Daniela Heinrich

Wo die Liebe fällt

Es gibt eine Liebe im Leben, die wird einem versprochen, ja zugestanden – in die Wiege gelegt. Eine Liebe, die erst beiderseitig geschenkt, und selbst wenn von der einen Partei entzogen, von der anderen dennoch beständig am Leben erhalten wird. Eine naive Liebe, aus Unschuld und Zutrauen geboren, zu Beständigkeit und Selbstverständlichkeit erzogen und später als Recht angesehen. Wenn diese Liebe mit dem Aufwachsen wächst, über die angenomme Notwenigkeit hinaus zu einem Anker im Leben wird und später zur schützenden Instanz und einem Hort der Geborgenheit reift, so ist sie richtig und rechtens.
Der Bruch dieser Liebe von der Liebe gebenden Partei ist wie das Ende einer Welt. Wenn eine Welt ihrer schon bei der Geburt geschenkten, selbstverständlichen, charakterbildenden Liebe beraubt wird – seien die Gründe so oder so – dann muss sie untergehen. Die Liebe nehmende Partei versteht nicht, will nicht verstehen, kann gar nicht verstehen. Wieso kann die Gebende die Liebe einfach so beenden, wenn es der Nehmenden nicht möglich ist? Sie liebt doch noch, hasst nicht; distanziert sich höchstens. Sie sucht die Schuld bei sich selbst, sucht Auswege, Hintertüren – und irgendwann dann den Fehler in der Vergangenheit.
Hätte ich selbst, die ewig Nehmende, etwas anders machen können? Mich mehr zur Gebenden hinneigen? Sie mehr spüren lassen, dass es nicht richtig sein kann, diese Bande zu trennen? Dabei habe ich mir doch gar nichts zuschulden kommen lassen. Zu jung, zu passiv, habe ich gar nicht begriffen, dass mit allem anderen auch diese natürliche Liebe welken musste.
Ich spreche nicht von der leidenschaftlichen Liebe zweier Menschen, auch nicht von Freundschaft. Es geht tatsächlich um diese eine Liebe, die man bei der Geburt anfängt; es geht um die Familie. Es ist jene Liebe, die mich Selbstvertrauen und Stärke lehren sollte, die mir den Weg ins Leben zeigen sollte, die trösten und beschützen sollte. Die Liebe, die mir in der schwersten Zeit den nötigen Halt zusichern sollte.
 
Aber wie es so steht um die Liebe, sie ist vollkommen abhängig von den Liebenden. Und die Liebenden können über sie mehr verfügen, als es gerecht ist. Es heißt immer „wo die Liebe hinfällt“. Aber sie „fällt“ zu leicht und ebenso leicht, wie sie kommt, kann man sie verlieren. Selbst eine so unerschütterliche Liebe wie die, die man von der Familie in die Krippe gelegt bekommen soll, kann verschwinden – doch sie „fällt“ nicht einfach weg. Sie nicht.
Sie geht schleichend fort, zuerst unmerklich und in kleinen Schritten, die ich kaum wahrnahm. Dann fallen immer kleine Brocken von ihr ab, wie wenn ein Eisberg schmilzt. Als mir dann bewusst wurde, dass die Liebe der gebenden Partei einging, sickerte die Erkenntnis sacht auf den Grund des Begreifens und schnitt dabei ins Fleisch des Unglaubens. Damit begann der Untergang der Welt. Denn alles, was nun hinter verschlossene Türen verbannt wurde – glückliche Erinnerungen, Lachen, Versprechen, Spaß, Vertrauen – das war doch zumindest mir noch gewahr wie in der Stunde des Erlebens!
 
Es dauerte Jahre, bis die Gebende das Ende der Liebe mit Schweigen besiegelt hatte. Ich mache sie in dieser Hinsicht nicht verantwortlich. Natürlich gäbe es Wege, sich zu erklären, wenn das Bedürfnis oder das Gefühl für eine diesbezügliche Schuldigkeit vorhanden wäre. Aber Jahre sind eine Zeitspanne, die Sichtweisen ändert. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich meine eigene Schuldigkeit und umso mehr drängt die Frage nach, ob ich selbst mehr für den Erhalt der Liebe hätte tun können, müssen, dürfen.
Ich nenne es nicht Bereuen oder Reue. Ich nenne es nicht Verlust oder Verraten-worden-sein. Vielleicht nenne ich es Sehnsucht, Heimweh und Was-hätte-sein-können. Denn während ich älter werde, erkenne ich auch die Möglichkeiten, die diese Liebe mit der Zeit hätte haben können. Aber Zurückzublicken und die Fäden in die Gegenwart zu ziehen, birgt bloß Bedauern in sich. Denn wie schön hätten Dinge werden können, die wir in der Vergangenheit haben vergehen lassen?
Ich will nicht bedauern und bereuen. Schuld will ich vom Kinderherzen weisen. Denn wie merkt ein Kind, wie ich damals war, rechtzeitig, dass seine sicherste Bande langsam schwindet? Wie soll es das feststellen, wenn es ein schleichender Verfall über mehrere Jahre ist? Wenn es doch die einzige tiefgreifende und bestimmende Liebe ist, die es bis dahin gekannt hatte?
Aber ist es heute, als jemand, der begreifen und reflektieren kann, tatsächlich berechtigt, Schuld von sich zu weisen? Kann sich Schuld rückwirkend aufbauen? Denn wenn sie es nicht kann, woher kommen dann meine Schuldgefühle ob der verlorenen Liebe? Sind sie nur aus dem Wunsch heraus geboren, das Verlorene zurückzubekommen, so als ob es nie verloren gegangen wäre? Diese Möglichkeit räume ich ein. Die Frage bleibt mir trotzdem.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.05.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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