Jutta Miller-Waldner

Der Anrufbeantwworter

Monica tauchte schweißgebadet aus einem Albtraum empor, in dem tausend kleine Teufel ein ohrenbetäubendes Konzert aus tausend Fahrradklingeln veranstalteten, der Oberteufel dreckig grinste und ein riesiges schwarzes Ungeheuer sie zu verschlingen drohte. Sie tastete nach dem Lichtschalter an der Nachttischlampe, riss das Wasserglas um, das langsam über den Nachttisch rollte und auf dem Boden zerbrach.

»Mist«, schimpfte Monica.

Sie blinzelte auf den Radiowecker: »Welcher Idiot ruft denn schon wieder um zwei Uhr nachts an?«

Wieder schrillte das Telefon.

»Ja, ja, ich komme ja schon«, brummte Monica. Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln, wankte zum Telefon in ihrem Arbeitszimmer, nahm den Hörer ab.

»Hallo.«

Schweigen.

»Hallo, wer ist da?«

Immer noch Schweigen. Dann war die Leitung tot.

Monica ließ sich schwer auf den Schreibtischstuhl fallen, suchte in dem Wust von Briefen, Rechnungen und Zetteln auf ihrem Tisch nach dem Zigarettenpäckchen, zog die letzte Zigarette heraus, zerknüllte die Packung und warf sie zu den anderen leeren Packungen in den Papierkorb. Sie angelte nach dem Feuerzeug. Hastig atmete sie den Rauch ein.

Wer konnte das nur sein? Seit fünf Wochen ging das nun schon so. Immer um dieselbe Zeit, nachts um zwei Uhr, klingelte alle drei, vier Tage das Telefon, und wenn sie heranging, wurde aufgelegt. Mittlerweile wurde sie manchmal schon um zwei Uhr wach. Aber dann blieb das Telefon natürlich still.

Monica streifte die Asche im Aschbecher ab.

Wer hatte sich bloß ihre Telefonnummer herausgesucht? Ausgerechnet ihre Nummer unter Hunderttausenden von Anschlüssen in der Stadt?

Sie starrte auf das Telefon. Dabei hasse ich die Dinger! Schon als Kind habe ich Angst vor dem Telefon gehabt, diesem schwarzen Ungeheuer, wo man mit einem Gegenüber spricht, dessen Gesicht man nicht ansehen kann, ob er nun freundlich oder feindlich gesonnen ist. Und außerdem rufen sowieso meist Leute an, mit denen man gar nicht reden will. Wie die Kontoführerin von der Bank, die einem eiskalt berichtet, dass das Konto wiedermal so überzogen ist, dass man es doch bitte schön innerhalb von zwei Wochen ausgleichen solle. Oder Mutter, die jeden Abend um acht Uhr anruft, die lallt, weil sie mal wieder mit der Cognacflasche gegen ihre Einsamkeit ankämpft. Oder Bärbel, die stundenlang von Kindergeburtstagen, Bastelnachmittagen und ihrem überaus erfolgreichen Gatten erzählt.

Monica seufzte. »Bin ja selbst schuld. Warum habe ich mir überhaupt solch einen Apparat zugelegt.«

Sie wankte zurück in ihr Bett und versuchte, noch die vier Stunden weiterzuschlafen, bis sie aufstehen musste. Doch wie schläft man mit einem klopfenden Herzen?

Ob es doch der David war? Aber sie hatte ihn vor ein paar Tagen schon gefragt, ob er sie mitten in der Nacht anrief.

»Nein, natürlich nicht«, hatte er geantwortet. »Warum sollte ich?«

Monica hatte ihm geglaubt. Warum auch nicht? Sie glaubte alles, was man ihr sagte.

David. Der Freund, der doch nur ein Freund war, denn er war verliebt in eine andere Frau, so verliebt, dass Monica es schon fast nicht mehr ertragen konnte, wenn er von ihr sprach. Er sprach nur von ihr. Jedes Gespräch landete unweigerlich bei Jessica, die dreiundzwanzig Jahre jünger war als er – zwanzig Jahre jünger als Monica –, seine Assistentin seit fünf Jahren, und doch so klein, so zerbrechlich, so schutzbedürftig. So eifersüchtig und besitzergreifend. Dabei war David verheiratet, hatte fünf Kinder.

