Hände an der Schürze ab. Dort wo sie den Stoff berührten, war das Blau nun dunkler als vorher. Es erinnerte mich an meinen Farbkasten und an das Blau, das ich mit Schwarz vermischt hatte. 
„Hast du mir zugehört?“
Ich blickte auf, wusste aber nicht, wovon Mama sprach. 
„Ich sagte, wieso möchtest du denn jetzt einen Ventilator haben? Ist es dir zu heiß in deinem Zimmer? Ich mache die Fenster auf, wenn du möchtest.“
„Ich möchte einen Ventilator. An der Decke!“
Mama seufzte und setzte sich auf einen der Stühle in der Küche, ihre Schürze trocknete langsam. Der dunkle Fleck wurde immer heller. 
„Wir können keinen Ventilator kaufen, Mäuschen. Das können wir uns nicht leisten. Wir brauchen doch gar keinen Ventilator. Wenn wir einkaufen gehen, kaufe ich dir einen Kleinen, den du in die Hand nehmen kannst.“
Ich spürte, wie meine Augen nass wurden und rannte davon. Ich war wütend auf Mama und dass sie nicht verstand, wie wichtig das für mich war. Ich kramte in der Kiste hinter der Tür. Das kleine Flugzeug war bis ganz nach unten, zwischen die Autos, gefallen. Die weißen Flügel vorne waren verbogen. Ich pustete dagegen und sah zu, wie für einen kurzen Moment aus den Blättern eine Scheibe wurde; es war aber irgendwie nicht dasselbe. 
Als es langsam dunkel wurde, hörte ich Mama rufen. Sechs Uhr, Abendbrot. Ich packte das blaue Flugzeug in die Kiste für blaue Sachen und stellte sie hinter die Tür. Das Abendessen stand auf dem Küchentisch und dampfte, dass sich an der Lampe, die nur knapp darüber hing, kleine Wassertropfen bildeten. Ich setzte mich auf den hohen Stuhl und wartete, doch es kam niemand. 
Ich sah den Tropfen zu. Es war, als ob sie ein Wettrennen veranstalteten, nur um am unteren Rand zu einem einzigen großen Tropfen zu werden und schwer in den Topf mit den Nudeln zu fallen. Ich legte das Besteck anders neben meinen Teller, bis alles den gleichen Abstand hatte. Dann war ich zufrieden. 
„Ja Schatz, ich weiß, dass du viel zu tun hast…“
Die Stimme kam aus dem Nebenzimmer. Ich kletterte von meinem Stuhl, ging an die Tür und legte mein Ohr daran.
„Ja, ich weiß, dass du Stress hast, aber wir können nicht ewig damit warten. Ja…“
Mama telefonierte, doch mit wem wusste ich nicht. Sie sagte zwar Schatz, aber sie redete nicht mit mir. 
„Er wird es schon verstehen. Nein, ich werde mit ihm zu einem Arzt gehen. Ja. Ich weiß nicht, ob er denkt, dass er anders ist.“
Ich wusste nicht von wem sie redete. Zwischen den ganzen „Ihm“ und „Er“ verlor ich immer den Überblick. 
„Ich habe schon mit ihnen telefoniert, das habe ich dir doch schon erzählt. Ja, sie sagten ich soll so schnell wie möglich kommen. Umso länger man damit wartet, desto schwerer kommt man an ihn heran. Ich weiß, Schatz. Okay, bis dann. Hab dich lieb.“
Es piepste, als das Telefon zurück in sein Ladegerät gesteckt wurde. Früher mochte ich das Piepsen sehr gern. Ich ging zurück an den Tisch und setzte mich vor meinen Teller. Ich hatte das Gespräch fast wieder vergessen, ich hatte sowieso nichts davon verstanden. 
„Da bist du ja, Schatz“, sagte Mama, als sie in die Küche kam. 


„Mama ich weiß nicht, die Schule ist anders, ich glaube mir gefällt es dort nicht mehr.“
Mama zog mir den Pullover über den Kopf und richtete meine Haare. Es war genau Viertel nach sieben. Ich setzte mich und streckte die Füße aus. Mama begann mit dem linken Fuß. 
„Erst der Rechte!“, beschwerte ich mich.
„Schatz, du hast es doch immer gemocht. Du hast dich nie beschwert.“
Die Schule war auch nie ein Problem gewesen, doch wir mussten den Klassensaal wechseln. Der neue Klassensaal war fast genauso wie der alte, doch an der Decke waren nur Lampen. 
