Kyrhia Schindler

Madonna Maria



Sie wirkt auf mich, wie eine heilige Erscheinung.
Madonna, in die Jahre gekommen, aber nicht minder schön und von göttlichem Zauber umhüllt. Maria, die Mutter Gottes, umgeben von Hecken und Büschen, die lange keine Menschenhand beschnitten. Umgeben von Bäumen, groß und klein, verkrüppelt und stattlich. Hohe Gräser und blühendes Unkraut säumen den schmalen, sich wie ein natürliches Flussbett schlängelnden Erdpfad, der aus dem Nichts zu kommen scheint und auf diesem sie auf mich zugeht. Ich bin überzeugt, auch Maria kam aus diesem Nichts. Aus dem Nichts meines Blickfeldes. Dichter Wildwuchs, den weiter hinten, meine Augen nicht durchdringen. Ich suche nach einem Haus dahinter, nach einer Scheune, einem Durchgang, doch was bleibt ist dieses geheimnisvolle Nichts, also richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Maria, die mir näher kommt, aber mich noch nicht erreicht hat.
Sie setzt graziös einen Fuß vor den anderen und da sie weder Schuhe, noch Strümpfe trägt und somit kein Geräusch beim Gehen erzeugt, wirkt es auf mich, als würde sie schweben. Sie trägt ein altes, zerschlissenes Kleid, welchem ich aber ansehe, dass es einmal sehr schön war. Das verblichene Rosenmuster des leichten Stoffes, der ihren mageren Körper sanft umspielt, erzeugt in mir ein Gefühl von Traurigkeit und Zärtlichkeit zugleich. Ohne es zu bemerken lächle ich und Maria lächelt zurück. Fast wäre ich vor dieser Geste erschrocken, so unerwartet passiert sie und lenkt meinen Blick auf ihr langes, silbergraues Haar, welches ihr fast bis zu den Unterarmen reicht und schreitet Maria aus dem Schatten ins Sonnenlicht, schimmert es augenblicklich so sehr, dass ich den Atem anhalte. Fast ist sie bei mir angelangt.
Über dem Rosenkleid trägt sie eine dünne, zartgelbe Strickweste, die hier und da kleine Löcher aufweist, die ich nun erkennen kann. Die ihr außerdem zu groß und deshalb, auf einer Seite, über ihre zerbrechlich wirkende Schulter gerutscht ist und sie verletzlich aussehen lässt, schutzbedürftig. Ich hebe, diesem Anblick nachgebend, die Arme, als Maria in den alten, rostigen, mannshohen Drahtzaun greift, der uns voneinander trennt und sich daran festhält.
„Würden sie mir helfen hier heraus zu kommen? Das Tor dort! Ich kann es nicht öffnen.“
Sie blickt nach links, ich blicke auf Maria, deren Stimme wundervoll in mir nachhallt. Ein Klang, wie er nicht anders hätte sein können. So sanft, traurig und verletzlich, wie sie selbst scheint. Ihre graublauen Augen strahlen mich an und ich versinke in ihnen, anstatt zu antworten.
„Wären sie so nett.“, erinnert mich Maria liebevoll und zeigt mit dem Finger ihrer rechten Hand zu diesem schmalen, aber zaunhohen Tor, welches auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Es hängt leicht schief in den Angeln und man könnte nicht meinen, dass es jemanden davon abhalten kann hindurchzugehen.
„Entschuldigung!“, murmle ich und gemeinsam machen wir die wenigen Schritte zum Tor. Maria auf ihrer Seite, ich auf meiner.
Sie macht sich zaghaft und völlig aussichtslos an einem wuchtigen, im Gegensatz zum Rest, nagelneuem Schloss zu schaffen, welches tatsächlich verhindert, diesen erbärmlichen Durchgang zu öffnen und dieses verwilderte Paradies zu verlassen, oder zu betreten. Ich greife durch die Maschen um Maria zu helfen und berühre dabei ihre Hände. Sie scheint es nicht zu bemerken. Wie weich sich ihre Haut anfühlt.
Auch ich kann dieses Schloss nicht öffnen, wie auch, ohne Schlüssel.
„Haben sie keinen Schlüssel?“, frage ich Maria.
Sie blickt zu mir auf, da sie etwas kleiner als ich, schüttelt den Kopf, lächelt auf eine geheimnisvolle und gewinnende Weise und widmet ihre ganze Aufmerksamkeit wieder diesem, ihr lästigen, Schloss.
Ich beginne augenblicklich dieses Lächeln zu lieben. Darauf zu warten. Schön anzusehen, wie sich dabei um Marias Augen unzählige, kleine Falten bilden und jede einzelne davon mir ihre Lebensgeschichte erzählt. Auch wie sich ihre Mundwinkel leicht nach oben ziehen und ihr Gesicht noch heiliger erscheinen lassen, als es für mich sowieso schon ist.
„Ich möchte gerne nach draußen gehen.“, sagt sie, ohne flehend zu klingen und ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen.
Marias Wunsch nicht geradewegs erfüllen zu können macht mich unendlich traurig.  
„Es tut mir so leid, dass ich ihnen nicht helfen kann.“
Aus mir spricht mein Herz, ich kann es hören und ich wundere mich, wie nahe mir diese fremde Frau schon ist.
Sie lässt sofort das Schloss los und ihre graublauen Augen scheinen mich zum ersten Mal tatsächlich wahr zu nehmen. Ihr Blick dringt so tief in mich ein das dieses Herz, das gerade sprach, nun völlig schutzlos vor ihr liegt und ich eine Gänsehaut bekomme. Nicht, weil es mich fröstelt, sondern …
„Kommen sie wieder?“, unterbricht Maria zaghaft meine Gedanken und wendet ihren Blick nicht eine Sekunde von mir ab.
Ich nicke, habe einen Kloß im Hals. Sie nickt zurück, dreht sich um, zieht ihre Weste über die Schulter, winkt und schwebt davon. Ich mache einen unbewussten Schritt nach vorne und stoße gegen den Zaun.
 
