In der nächsten Nacht, pünktlich mit dem zwölften Glockenschlag, erwachte Wendel, das kleine Gespenst, in dem Pappkarton. Er brauchte eine Weile, um sich zu erinnern, dass er durch eine zerbrochene Scheibe hier in den Karton hinein geplumpst war.
Langsam erhob er sich und lugte über den Rand. Es roch angenehm nach Pappe und Staub. Im dämmerigen Mondlicht erkannte er, dass er auf einem Dachboden war. Über ihm war die Dachluke. Der Raum war ziemlich leer. In einer Ecke sah er einen großer Koffer, der verschlossen war. Daneben lag ein Stapel Bücher, von Spinnenweben überzogen.
Gegenüber stand ein großer Kleiderschrank. Seine Türen waren halb geöffnet. Das kleine Gespenst huschte in den Schrank und sah sich um. Er war fast leer. Auf einem Bügel hing ein altes rotes Kleid aus Samt. Auf dem Bord darüber sah das kleine Gespenst die Reste eines Strohhutes, den Mäuse zerfressen hatten. Als es sich noch genauer umschaute, entdeckte es ganz unten in der hintersten Ecke ein kleines Stoffsäckchen. Es war zugenäht und mit einer Blume bestickt.
Plötzlich raschelte es hinter dem Schrank. Neugierig stieg Wendel aus dem Schrank und schaute sich um. Da huschte doch wahrhaftig eine Maus ohne Vorsicht über den Fußboden.
„He, du kleiner Racker! Wohin so schnell?“
Die Maus hielt inne und schaute das Gespenst vergnügt an. „Nun habe ich Gesellschaft“, freute sie sich.
„Na, nicht allzu viel, denn ich schlafe ja fast immer, und in der Geisterstunde gehe ich aus, die Leute zu erschrecken und Unfug zu treiben.“
„Macht nichts“, antwortete die Maus. „Ich sah dich schon den ganzen Tag im Pappkarton und habe deinen Schlaf bewacht.“
„Das ist lieb von dir – aber Gespenster brauchen keinen Schutz.“
„Auch nicht vor Katzen und Menschen?“, wunderte sich die Maus.
„Nein, die haben eher Angst vor mir. Aber hier oben scheint sehr lange weder eine Katze noch ein Mensch gewesen zu sein.“
„Das ist zum Glück wahr“, erzählte die Maus, „ich kann hier ungestört leben, wenn es hier auch nichts zu essen gibt. Um zu fressen muss ich durch Gänge in der Wand bis in die Küche laufen und dort etwas holen.“
„Merkt das denn niemand?“, fragte Wendel verwundert.
„Nein, hier wohnt nur eine alte Frau mit ihrem grässlichen Hund. Aber der Hund darf nicht ins Haus. Die alte Frau ist gebrechlich und kann nicht mehr so gut sehen. Wenn etwas am Käse oder am Brot fehlt, merkt sie das nicht.“
„Da haben wir ja Glück“, freute sich Wendel, „dann wird die alte Frau wohl nicht hierher auf den Dachboden kommen und uns entdecken. Auf gute Nachbarschaft, liebes Mäuslein! Jetzt will ich die Gegend erkunden.“
„Halt“, rief die Maus, „ich möchte….“, aber Wendel war schon verschwunden.
Und so wissen wir nicht, was die Maus noch wollte.
© I. Beddies
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.06.2013.
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