„So, Mäuschen. Nur noch die Schuhe. Willst du sie heute selbst zubinden?“
Ich setzte mich hin und nahm beide Schnürsenkel in die Hand. Mama hatte es mir schon sehr oft gezeigt. Sie machte ein Spiel daraus, von einem Hasen, aber ich konnte es mir nicht merken. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie es funktionierte, es war, als hätte ich es nie gewusst. 
„Nicht schlimm, Schatz“, sagte Mama und gab mir einen Kuss auf die Stirn und band die Schnürsenkel zusammen. Kurz darauf saß ich hinten im Auto. Im Himmel sah ich ein Flugzeug, doch es hatte vorne keinen Ventilator.
Als ich an der Schule ankam, ging ich sofort an meinen Platz. Vor mir lachten ein paar Jungs, aber es war mir egal. Ich hatte das Gefühl, sie lachten ständig über mich. Das Geräusch des Ventilators war weg, es lenkte mich immer davon ab. Ich hörte die Gespräche um mich herum. Sie wurden immer lauter, mein Kopf begann weh zu tun.
Draußen schien die Sonne, aber es war mir egal. Ich wollte lieber daheim sein, bei Mama und dort, wo ich alles kannte und gern hatte.
Herr Reintgen, mein Deutschlehrer, trat ein und mein Magen zog sich zusammen. Ich mochte den Mann nicht, sein Gesicht war wie eine Maske. Ich wünschte Menschen hätten Schilder über ihrem Kopf, auf denen stand, dass ich mich von ihnen fernhalten sollte. 
Zwischen seinen Augenbrauen waren kleine Falten. Sie waren manchmal da und manchmal nicht. Ich versuchte herauszufinden, wieso. 
„Guten Morgen“, sagte er und setzte sich an den Tisch vor der Tafel, „Ich denke ihr habt alle eure Hausaufgaben gemacht! Ihr erinnert euch, ein zwei Sätze über eure Sommerferien. Emil, lass doch mal hören!“
Immer ließ er von mir hören. Fast jedes Mal und jedes Mal lachte man über mich. Ich sagte nichts. 
„Na los, lies schon vor!“ 
Ich sah die Falten zwischen seinen Augenbrauen, dachte an den Ventilator, an das Geräusch, an die runde Scheibe und die Decke, die durch sie schimmerte, wenn man genau hinsah. 
Herr Reintgen kam zu mir und nahm meine Hausaufgaben. Ich hörte nicht hin als er sie vorlas und ich hörte nicht hin, als die anderen Kinder lachten. Alles was ich hören wollte, war ein Ventilator an der Decke.


Zwei Tage nach meinem siebten Geburtstag tauchte ein Mann in unserem Haus auf. Mama nannte ihn Jörg und ich musste ihm dann die Hand schütteln. Ich verstand nicht, was er bei uns machte, aber im Laufe der Zeit war er immer öfter bei uns. 
Mama lachte viel und war deswegen wohl glücklich. Sie zog mir morgens immer noch den Pullover über den Kopf und half mir mit den Schnürsenkeln, doch irgendwie war alles anders. Ich wusste nicht was es war, doch es stimmte etwas nicht.
Der Neue machte alles neu und das gefiel mir nicht. Mir gefiel auch nicht, dass Mama nun öfter mit Jörg fern schaute, als mit mir zu lesen und mir gefiel nicht, dass Jörg nun auf dem Stuhl saß, auf dem ich immer sitzen durfte. Aber ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte.
Langsam war es so, als ob Mama Jörg lieber mochte als mich, und das gefiel mir am Wenigsten. 
Ich konnte nicht schlafen. Es war sieben Uhr. Mama hatte das Meeresrauschen vergessen und ich verstand nicht, wie es funktionierte, also dachte ich an den Ventilator an der Decke. Ich dachte an die Farben im Farbkasten und erinnerte mich an Mamas Schürze. Damals um diese Zeit hätte ich schon längst geschlafen.
Ich stand auf und ging an Mamas Schlafzimmertür. „Heute Abend bist du ein braver Junge und störst uns nicht“, hatte sie gesagt, „Morgen früh bekommst du dann deinen eigenen, kleinen Ventilator.“
Der Ventilator war mir fast egal, ich wollte Mama zurück, und das, was einmal war. Licht schimmerte unter der Tür hindurch, doch ich traute mich nicht, sie zu öffnen. Ich ging an der Küche vorbei in das Wohnzimmer und an das Regal mit den vielen Büchern, die laut Mama zu schwierig für mich waren. An diesem Abend nahm ich so viele mit, wie ich tragen konnte. Alles was ich wollte war verstehen, verstehen, warum ich das einzige Buch war, das Mama nicht verstand.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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