Peter Somma

Die geschenkte Stunde

 

 

          Es war schon empfindlich kalt als er diese Reise antrat, und selbst Schneefälle wären keine große Überraschung gewesen, denn man schrieb schon den neunundzwanzigsten Oktober. Er maß aber diesem Datum keine besondere Bedeutung bei, als er diese Fahrt antrat, die wegen geschäftlicher Angelegenheiten in der kommenden Woche in einer weit entfernten Stadt im Ausland notwendig geworden war. 

 

            Um eventuelle Schwierigkeiten zu vermeiden, die schlechtes Wetter hervorrufen hätten können, benützte er für diese Tour nicht seinen Wagen, wie er das sonst getan hätte, sondern bevorzugte für diese, diesmal lieber die Bahn.

 

         Obwohl die Fahrt, deren Beginn für zwanzig Uhr festgesetzt war, mehrere Stunden dauern sollte und anstrengend zu werden versprach, verzichtete er auf den Komfort, den ein Schlafwagenabteil geboten hätte, und nahm lieber in einem kleinen Abteil für etwa acht Personen Platz. 

 

Das tat er, weil er für eine kleine Liebesaffäre stets offen war, es liebte auf Zufälle zu hoffen, und er hoffte, dass ihm das Schicksal auch auf dieser Reise, eine günstige Gelegenheit für einen Flirt, oder auch gerne etwas Ernsteres bieten werde, und ihm, quasi wie in einem „blind date“, die Möglichkeit zu einem kleinen, erotischen Abenteuer schenken werde. So wie ein Besucher im Kasino, der darauf wartet, dass die richtige Zahl fallen werde, machte er aus allem ein Spiel, in dem die Unsicherheit der Einsatz war und der Gewinn ungewiss blieb.

 

Er war ein Mann Mitte dreißig, weder verheiratet noch sonst in irgendeiner Weise gebunden und ihn reizten solche Spiele mit dem Schicksal, die ihn in eine besondere Spannung versetzten und er ergriff derartige Gelegenheiten, wann immer sie sich ihm  boten. Wie ein Spieler im Spielsaal einen Tisch sucht, an dem er annimmt, sicher gewinnen zu können, wählte er sein Zugabteil in dem sich später, wenn ihm das Schicksal die entsprechende Mitspielerin bescherte, sich so seine Reise zu einem aufregenden Abenteuer entwickeln könnte.

 

 Erwartungsvoll lehnte er sich in den gepolsterten Sitz zurück und wartete voll Spannung der Dinge, die da kommen sollten.

 

Schon glaubte er diesmal sein Spiel verloren zu haben, denn er war schon lange allein in seinem Abteil gesessen, als endlich, der Zug hatte in der dritten Station angehalten, eine junge Dame zugestiegen war, die, obwohl es in diesem Waggon noch reichlich andere, leere Abteile gab, in seinem Kupee Platz nahm, in dem er bisher allein dahingedöst hatte. Da erwachte in ihm neue Hoffnung auf ein gutes Gelingen seines Spieles und er half der neu Hinzugekommenen, ganz Kavalier der alten Schule, galant beim Verstauen ihres Gepäcks.

 

Die junge Dame, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, war in einem schwer zu bestimmenden Alter, jedenfalls aber attraktiv und ihrer ganzen Aufmachung nach, musste sie wohl auch, so wie er in Geschäften unterwegs sein. Ihr Verhalten, das sie an den Tag legte, nachdem sie sein Abteil betreten hatte, ließ ihn glauben, dass sie ein heiteres Gemüt haben müsse und alles wies darauf hin, dass er in der jungen Frau die richtige Partnerin für sein Spiel gefunden hatte, das in einem erotischen Abenteuer enden sollte.

 

Noch waren große Abschnitte der Landschaft, die an ihnen vorbeihuschte, wie Schattenrisse zu erkennen, aber bald würde die Gegend in tiefste Dunkelheit getaucht sein, die aber immer wieder von einzelnen Lichtquellen unterbrochen sein wird, die sogar dort die Nacht zum Tag machen wollten, und selbst in den höchsten Anhöhen, die tiefste Nacht nicht verschlingen konnten. Und wenn der Zug durch eine Bahnstation fuhr, würde diese Finsternis jäh durch die hellen Bahnsteige unterbrochen werden.

 

Das Rattern des Zuges über die Geleise übertrug sich in das Innere des Abteiles und das Überfahren jeden Schienenstoßes rüttelte die beiden Reisenden in einem stets gleich bleibenden Rhythmus. Regelmäßig glitt der Zug über die Geleise und die beiden ließen sich durch das rhythmische Schaukeln einlullen.