Monica liebte David. So sehr, dass sie ihm stundenlang zuhörte, wenn er von seiner Sehnsucht nach Jessica sprach, von seiner Hilflosigkeit, weil er seine Frau doch auch noch liebte. Und sie selbst – Monica – natürlich auch.

Monica schaute auf die grünen Ziffern des Radioweckers. Drei Uhr zehn.

Morgen besorge ich mir einen Anrufbeantworter, auch wenn ich diese Dinger noch schlimmer als Telefone finde.

Sie schluckte eine Schlaftablette – ohne Wasser, denn sie war viel zu kaputt, um sich neues Wasser zu holen.

Monica schreckte empor. Himmel, ich habe verschlafen! Hätte ich doch bloß nicht die verdammte Schlaftablette genommen! Sie blinzelte zu den Leuchtziffern hinüber: Fünf Uhr fünfzig. Na ein Glück, zehn Minuten kann ich noch liegen bleiben.

Punkt sechs Uhr stand sie auf, wankte unter die Dusche, ließ das heiße Wasser über ihren Körper rieseln.

In der Mittagspause muss ich losziehen und den Anrufbeantworter kaufen. Das wird ja wieder ein Stress werden. Monica drehte den Heißwasserhahn noch weiter auf. Aber das hält ja kein Mensch aus, immer die Anrufe in der Nacht. Sie seifte sich energisch ein. Und das Konto wieder so überzogen. Aber mit der Kreditkarte wird es erst einmal gehen. Da wird zum Glück immer am Fünfzehnten abgerechnet, und heute haben wir erst den Zwanzigsten.

Monica begutachte in ihrem Kleiderschrank verschiedene Hosen und Pullover, bevor sie sich für die Jeans entschied, die sie am Vortag schon angehabt hatte, und für ihren Lieblingspullover, den mit den rotweißblauen Streifen. Sie tupfte Hautcreme auf das Gesicht, tuschte die Wimpern, zwirbelte ihre aschblonden Haare an ihrem Hinterkopf zu einem Knoten zusammen, spülte mit vier Tassen starkem Kaffee die Nachwirkungen der Schlaftablette herunter. Sie holte die Zeitung aus dem Briefkasten, eilte zur Bushaltestelle an der Ecke, sah nur die Rücklichter des Busses.

Heute läuft aber auch alles schief. Am besten, man steht an solch einem Tag gar nicht erst auf.

Sie nahm den nächsten Bus fünfzehn Minuten später, sah von dem Bus, in den sie umsteigen musste, auch wieder nur die Rücklichter.

»Was machst du denn für ein Gesicht?«, fragte Ingeborg, ihre Kollegin, als Monica das Büro betrat.

»Ach, hab’ schlecht geschlafen, Alpträume und so«, brummelte sie, hängte ihren Parka ordentlich auf den Bügel im Garderobenschrank, setzte sich an ihren Computer, schaltete ihn ein. Pling machte der, das Begrüßungsbild erschien, schließlich die Ordnersymbole, sie öffnete den Ordner, an dem sie gerade arbeitete, klickte noch einmal, öffnete die Datei, und dann vergaß sie ihre Umgebung und Ingeborg und konzentrierte sich auf das Manuskript, das sie gerade lektorierte. Die Rückenmuskeln verspannten sich, die Kopfschmerzen, die die ganze Zeit im Hinterkopf gelauert hatten, zogen den Nacken hoch bis in ihre rechte Gesichtshälfte.

Pling, pling, machte der Computer. Zwölf Uhr.

»Hey, Monica, mach doch endlich mal ‘ne Pause«, Ingeborg stupste sie an die Schulter. »Kommst du mit in die Kantine? Heute gibt es Hackbraten mit grünen Bohnen und Quetschkartoffeln.«

»Nee, ich kann heute nicht, muss in die Stadt, einen Anrufbeantworter kaufen.«

»Nanu, wozu das denn? Du telefonierst doch sowieso nicht gern.«

»Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir einandermal«, rief Monica schon zwischen Tür und Angel.

