Helmut Wurm

Sokrates und sein Gespräch mit 2 bayerischen Politikern


Sokrates sitzt auf dem Oktoberfest in einem Bierzelt in der Ecke und betrachtet voller Interesse die "merk-würdigen" Bayern. Er versteht sie als wirklich "merk-würdig" im Sinne "des Merkens wert". Sokrates ist hier insofern aufgefallen, als er kein Maß Bier, sondern ein Glas süßen Samos-Wein vor sich stehen hat. Das hat ihm natürlich so manchen dummen bayerischen Spruch eingebracht, aber Sokrates ist es gewöhnt, aus der Reihe zu fallen.Ihm fällt auch auf, dass zu dem Oktoberfest viele Fremde, also Touristen, gekommen sind.

Sokrates sitzt nicht alleine in der hinteren Ecke dieses Zeltes, vor ihm sitzen 2 hochrangige bekannte bayerische Politiker unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Parteien. Wie er in das Gespräch mit den beiden kam, ist hier nicht weiter wichtig. Sokrates fällt in seinem weiten Umhang und seinen Sandalen leicht auf - besonders in Bayern natürlich.

Der eine dieser bekannten Politiker trägt die  traditionell-bayerische Trachtenkleidung, also Lederhosen, bestickte Lodenjoppe, dicke Wollstrümpfe, schwarze Trachtenschuhe und auf dem Kopf ein grünes Filzhütchen. Er hat vor sich ein Maß Oktoberfest-Biere stehen. Er spricht bewusst bayerischen Dialekt (mit welcher Klangfärbung ist hier auch nicht wichtig und wird auch hier nicht in der Schriftform wiedergegeben).

Der andere ist modern-europäisch-salopp gekleidet, nämlich graue Leinenhose, ein buntes T-Shirt, ein luftiges Jackett, leichte Lederschuhe. Er bemüht sich Hochdeutsch zu sprechen mit einigen Anglizismen und südeuropäischen Sprachfloskeln. Auch das wird hier nicht in der Schriftform wiedergegeben).

Sokrates hat den beiden erzählt, dass er eine Rundreise durch Bayern hinter sich hat und der Politiker in der Trachtenkleidung fragt Sokrates:

Der Trachtenkleidungs-Politiker: Wie hat Dir unser schönes Bayern gefallen? Das ist doch ein einmalig schönes Land… Und voller einmaliger Menschen… Und mit einer wirklich einmaligen Volkskultur…

Sokrates: Ja, Bayern ist wirklich ein schönes Land mit seinen Bergen, Seen, Wäldern, schönen Städten… Und seine Bewohner sind wirklich originell. So eine originelle Volkskultur findet man noch selten in Europa. Dass sich diese bayerische Lebensart und der bayerische Dialekt als Volkssprache so im zusammenwachsenden Europa erhalten haben, ist wirklich erstaunlich und gut.   

Der Trachtenkleidungs-Politiker (etwas stolz): Wir von unserer Partei tun auch alles dafür, dass sich die bayerische Volkskultur und Umgangssprache so erhalten hat und auch weiter erhalten bleibt. Volkskundliche regionale Individualitäten machen Europa bunt und müssen erhalten bleiben. Jetzt ist Deutschland ja auch endlich dem Abkommen über den Erhalt von Volkskultur und Volkssprache beigetreten… Das hätte schon viel früher passieren müssen… Meine Parteifreunde tragen wie ich bewusst die alte bayerische Trachtenkleidung, wir wollen kulturelle Vorbilder sein, damit möglichst viele Bayern diese alte Tracht noch tragen…

(Damit hebt er sein Maß und prostet Sokrates kräftig zu, der als Antwort vorsichtiger an seinem Weinglas nippt)

Der salopp gekleidete Politiker (abwertend): Diese bewusst gepflegten "Bajuwarismen" in Kleidung, Sprache und Verhalten finde ich komisch, ja sogar lächerlich. Wie kann  ein moderner Mensch und besonders ein engagierter Politiker so etwas noch pflegen und als politisches Programm sichtbar auf die Parteifahne schreiben… Wir leben doch in einem zusammenwachsenden Europa… Diesen Prozess muss man fördern, sogar beschleunigen, auch in Kleidung, Sprache und Verhalten… Meine Parteifreunde und ich lehnen jede Verzögerung dieses Zusammenwachsens auf allen Lebensgebieten ab. In nicht allzu ferner Zukunft wird es  nur noch eine europäische Mischsprache geben, die Menschen werden sich nur noch salopp-modern kleiden und der Lebensstil der Europäer wird sich dem Urlauberstil am Mittelmeer immer mehr annähern. Und das ist gut so.

Sokrates (entfährt es ungewollt): Wie langweilig, wie einfarbig… Das derzeitige Europa der Vielfalt ist doch viel schöner als dieses uniforme Europa, so wie in den USA bis auf Klima und Landschaftalles überall gleich ist.

Der salopp gekleidete Politiker (der sich ärgert, weil er bisher nur ein Mal zu Wort kam): Bist Du etwa kein Multi-Kulti, Sokrates? Ich dachte die Philosophen wollten, dass alle Ungleichheiten unter den Menschen aufgehoben würden?

