Janika Siegle

Das Zimmer des H. Krug


Leise schlich sie die Treppen hinauf. Niemand sollte Angelina hören. Sie lief ganz am Rand der Treppe, damit sie nicht knarrte. Auf Zehenspitzen. Stufe für Stufe. Die Treppe schien nicht enden zu wollen.
Knack! Jetzt hatte die Treppe doch geknarrt. „Mist, verdammter Mist!“, fluchte Angelina leise. Schon gefühlte tausendmal war Angelina diese Treppe hoch geschlichen. Doch noch nie hatte sie es geschafft, dass diese eine Stufe nicht knarrte. Angelina vergaß jedes Mal aufs Neue, diese Stufe einfach auszulassen. Jedes Mal nahm sie es sich vor. Doch genauso oft wie sie es sich vornahm vergaß sie es auch wieder, einfach einen großen Schritt über die Stufe zu machen.
Draußen war es dunkel. Es war mitten in der Nacht. Angelinas Hand fühlte nach ihrer Pistole, die hinten in ihrer Hose steckte. So verharrte sie einen Moment. Sie atmete flach und leise. „Niemand darf mich bemerken, sonst ist alles umsonst gewesen!“, schoss es ihr durch den Kopf, „mich hat doch wohl niemand gehört?“. Das fragte sie sich jedes Mal. Doch bisher war noch nie etwas geschehen. Jedenfalls nicht wegen der Treppe. Und auch diese Nacht schien niemand sie gehört zu haben. Sie wartete noch einen kurzen Moment, dann schlich sie weiter die Treppe hinauf. Ganz vorsichtig.

 
Am oberen Ende der Treppe befand sich ein langer Flur. Langsam tastete sich Angelina an der Wand entlang. Stück für Stück. Aber das Licht wollte sie nicht anknipsen. In kleinen Schritten ging sie voran. Bis ganz ans Ende des Flures.