»Vergiss es ja nicht!« und »Viel Spaß!«, aber das hörte Monica schon nicht mehr.

Sie eilte zum Bus, erwischte ihn tatsächlich auch einmal, war nach fünf Minuten in der Schloßstraße.

Mein Gott, diese Menschenmassen, ist ja fürchterlich. Wo kommen die alle nur her? Werde mich nie daran gewöhnen, dass es in Berlin inzwischen so viele Menschen gibt, und dann noch die aus dem Umland dazu.

Monica klemmte die Umhängetasche fest unter den linken Arm, versuchte den Körpern, die ihr entgegenkamen, auszuweichen, blickte niemandem in die Augen, warf dem Bettler, der wie jeden Tag am U-Bahn-Eingang mit seinem Schäferhund auf einer Decke saß, zwei Euro in die Mütze. Der schaute nicht hoch.

Könnte auch mal danke sagen. Der lebt doch schon fast von mir. Dabei lebe ich selbst  nur noch vom Überziehungskredit.

Sie eilte über den Damm und tauchte in den Glanz des Kaufhauses ein und in die Düfte, die von der Parfumabteilung herüberwehten. Sie wühlte kurz in dem Korb mit den Leggins, begutachtete die chinesischen Seidenteppiche, die das Schnäppchen der Woche waren, probierte schnell den wollweißen Parka mit dem Nerzinnenfutter an, auf den sie schon seit zwei Jahren scharf war, schaute auf den Preis, zog ihn seufzend aus und hängte ihn zurück auf den Bügel.

Wenn mich David in ihm sehen könnte ...

Schon wieder David.

Monica fuhr die Rolltreppen hoch zum vierten Stock, stand vor zwanzig verschiedenen Anrufbeantwortern – 23,14 Euro, 55,94 Euro, 165 Euro, 554,91 Euro – mit Mailboxfunktion, ohne Mailboxfunktion, in weiß, schwarz, rot, mit runden Kanten, mit eckigen Kanten. Oder mit Raumüberwachung.

»Sagen Sie«, sprach sie einen jungen Mann an, der in der Abteilung bediente, »was ist eigentlich der Unterschied zwischen den Apparaten?« Aber der Verkäufer entgegnete nur »Bin selbst Kunde« und verschwand in der Menge der Kauflustigen.

Monica setzte ihr Brille auf und studierte die Preisschildchen an den Apparaten, versuchte, aus den spärlichen Informationen das Wichtigste herauszulesen.

Schließlich entschied sie sich für den zweitbilligsten, den schwarzen mit den türkisfarbenen Tasten.

Passt zu meiner Einrichtung, freute sie sich, sie zückte ihre Kreditkarte, unterschrieb den Beleg und fühlte sich ab sofort als stolze Besitzerin einer der inzwischen nicht mehr so neuen Entwicklung der Telekom.

Monica konnte es gar nicht erwarten, bis sie den Anrufbeantworter anschließen konnte. Dauernd schaute sie auf die Uhr auf dem Bildschirm, die an diesem Tag besonders langsam ging. Aber endlich machte es wieder Pling. Fünf Uhr – Feierabend. Sie schaltete den Computer aus, warf sich den Parka über die Schultern, packte ihre Schultertasche, rief »Tschüssi, Ingeborg, bis morgen«, und war schon aus der Tür, bevor Ingeborg »Aber Monica, du wolltest doch ...« zu Ende sprechen konnte. Sie eilte die Treppen herunter, fuhr auf direktem Wege nach Hause. Fast hätte sie eine Taxe genommen, aber die konnte man leider nicht mit Kreditkarte bezahlen.

Zuhause setzte Monica sich im Schneidersitz auf den Boden vor die Telefonsteckdose, packte das gute Stück aus, studierte die Gebrauchsanweisung, versuchte, das Anschlussstück des Anrufbeantworters in den Stecker zu stecken.

Passt nicht. Ist ja typisch. Man kauft sich ein technisches Gerät, und dann fehlt garantiert irgendein Verbindungsstück, oder die Schnur ist zu kurz, oder was sonst noch alles passieren kann. Na ja. Murphy’s Gesetz. Nun muss ich wieder einmal jemanden finden, der mir hilft.