 

Noch hatte keiner der beiden ein Wort gesprochen und sie täuschten einander vor, eingenickt zu sein. Verstohlen beobachteten sie einander hinter den aufgehängten Mänteln, die Beine der beiden berührten sich wie zufällig im Rhythmus des Schwanken des Zuges und keiner von ihnen zog sich zurück. Wenn sich ihre Schenkel durch das Wackeln des Zuges berührten, hielt sie seine Unterschenkel wie unabsichtlich, mit ihren Beinen, wie in einer Zange fest, drückte sie in jeder Kurve ein wenig fester, und nahm danach jedoch, den Druck sofort wieder zurück, und gab damit dem Ganzen etwas Zufälliges. Das Spiel, auf das er gehofft hatte, hatte begonnen, aber noch reagierte er auf diese versteckten Annäherungsversuche nicht, denn er wollte, dass sie die Initiative ergreifen werde.

 

Sie schätzte ihn als einen Mann in den Dreißigern, mit dem sie sich durchaus ein kleines Abenteuer vorstellen konnte. Noch war sie sich nicht ganz sicher, ob er ihre heimlichen Signale erkannt hatte, und nachdem sie ja bereit war, sich mit ihm in eine kleine Affäre einzulassen, war es sie, die, nach einem langen Schweigen, die Konversation begann. 

 

 Zunächst begannen sie mit den, in solchen Situationen üblichen Belanglosigkeiten, sie sprachen über die in den letzten Tagen angebrochene Kältewelle, sie erkundigte sich nach dem Zweck und dem Ziel seiner Reise und nahm erfreut zur Kenntnis, dass auch er das selbe Ziel hatte wie sie. Sehr bald schlug sie ihm vor, sich doch beim Vornamen zu nennen da sie ja Reisegefährten wären, wobei sie zunächst beim förmlichen „Sie“ blieben. Die Tatsache, dass er ungebunden war und sie, wie sie sagte in keiner Beziehung lebte, bewegte ihr Gespräch bald in die von beiden gewollte Richtung. Kleine, unverfängliche Anzüglichkeiten flossen in ihre Unterhaltung ein und die Unterhaltung begann dreister zu werden, wobei die Dame mit einem vielsagenden Lachen zu erkennen gab, die immer eindeutiger gewordenen Zweideutigkeiten seiner Worte wohl verstanden zu haben. Da sie keinerlei Zeichen setzte, von den Anspielungen gestört oder gar verletzt zu sein, wurden seine Andeutungen immer kecker und über dem Abteil schwebte eine Wolke von vieldeutigem Versprechen. Immer öfter mischte sich nun in das „Sie“ das vertrauliche „Du“ bis sie sich endgültig entschlossen beim „Du“ zu bleiben, was natürlich mit einem scheinbar unverdächtigen Bruderschaftskuss besiegelt werden musste. Dieser entwickelte sich schließlich zu einer ausgedehnten Schmuserei und war für beide der letzte Hinweis, wie sich dieses zufällige Treffen weiter entwickeln sollte. 

 

Der Zug brauste über die Schienen und die ins Dunkel getauchte Landschaft flog an ihnen vorbei. Seit mehreren Stunden leisteten sie sich nun schon Gesellschaft, vom Zugservice bestellte Getränke trugen zur Lockerung der Beziehung bei und so waren sie sich in dieser Zeit immer näher gekommen. Schon seit einiger Zeit saß er ihr nicht mehr gegenüber sondern neben ihr auf der Bank, was den gegenseitigen Annäherungsversuchen sehr entgegenkam. In dem nur schwach beleuchteten Abteil kam es bald zu einem ordentlichen Geknutschte und ihre Kleidung war schon lange nicht mehr gesellschaftsfähig.

 

Es war schon nach Mitternacht als plötzlich der Zug in einer hell erleuchteten Station stehen blieb. Die beiden blickten sich verblüfft an und versuchten, da sie rechnen mussten, dass irgend ein Bahnbeamter ihr Abteil besuchen könnte, erschreckt in aller Eile ihre Kleidung wieder in Ordnung zu bringen. Der Lautsprecher verkündete: „Es ist zwei Uhr und fünfzehn Minuten mitteleuropäischer Sommerzeit. Der Zug setzt seine Fahrt um zwei Uhr dreißig mitteleuropäischer Zeit fort und hat daher eine Stunde und fünfzehn Minuten Aufenthalt.“

 

Als sie das hörten, waren sie ziemlich überrascht, denn keiner der beiden hatte daran gedacht, dass an diesem Tag, die Sommerzeit endete. „Was machen wir nun mit dieser geschenkten Stunde?“ fragte er sie ein wenig verblüfft. „Ich glaube, da wird uns sicher etwas einfallen und wir sollten uns für diese Zeit ein gemütlicheres Plätzchen suchen“ antwortete sie.