 
Da war sie, wie jede Nacht. Die Türe. Die Türe zu Zimmer 13. Natürlich war die Türe nicht nur nachts da. Aber tagsüber konnte Angelina nicht hinein. Genau genommen konnte sie auch nachts nicht hinein. Jedoch hatte Angelina genau das vor. Sie ignorierte die Tatsache, dass ihre Versuche in das Zimmer zu gelangen, bisher alle gescheitert waren.
Tagsüber arbeitete H. Krug in dem Zimmer. Und zwar den ganzen Tag, von morgens bis abends. Jeden Tag der Woche, sogar am Sonntag. Auch wenn andere Menschen Ferien hatten, H. Krug arbeitete! Er schien das Wort Ferien nicht zu kennen.
Niemand wusste so genau was H. Krug in Zimmer 13 tat. Nur, dass er wohl etwas entwickelte. Etwas streng Geheimes. Manche sagten, er würde dort neue Waffen entwickeln, manche redeten sogar von einem Drogenlabor, das angeblich in Zimmer 13 sein sollte. Doch das waren alles nur Spekulationen, niemand hatte Beweise dafür. Genau diese Beweise suchte Angelina. Schon seit einem halben Jahr. Sie war Agentin und hatte schon oft versucht in das Zimmer zu gelangen – bisher ohne Erfolg. Doch diese Nacht musste es einfach klappen.
Drei große Schlösser hingen vor der Türe. Nun musste Angelina ihre Taschenlampe wohl doch anschalten. Ihr wäre es lieber gewesen kein Licht zu machen, damit man sie nicht bemerken konnte. Doch für die Schlösser brauchte sie es, schließlich hatte sie keine Katzenaugen.
Mit ihrem Dietrich schloss sie die Schlösser auf, eines nach dem anderen. Das war noch der einfache Teil gewesen. Doch Angelina wusste aus vergangenen Nächten, dass wenn sie jetzt die Türklinke drücken würde, dann eine Alarmanlage losschrillen würde. Und darauf konnte Angelina verzichten.
Mit ihrer Taschenlampe leuchtete die Agentin die Türe und die Wände ab. Jeden noch so kleinen Winkel beleuchtete sie. Aber sie fand nicht, was die Alarmanlage hätte deaktivieren können.
Angelina atmete tief ein und aus. Sie überlegte, doch ihr fiel absolut nichts ein. Außerdem wollte sie sich beeilen, denn es war ihr nicht geheuer so lange auf dem Flur zu bleiben. So verlassen und leer der Flur auch aussah, Angelina wusste, dass dieses Gebäude nie verlassen war. Öfter als ihr lieb war, hatte Angelina schon Bekanntschaft mit den Nachtwächtern gemacht. Es gab hier wenige Nischen, in denen Angelina sich hätte verstecken können. Schon zweimal war Angelina den Nachtwächtern nur ganz knapp entkommen.
Erschöpft lehnte sich Angelina gegen die Wand. Da spürte sie plötzlich etwas sehr Hartes in ihrem Rücken. Rückartig drehte Angelina sich um. Mit ihrer Taschenlampe leuchtete sie die Stelle an der Wand ab und tatsächlich: mitten in der Wand steckte eine Schraube. Eine Schraube! Mitten in der Wand! Angelina wunderte sich nicht wenig darüber.
Die Schraube ragte ein bisschen aus der Wand heraus und war anscheinend nicht ganz in die Wand hineingeschraubt worden. Daher war es für Angelina eine Leichtigkeit, die Schraube wieder herauszudrehen. Durch das Herausdrehen lockerte sich ein Stück von der Wand. Angelina nahm das Stück Wand ab und staunte nicht schlecht als sie sah, was sich dahinter verbarg. So einfach war das also gewesen. Denn dahinter befand sich nichts anderes als der Knopf zum deaktivieren der Alarmanlage. Das nahm Angelina jedenfalls an, schließlich stand in großen, dicken Buchstaben über dem Knopf „Alarmanlage“. Der Knopf war gedrückt und leuchtete rot, also war die Alarmanlage wahrscheinlich aktiviert.
Angelina steckte ihren Finger danach aus und drückte den Knopf vorsichtig. Schon sprang der Knopf wieder heraus, das rote Licht erlosch.
Aber jetzt schnell wider zur Türe. Angelina ging ein paar Schritte darauf zu. Sie wollte gerade die Türklinke drücken, doch dann zögerte sie. Sollte sie es wirklich wagen? Was wäre, wenn es noch eine zweite Alarmanlage gab? Tausend Gedanken schossen Angelina durch den Kopf. Aber sie musste es einfach wagen. Dafür wurde sie schließlich bezahlt.
Entschlossen drückte Angelina die Türklinke hinunter. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Was würde sie wohl in dem Zimmer erwarten? Angelina stieß die Türe mit einem Ruck auf. Ihr erster Gedanke war, dass sie es geschafft hatte: die Alarmanlage hatte nicht losgeschrillt.
Doch nachdem sie einen Blick in das Zimmer geworfen hatte stöhnte sie enttäuscht auf. Sie betrat leise den Raum. Es war nicht das Zimmer, in dem H. Krug seine geheimen Dinge entwickelte. Angelia befand sich nun in einer Art Vorraum. Von dort ging eine Türe aus mit der Aufschrift „Arbeitszimmer“. Sie näherte sich der Türe und versuchte die Klinke zu drücken, doch es war genauso wie sie befürchtet hatte: Die Türe ließ sich nicht öffnen.

 
Mit ihrer Taschenlampe leuchtete Angelina den kleinen Vorraum ab. Da war ein Regal, ein paar Kleiderhaken für Jacken, nichts Besonderes. Oder doch?
Na klar, warum war Angelina das denn nicht gleich aufgefallen? Neben der Türe hing ein kleines Gerät mit Zahlen von null bis neun. „klar“, dachte Angelina, „ich brauche einen Zahlencode!“.
Doch den Code würde Angelina schon herausfinden. Besser gesagt, den würde ihr Auftraggeber schon herausfinden! Für solche Dinge war er zuständig. Sie würde ihm Morgen gleich von ihrem Fortschritt erzählen. Sie traf sich schließlich morgen sowieso mit ihm. In einem alten Bahntunnel. Zum Glück einem, der nicht mehr benutzt wird. Ihr Auftraggeber liebte solche absurden Treffpunkte. Na ja, wenn es ihm Spaß machte…

 
Angelina beschloss, ein andermal wieder zu kommen. Und dann würde sie es schaffen, sie würde in das Zimmer gelangen, da war sie sich sicher. Vorsichtig verließ sie das Zimmer und schloss die großen Schlösser wieder ab. Sie ging auf die Schraube in der Wand zu und nahm das Stück Wand erneut ab. Anschließend drückte sie auf den Knopf und aktivierte so die Alarmanlage wieder. Sie drehte die schraube wieder in die Wand hinein und schlich zurück zur Treppe. Genauso leise wie Angelina gekommen war, verschwand sie auch wieder.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.04.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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