Sie klingelte beim Nachbarn, der versprach, gleich am nächsten Tag eine neue Telefonsteckdose zu besorgen, was zwei Wochen dauerte, in denen Monica nachts emporgeschreckt wurde vom Klingeln des Telefons und sie wütend den Anrufbeantworter anstarrte, der eindrucksvoll mit seinem schwarzen Gehäuse und den türkisfarbenen Tasten nutzlos neben dem Telefon stand.

Schließlich war der Apparat angeschlossen, der Nachbar mit zwei Gläschen Cognac belohnt und schnell wieder aus ihrer Wohnung hinauskomplimentiert, als er sich plötzlich eingehend für Monicas Telefonkartensammlung zu interessieren begann.

Wenn Monica nun von der Arbeit nach Hause kam, eilte sie noch im Parka in ihr Arbeitszimmer, hörte mit zitternden Herzen die Nachrichten ab. Die Bank meldete sich, die Vermieterin. Und ihre Mutter natürlich.

Nur nachts klingelte das Telefon nicht mehr.

Hätte ich mir das Geld auch sparen können. Anscheinend hat der Fremde ein anderes Opfer gefunden.

Dann geschah es wieder: Das Telefon klingelte um zwei Uhr nachts. Dreimal. Dann hörte sie das Klicken der Kassette, als der Anrufbeantworter ansprang.

Monica schlüpfte in ihren Morgenmantel, rannte barfuß ins Arbeitszimmer, stieß sich an der Bettkante, ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen, zündete sich eine Zigarette an. Lauschte der Stimme, die auf den Anrufbeantworter sprach.

»Hallo … äh Monica … äh … ich bin’s. David. Es … es geht mir so schlecht. Hörst du mich? Nimm den Hörer ab, bitte … Nein, du schläfst sicher still und friedlich. Bitte, ruf mich morgen Nachmittag unbedingt in der Praxis an. Ich muss dich sprechen!«

Monica saß auf ihrem Stuhl, zog an der Zigarette, lauschte regungslos der Stimme. Schlich zurück in ihr Bett. Starrte zur Decke.

Also doch David. Warum bloß hatte er gelogen, als ich ihn gefragt hatte, ob er es ist, der nachts immer anruft? Ich habe ihm doch immer zugehört, stundenlang. Ich würde ihm auch nachts zuhören. Das weiß er doch. Ist doch toll, wenn man jemanden hat, den man zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kann, wenn man ihn braucht.

Monicas blasses Gesicht und die Schatten unter den Augen ließen sich auch unter einer dicken Make-up-Schicht nicht verbergen.

»Was hast du denn!?«, fragte Ingeborg, als Monica müde das Büro betrat, und betrachtete sie interessiert. »Du siehst ja fürchterlich aus. Wie Braunbier und Spucke.«

»Ach, lass mich bitte in Ruhe. Ich erzähle es dir ein andermal. Kann jetzt nicht darüber sprechen.«

»Aha! Liebeskummer! Ach, du Arme …!«

Nach unzähligen Zigaretten, einigen Aspirin, einer großen Kanne Kaffee und einem Tag voller Schweigen klickte Monica zitternd auf das Ausmenü des Computers, nahm ein Taxi, griff mit zitternden Händen nach dem Telefonhörer. Verwählte sich dreimal.

»Du, David, ich bin’s. Was ist … wie geht es dir?«

»Mir? … Wieso – was ist? Ach so ja, viel besser. Nur weißt du, das mit Jessica – du ich kann jetzt nicht reden. Hab’ gerade einen Patienten hier sitzen. Nett, dass du angerufen hast. Du, ich melde mich morgen bei dir!«

»Ach so, ja, dann tschüss«, entgegnete Monica und legte auf.

Sie erhob sich schwerfällig, ging in die Küche, schmierte sich zwei Wurstbrote, schluckte mit einem Glas Milch eine Valium herunter, setzte sich vor den Fernseher, zappte durch die Kanäle, starrte blicklos auf eine Quizshow.

