Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 39

Sorry, dass es diesmal so lange gedauert hat und danke für die Geduld!
Dafür gibt es heute einen längeren Teil
Über Kommentare freue ich mich wie immer...



Eintausend Meter höher erklommen die Wagen des fahrenden Volks mühsam den Paß über die Nordlandgrenze, einen tiefen Einschnitt zwischen den links und rechts hoch aufragenden Gipfeln. Mächtige Säulen aus eisbedecktem Fels ragten an senkrechten Wänden empor und warfen tiefe Schatten, in denen hart gefrorener Schnee lag.
Und es war kalt.
Bitterkalt.
Michael fror inzwischen bis ins Mark und war überzeugt, nie mehr mit dem Zittern aufhören zu können. Besorgt registrierte er, daß seine unbedeckten Hände und nur mit Turnschuhen bekleideten Füße allmählich taub zu werden begannen und er sich bald ernste Sorgen um  Erfrierungen machen mußte. In regelmäßigen Abständen stampfte er daher energisch mit den Füßen auf und klemmte sich die Hände unter die Achselhöhlen, um die Blutzirkulation in Gang zu halten, wobei er im Stillen unentwegt vor sich hin fluchte. Michael war noch nie ein Freund der Berge gewesen, und hatte die Begeisterung, mit der einige seiner Freunde in den Winterurlaub fuhren, nie nachvollziehen können. Strand und Sonnenschein waren da schon eher nach seinem Geschmack, so daß diese Erfahrung seine Abneigung nur bestätigte.
Schneebedeckte Berge und er passten einfach nicht zueinander. Dafür haßte er die Kälte zu sehr, und mit jedem weiteren Schritt schien es zu seinem Verdruß noch ungemütlicher zu werden. Die kristallklare, eiskalte Luft kondensierte inzwischen bei jedem Atemzug vor seinem Gesicht, und das grelle Licht der hochstehenden Sonne, das den Schnee in ein Meer aus blitzenden Diamanten verwandelte, zwang ihn, die Augen zusammenkneifen. Jeder Schritt wurde dadurch zu einer Herausforderung und nötigte Michael höchste Konzentration auf dem rutschigem Untergrund aus Geröll und Schiefer ab. Vorsichtig darauf bedacht war, ja keine Lawine auszulösen, führte er die Karawane durch das unebene Gelände und verfluchte das Lederseil, das ihn noch immer an den Wagen kettete. Sollte dieser in einer Gletscherspalte verschwinden, würde er unweigerlich folgen. Eine verflucht unangenehme Situation. Sein Blick glitt zur Passhöhe, wo der Schnee auf den Hängen höher lag und auch der bisher noch schneefreie Weg über den Paß endgültig in der weißen Pracht versank. Ein kalter Wind, der seine Augen vor Kälte tränen ließ, pfiff ihm von der Passhöhe entgegen, als wolle er ihn mit aller Macht zurückdrängen.
Der Gedanke, daß sich der rutschige Untergrund jederzeit in eine tödliche Gerölllawine verwandeln könnte, ließ ihn trotz der Eiseskälte vorübergehend schwitzen. Hinter sich vernahm er das kontinuierliche Stampfen der schweren Hufe und das Knirschen der eisenbeschlagenen Räder auf dem felsigen, mit Raureif beschlagenen Untergrund. Michael hätte zu gerne gewußt, in welchem der Wagen der seltsame Alte, von dem Taren gesprochen hatte, wohl untergebracht war. Er brannte darauf, sich einmal mit ihm zu unterhalten.
Wieso hatte er das fahrende Volk vor dem Wandler gewarnt?
Das ergab keinen Sinn. Bisher war der Wandler immer nur hinter dem Artefakt her gewesen. Was also besaß dieser Alte so Wichtiges, daß er den Wandler fürchten mußte?