„Na, hat Frau Seiberlich sie gebeten das Gartentor zu öffnen?“.
Ein etwas dicklicher Mann mit Hund steht hinter mir. Neugierig schaut er an mir vorbei, in den Garten hinein.
Und ohne eine Antwort abzuwarten, wendet er seinen Blick wieder mir zu: „ Wissen sie, die Alte ist etwas verwirrt. Ich bin der Nachbar…“, er zeigt auf ein gegenüberliegendes Haus. „…und hab sie schon mehr als einmal von der Straße geholt. Man kann ja nicht wegsehen. Meiner Meinung nach gehört die in ein Heim. Sehen sie sich doch mal diesen Garten an, eine Schande. Einmal die Woche kommt ihre Tochter und schaut nach dem Rechten und es war ja meine Pflicht sie über die Alleingänge der Alten zu informieren. Jetzt weiß sie, dass ihre Mutter nicht mehr ganz richtig im Kopf ist und über den Garten abhaut. Deswegen gibt es dieses Schloss.“ 
Ich schüttle Verständnis heuchelnd den Kopf, seufze, wünsche dem geschwätzigen Nachbar mit Hund, geistesabwesend, noch einen schönen Tag und gehe. Verdutzt schaut er mir nach und schüttelt seinerseits mit dem Kopf.
 
Auf diesem Grundstück wohnt keine wirre Alte namens Seiberlich, die in ein Heim gehört, nicht für mich. Hier wohnt eine bezaubernde, ältere Madonna, die nur Maria heißt, ohne einen Nachnamen und diese Welt, auf ihre Art und Weise, vielleicht längst verlassen hat. Ich verstehe sie und halte mein Versprechen.  
Maria erzählt mir auf unseren vielen Spaziergängen aus ihrer wunderbaren Welt und aus ihrem vergangenen Leben und was sie mir erzählt entbehrt jeder Bitterkeit. Ihre Geschichten sind voller Glück und Liebe und diesem herrlichen Zauber, den sie selbst ausstrahlt.
Sie irrt schon lange nicht mehr alleine durch die Straßen. Maria wartet auf mich und wir gehen zusammen durch das alte Tor, an dem kein Schloss mehr hängt. Das Haus nach vorne hinaus hält die Tochter, obwohl sie mir nun vertraut, nach wie vor verschlossen, doch das stört Maria nicht. Das hat sie noch nie gestört. Vorne hinaus gefällt ihr nämlich nicht.
 
Wer kann schon von sich behaupten, mit Maria, der Mutter Gottes spazieren zu gehen? Ich kann es und mein Herz hört nicht mehr auf zu sprechen, wenn wir zusammen sind.
Da ich nur wenig jünger als Maria, hoffe und bete ich täglich, sie auch auf ihrem letzten Weg begleiten zu dürfen. Da sie aber die heilige Maria, wird sie das schon deichseln.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.05.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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