Am nächsten Tag sagte sie den Zahnarzttermin ab, setzte sich vor das Telefon, wartete. Die Zigarettenstummel füllten den Aschbecher. Nichts. Schließlich zog sie sich aus, stellte den Radiowecker auf sechs Uhr, schluckte eine Schlaftablette, schlief ein.

Eine Woche später wieder dasselbe Spiel: Nachts um zwei Uhr klingelte das Telefon, Monica setzte sich auf den Schreibtischstuhl, zündete sich eine Zigarette an, lauschte der Stimme Davids auf dem Anrufbeantworter.

»Monica – du – ich muss dich sprechen, nimm doch um Himmelswillen den Hörer ab! Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll!«

Monica saß auf ihrem Stuhl, zog an der Zigarette, nahm den Hörer nicht ab.

Rief David am nächsten Nachmittag an. Vernahm wieder sein »Hallo, ach nett, dass du anrufst. Du, ich habe keine Zeit, das Wartezimmer ist voll.«

Und Monica sagte wieder »Ach so, ja, dann tschüss«, und malte ein Kreuzchen auf den Wandkalender, dass er sie wieder nachts angerufen hatte.

Die Kreuzchen häuften sich.

»Mein Gott, Monica«, rief Ingeborg, als diese wieder einmal schleppenden Schrittes das Büro betrat. »Du siehst ja aus wie der Tod auf Latschen! Nun erzähle doch mal, was los ist. Was macht dein Anrufbeantworter?«

»Ach, ist schon okay. Hab’ Ärger mit meiner Mutter. Ich traue mich schon gar nicht mehr zu ihr. Ich kann ihr Lallen nicht mehr hören. Und überhaupt. Habe halt ein Tief. Vielleicht ist auch eine Grippe im Anmarsch.«

Ingeborg lief zu Monica herüber, umarmte sie. »Ach, du Arme, du hast es ja auch wirklich nicht einfach. Hättest du doch bloß einen netten Mann, mit dem du zusammenlebst. Ach herrje, nun weinst du. Das wollte ich nicht. Bloß weißt du, ich bin so glücklich mit meinem David, immer noch, stell’ dir vor, auch noch nach zwanzig Ehejahren! Nur die Kinder stressen manchmal«, Ingeborg kicherte, »na ja, so viele sollten es ja gar nicht sein, aber manchmal kommen halt Kinder, ohne dass man sie plant.«

An diesem Abend stellte Monica die Lautstärke des Telefons auf eins und drehte die des Anrufbeantworters auf Null.

Nun hörte sie nachts nicht mehr die tausend Teufel mit den tausend Fahrradklingeln und hörte auch nicht mehr die Stimme, die auf den Anrufbeantworter sprach.

Doch nun wachte Monica oft schon um fünf Uhr auf, lief ins Arbeitszimmer, warf einen Blick auf das rote Lämpchen an dem schwarzen Apparat mit den türkisfarbenen Tasten. Und wenn es blinkte, drehte sie das Rädchen auf volle Lautstärke, setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl, zündete eine Zigarette an, lauschte regungslos seiner Stimme.

Nachmittags rief sie David wie immer an: »Hallo, Monica, nett, dass du anrufst«, und manchmal erzählte er ihr, falls er mal Zeit hatte, von seiner Arbeit, von den Kindern, von Ingeborg. Und von Jessica. Aber nie erwähnte er die Anrufe in der Nacht.

Und Monica sagte wie immer »Ach ja« und »Ach so« und zum Schluss »Tschüss« und legte auf.

Eines Morgens war die Kassette voll gesprochen. Monica drehte mit zitternden Händen das Rädchen an dem schwarzen Kasten laut, setzte sich an den Schreibtisch, stützte den Kopf auf die Hände. Wartete auf Davids Stimme. Fühlte, wie Rücken, Nacken, der Hinterkopf sich verspannten.