Michael war fest entschlossen, es heraus zu finden und zugleich Taren und ihr Volk von seiner Unschuld zu überzeugen. Aber das mußte er auf später verschieben. Einstweilen galt es seine ganze Kraft darauf zu verwenden, auf den Beinen zu bleiben, und das war schwer genug, zumal der Weg nun immer steiler und die Luft immer dünner wurde. Als die Passhöhe schließlich in greifbare Nähe rückte, irrte Michaels Blick immer wieder besorgt zu den über ihnen hängenden, schneebedeckten Felsen, wobei er still vor sich hin betete, daß sich die Tiere ruhig verhalten mögen. Seine eiskalten Füße spürte er kaum noch, zumal der Pfad endgültig unter einer knietiefen Schneeschicht verschwunden war. Zähneklappernd zog der den dünnen Umhang fester um die Schultern und redete dem Pferd beruhigend zu, das inzwischen sichtlich Mühe hatte, den Wagen durch den Schnee zu ziehen. Michael bewunderte im Stillen den mürrischen Wagenlenker, der auf dem Kutschbock sein ganzes Geschick einsetzte, um den Wagen auf dem kaum mehr sichtbaren Pfad zu halten. Michael vermutete, daß er nicht das erste Mal über diesen Paß fuhr. Lediglich ein paar steinerne, verwitterte Pfähle, deren Spitzen aus dem Schnee herausragten, ließen den ungefähren Verlauf des Weges erahnen. Trotzdem prüfte Michael jeden Fußbreit Boden. Zu groß war die Angst in eine Gletscherspalte oder einen verborgenen Abgrund abseits des Weges zu stürzen. Nach wie vor hielt er es für nackten Wahnsinn, bei diesem Wetter mit den Wagen über den Paß zu fahren. Keuchend blieb er einen Augenblick stehen, um wieder zu Atem zu kommen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf der Passhöhe bemerkte. Doch als er sich auf die Stelle in der blendenden Helligkeit konzentrierte, war dort nichts zu sehen. Irritiert musterte er die schneebedeckten Bergflanken zu beiden Seiten des Passes.
Hatte er sich getäuscht?
War er vielleicht schon schneeblind oder fror sein Gehirn in dieser schneidenden Kälte allmählich ein?
Dann registrierte er erneut eine Bewegung auf der Passhöhe. Diesmal zwischen einer Ansammlung von Felsbrocken abseits des Passes.
War irgendetwas oder jemand dort in Deckung gegangen?
Michael spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Eine Adrenalinwelle schoß durch seinen Körper und ließ ihn die vergangenen Anstrengungen vergessen. Eins wurde ihm schlagartig bewußt, wollte man einen Hinterhalt legen, wäre dies der ideale Ort dafür. Die Angreifer könnten sicher sein, daß ihre Opfer vom Aufstieg so erschöpft sein würden, daß sie kaum zu einer Gegenwehr in der Lage wären.
Wer aber sollte ihnen hier oben auflauern?
Michaels Gedanken überschlugen sich. Hatten seine Gefährten ihn etwa auf einem anderen Weg überholt und warteten nun auf eine günstige Gelegenheit, um ihn zu befreien?
So schön dieser Gedanke auch war, Michael verwarf ihn sogleich wieder. Dies war der einzige Weg über den Paß. Michael konnte sich nicht vorstellen, wie selbst der erfahrenste Söldner an seinen Entführern hätte unbemerkt vorbeikommen sollen, um ihnen hier oben eine Falle zu stellen. Wer aber kam dann in Betracht, vorausgesetzt, er hatte sich das Ganze nicht bloß eingebildet? Immerhin schien er bisher der einzige zu sein, dem etwas aufgefallen war. Ein Blick zu dem mürrischen Wagenlenker bestätigte ihm, daß dieser nichts mitbekommen hatte, da er zu sehr mit dem Lenken des Wagens auf dem trügerischen Untergrund beschäftigt war, und die nachfolgenden Wagenlenker konzentrierten sich nur auf ihren Vordermann. Michaels Gedanken wanderten zu dem Gespräch der vergangenen Nacht zurück. Vielleicht ist er der Wandler, vor dem uns der Alte gewarnt hat, hallten die Worte Tarens in seinem Kopf wieder.
War er längst hier?
Irgendwo dort oben, bereit, sie alle zu vernichten?
Er beschloß, seine Entführer zu warnen.