Sokrates: Ich bin für Multi-Kulti, sehr überzeugt sogar für Mult-Kulti - aber in anderer Form, als Du denkst. Du bist nämlich bloß ein langweiliger Uni-Kulti. Ich möchte ein Multi-Kulti auf gesamteuropäischer Ebene erhalten wissen. Denn es macht ja gerade den Reiz Europas aus, dass jedes Land bisher seine eigenständige traditionelle Kultur hat. Europa ist bezüglich seiner kulturellen Vielfalt ein einmaliger, bunter, reichhaltiger Multi-Kulti-Teppich. Solch einen bunten Kultur-Teppich gibt es in dieser Form und Dichte sonst nirgends mehr auf der Erde.

Wenn nun alle diese vielfältigen traditionellen europäischen Kulturen eingeebnet würden, dann entstünde nur eine profillose Mischkultur, so wie die uniforme US-Kultur. Ich möchte diese Vielfalt der Kulturen in Europa erhalten wissen und keine profillose, fade Mischkultur in ganz Europa.

Der Trachtenkleidungs-Politiker: Meine Parteifreunde und ich denken noch weiter. Wir möchten, dass nicht nur die traditionellen Kulturen der einzelnen Länder, sondern innerhalb der Länder auch der verschiedenen Landschaften erhalten bleiben, z.B. unsere traditionelle Kultur in Bayern. Denn die kulturelle Landkarte wird noch bunter, wenn man innerhalb der Länder die Kultur-Differenzierungen pflegt. Auf Deutschland bezogen heißt das, dass die regionalen Kulturen von Hessen, Sachsen, dem Rheinland, der Nord- und Ostseeküste… weiter gepflegt werden sollten.

Und weil meine Parteifreunde und ich innerhalb Deutschlands die regionale Kultur-Vielfalt erhalten möchten, unterstützen wir es, dass in ganz Europa Landschaften und Regionen wieder mehr auf ihre individuelle traditionelle Kultur achten. Die traditionellen schönen Kulturen der Bretagne, Schottlands, Graubündens, Südtirols, der Basken, der Bosnier usw. sollten weiter gepflegt und an die Kinder weitergegeben werden. Diese Vielfalt ist für mich europäisches Multi-Kulti.

Sokrates (erinnert sich verträumt an die alte antike Zeit): Was war doch unser antikes Hellas für ein buntes Kultur-Mosaik… Es gab die dorische, spartanische, ionische, attische, korinthische Kultur, die von Syrakus und Milet… Jede hatte ihre eigenen Schwerpunkte und Erkennungs-Merkmale… Man konnte an einem Reisenden bald erkennen, woher er kam… Aber schon Alexander d. Gr. hat diese Vielfalt abgeflacht und später die Römer haben die Unterschiede noch mehr eingeebnet… Unter den Römern wurde der vielfältige hellenische Kulturen-Verbund zum Einheitsland Griechenland. Schon damals fiel mir die damit verbundene Verarmung an kultureller Differenzierung auf… Es wäre schade, wenn das in Deutschland auch so verliefe: erst der Wegfall der einzelnen regionalen Kulturen und dann der Schwund der gesamten deutschen Kultur…. 

Der salopp gekleidete Politiker (steht verärgert auf): Mit euch Nostalgikern kann man ja nicht über Zukunft reden, z.B. über die Vorteile eines uni-kulturellen Europas - von mir aus könnt ihr es so nennen. 

Sokrates (sagt zu dem Gehenden): Hoffentlich wisst ihr in eurer Partei auch, dass euere europäische Uni-kulti-Vision eine Einbahnstraße ist, dass nichts mehr wieder zurückgeholt werden kann, was ihr an Kultur einreißt oder zugrunde gehen lasst. Das hat die Geschichte vielfach gezeigt.

Der Trachtenkleidungs-Politiker: Meine Parteifreunde und ich werden unsere bayerischeRegionalkultur achten und pflegen… Das steht in unserem Parteiprogramm… Das ist unsere Kultur wert…  Wir werden unsere bayerische Tradition bewahren… Das wird sich langfristig auszahlen. Denn nicht nur wegen unserer Berge, auch wegen unserer Originalität kommen doch so viele Touristen nach Bayern. 

Sokrates (denkt für sich): Wenn doch von den Originalitäten der hellenischen Stadtstaaten meiner Zeit einiges über die beiden Jahrtausende hinüber gerettet worden wäre… Was wäre Griechenland dann für die Weltkultur und auch für den Tourismus ein interessantes Land…

(Der Trachten-Politiker prostet Sokrates zu und Sokrates trinkt den Rest seines Glases mit Samoswein aus. Der Trachten-Politiker denkt dabei an seine schönen grün-weißen Berge und Sokrates voller Wehmut an sein sonnendurchflutetes Attika)

 

(Verfasst von discipulus Socratis, der am Nachbartisch mit einem Glas badischen Rotweines saß, was er den Trachten-Politiker nicht wissen lassen wollte, denn Bayern und Badener sind nicht immer einer Meinung… Der discipulus weiß auch, dass man über dieses Thema „Erhalt regionaler Eigenkulturen“ sehr viel Verschiedenes sagen und meinen kann und dass  es diesbezüglich auch schnell zu handfesten Streitigkeiten kommen kann)

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.04.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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