»Ja, du, Monica, hier David … ja … ich … ich bin ja so allein. So verdammt allein. Ich kann mit niemandem sprechen. Nur mit dem Anrufbeantworter … ich rede schon mit einem Anrufbeantworter! Du … Monica … ich bin von zu Hause ausgezogen. Sitze hier in einem Hotelzimmer, weiß nicht einmal wo. Du musst mir helfen. Bitte. Kann ich dich morgen sehen? Ach, ist ja alles Quatsch, was ich so rede. Aber bitte, komm morgen um neunzehn Uhr in das Bistro, du weißt schon, welches. Es geht mir ja so schlecht.«

Mit weichen Knien stand Monica auf, legte sich wieder ins Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Starrte zur Decke. Fühlte sich plötzlich so wunderbar leicht.

Gleich morgens um acht Uhr rief sie im Büro an. »Hallo, Ingeborg, hier ist Monica, du, ich kann heute nicht kommen, habe wohl eine Grippe, es ging mir ja seit Tagen schon schlecht, sag’ bitte im Personalbüro Bescheid, dass ich krank bin.«

»Aber Monica, das geht nicht, du kannst mich doch heute nicht in Stich lassen! Du, es ist etwas Schreckliches passiert …«

»Nein, ich … kann … nicht«, stammelte Monica und legte den Hörer auf. Sie starrte auf das Telefon. Nein, Ingeborg ertrage ich heute nicht, nein, nicht Ingeborg.

Monica fuhr in die Stadt, löste das Sparbuch auf, kaufte sich den wollweißen Parka mit dem Nerzinnenfutter, ging zum Friseur, zur Kosmetikerin. Traf David in ihrem Bistro, in dem sie früher so oft gemeinsam gefrühstückt hatten.

David saß an dem Tisch in der Ecke, an dem sie beide immer gesessen hatten, stundenlang manchmal, strahlte.

»Du, stell dir vor, Monica, was mir passiert ist. Ich ziehe zu Jessica! Ja, das hat sich vor zwei Stunden ergeben. Ich bin ja so glücklich! Wir wollen uns sogar eine Wohnung zusammen nehmen. Ich habe in einer halben Stunde einen Termin beim Makler.« Er winkte nach der Bedienung. »Eine Flasche Champagner bitte, den teuersten, den Sie haben. Wissen Sie, wir müssen etwas feiern!«

David schaute Monica von der Seite an, nahm ihre Hand, wurde ganz ernst. »Du sagst ja gar nichts. Du, das ist auch eine verworrene Situation für mich. Glaube mir, auch wenn ich so glücklich wirke, ach, so ist es ja gar nicht. Schließlich sind da noch die Kinder, Ingeborg, na ja, und du bist ja auch noch irgendwo!"

»Ach ja?«, sagte Monica, griff nach ihrer Umhängetasche, stand auf, riss den teuren Parka vom Haken, rempelte dabei den Kellner an, so dass die Champagnerflasche fast heruntergefallen wäre und ein Sektglas auf dem Fußboden in tausend Stücke zerbrach.

Der Kellner schaute David an, der fassungslos dasaß, zuckte mit den Schultern, ließ ein »Na ja, Frauen eben« vernehmen und goss ihm ein Glas Champagner ein. David stürzte es in einem Zug herunter.

Zuhause stellte sich Monica unter die Dusche, ließ heißes Wasser über die teure Frisur laufen, und Lidschatten, Mascara, Make-up und Lippenstift zerrannen zu einer braun-grün-roten Soße und tropften über ihren Körper hinab in den Abfluss.

Sie warf den wollweißen Parka mit dem Nerzinnenfutter in den Müllschlucker, schaute morgens nicht mehr auf das rote Lämpchen an ihrem schwarzen Anrufbeantworter mit den türkisfarbenen Tasten.

Und doch leuchtet es von Zeit zu Zeit auf. Dann ertönt wieder die geliebte Stimme, und Monica geht wieder zum Friseur, zur Kosmetikerin und trifft sich in dem Bistro an der Ecke mit David. Sie lauscht seinen Klagen über Jessica, die doch so klein, so zerbrechlich, so hilfsbedürftig ist und so krankhaft eifersüchtig ist, sagt »Ach ja« und »Ach so« und „Tschüss«, geht bei Rot über den Damm, steigt in den falschen Bus und fährt nach Hause.

Manchmal denkt sie daran, das Telefon abzumelden.

Aber sie hört doch so gern seine geliebte Stimme.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.04.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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