 

         Sie zogen die Vorhänge, die sie vor einiger Zeit zugezogen hatten, wieder auf und erkannten draußen einen hellerleuchteten Bahnhof, dessen Namen sie nicht kannten und für den sie sich auch nicht interessierten. Nach dem Aussehen der Station musste es sich um einen kleinen Ort handeln, in dem sie diese Stunde verbringen mussten. Sie stiegen aus, verließen den Bahnhof und standen vor einem unansehnlichen, schmucklosen Platz, den nur wenige Straßenlaternen beleuchteten und ihn in ein blasses, fahles Licht tauchten. Eine seltsame, ungewohnte Stille lag über dieser Szenerie und kaum ein Auto verkehrte noch zu dieser Zeit. Dem Bahnhof gegenüber befand sich ein Hotel-Restaurant, das ihnen einladend genug für ihr Vorhaben schien. Sie nahmen an der Bar einen Kaffee, erhielten an der Rezeption einen Schlüssel für eines der Zimmer im ersten Stock und verschwanden dann, so als ob sie das abgesprochen hätten, ohne ein Wort gewechselt zu haben, über die Stiege in den ersten Stock. Alles geschah wie im Traum, so als ob sie von allem Anfang gewusst hätten, dass alles so kommen werde. 

 

Sie verbrachten gut eine Stunde in diesem, eher schäbigen Hotelzimmer und vergnügten sich dort auf ihre Weise. Dann kehrten sie wieder, ineinander eingehängt, wie zwei Verliebte, in ihr Abteil zurück und bald darauf setzte der Zug seine Fahrt fort.

 

Er war schon bald, in seine Ecke gelehnt, sein Gesicht vom Mantel bedeckt, den er dort aufgehängt hatte, eingenickt und als er erwachte tagte es schon. Schlaftrunken saß er ihr gegenüber und versuchte das Vergangene in das Bewusstsein zurückzurufen. Eine junge Frau, die auf der gegenüberliegenden Bank lümmelte, lächelte ihn an. Sie war ihm fremd und vertraut zugleich. Er wusste nicht recht, war er irgendwo ausgestiegen oder hatte er die Zeit schlafend in seinem Abteil verbracht. Irgendwann und irgendwo war er dieser Frau schon begegnet. War sie nicht irgendwo zugestiegen und hatte in seinem Abteil Platz genommen? Hatte er sich mit ihr unterhalten oder bildete er sich das nur ein? Hatte er nur von diesem armseligen Zimmer geträumt oder hatte es das wirklich gegeben? Hatte er eine gute Stunde mit ihr dort verbracht? War das alles nur ein Traum gewesen oder hatte er sich das gar alles nur eingebildet? Er wusste es nicht.

 

            Immer noch lächelte ihn die Frau an, die ihm gegenüber saß, aber sie sagte kein Wort und auch er brachte kein Wort heraus. Wie hätte er auch mit ihr über etwas sprechen sollen, von dem er nicht wusste, ob es sich wirklich zugetragen hatte, oder ob er es geträumt hatte. Er erwiderte etwas verlegen ihr Lächeln, wusste aber nicht, wie er sich verhalten sollte, denn er glaubte, sich alles nur eingebildet zu haben. So verlief der Rest der Reise wortlos.

 

            Der Zug musste inzwischen eine beträchtliche Strecke hinter sich gebracht haben, denn wenn er aus dem Fenster sah, erkannte er, dass sie sich schon dem vorgesehenen Ziel näherten. In Kürze würde diese sonderbare Reise zu Ende gegangen sein und sie würden sich nie mehr wieder sehen.

 

         Als sie angekommen waren, half er ihr mit dem Gepäck, aber es fiel kein Wort mehr zwischen ihnen und aus ihrem Gesicht war das Lächeln verschwunden. Nur zum Abschied sagte sie: „Servus, war nett mit dir, vielleicht sieht man sich ja wieder einmal irgendwo, irgendwann!?“

 

 

Was tun zwei Menschen denen plötzlich eine Stunde geschenkt wird?
Ein Mann und eine Frau begegnen sich auf einer Zugfahrt gerade an jenem Tag, an dem die Sommerzeit auf die Normalzeit umgestellt wird. Sie kommen sich schon während der Zugfahrt näher und als sie am Zielpunkt angekommen sind fragt sich der Mann: Hat er alles nur geträumt, oder haben sie sich doch während der Pause, in der der Zug angehalten worden war, in einem nahen Hotel amüsiert?psom1
Peter Somma, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.04.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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