 
Auf der Passhöhe, vor Blicken durch einen gewaltigen Felsen geschützt, beobachtete der Wandler mit der Geduld einer Spinne den Wagentreck, der sich im Schrittempo den Paß hinauf quälte. Selbst hier oben, im Schutz des Felsens, konnte er die flackernde Präsens des alten Zauberers in einem der Wagen spüren. Glaubte er wirklich, er könne ihm in die Quere kommen? Ein heiseres, humorloses Lachen drang aus der Tiefe der schwarzen Kapuze. Mit Genugtuung dachte der Wandler daran, wie er und seine Verbündeten in den vergangenen Monaten einen Zauberer nach dem anderen im Land getötet hatten. Einige hatten sich widersetzt und ihnen schwere Verluste zugeführt, doch gestorben waren sie zu guter Letzt alle. Zumindest fast alle, sah man einmal von dem alten Mann ab, der ihm nun geradewegs in die Falle ging. Ein wenig verärgert über sich selbst erinnerte er sich daran, wie er sich in der Annahme, den alten Mann sicher in der Hand zu haben, vor ihm damit gebrüstet hatte, daß es einem seiner Verbündeten gelungen war, sich in die Bruderschaft der fünf Weisen einzuschleichen, um das Geheimnis der Handhabung des Artefakts an sich zu bringen. Dann könnte ihn niemand mehr daran hindern, das Tor zu öffnen und seiner Armee Einlaß zu gewähren. Aber während er seinem Gegner den drohenden, apokalyptischen Untergang geschildert hatte, war etwas Unvorhersehbares geschehen. Plötzlich hatte es eine Explosion gegeben, die es dem alten, verletzten Zauberer ermöglicht hatte, zu entkommen. Wutentbrannt hatte der Wandler die Verfolgung aufgenommen, doch der Alte blieb verschwunden. Dem Wandler war bewußt, daß sein Widersacher nach Norden reisen würde, um die Bruderschaft zu warnen, Er brauchte sich also nur an einer geeigneten Stelle auf die Lauer zu legen, die der Flüchtende auf jeden Fall passieren mußte. Der Wandler hatte eine Weile überlegt und war schließlich auf die Passhöhe der Nordlandgrenze verfallen. Jeder, der nach Norden wollte, mußte hier hinüber, und somit bot die Passhöhe den besten Platz für einen Hinterhalt. Da der Flüchtende alt und verletzt war, konnte der Wandler sicher sein, den Paß vor ihm zu erreichen. Dann mußte er nur noch abwarten, und das tat er inzwischen seit mehreren Tagen. Er hatte die Hoffnung beinahe schon aufgegeben, als er den Treck tief unten auf dem Paß entdeckte. Sofort hatte er die schwache Präsens des Zauberers gespürt, der ahnungslos in die gut vorbereitete Falle lief. Genugtuung durchströmte ihn, insbesondere wenn er daran dachte, daß seinem Verbündeten, mit dem er in telepathischer Verbindung gestanden hatte, im Düsterwald etwas zugestoßen sein mußte. Jedenfalls war der Kontakt abrupt abgebrochen. Doch darum konnte er sich später kümmern. Jetzt galt es zunächst, einen Fehler zu korrigieren. Zu seiner Freude quoll in diesem Moment ein Wolkenband über den Paß. Binnen kürzester Zeit reduzierte sich die Sichtweite auf ein Minimum, was dem Wandler nur recht war. Ein Ausdruck freudiger Erregung huschte über das albtraumhafte Gesicht unter der schweren Kapuze, als er seinen wenigen, noch verbliebenen Dienern den Befehl zum Angriff gab.
 
„Ich glaube, ich habe dort oben etwas bemerkt“, rief Michael dem mürrischen Wagenlenker zu, der daraufhin den Kopf hob und noch ungehaltener dreinblickte.
„Ja, wir werden die Hand gleich nicht mehr vor Augen sehen und wahrscheinlich in die nächste Gletscherspalte stürzen“, brummte er beim Anblick der Wolkenwand, die sich, vorwärts getrieben von dem starken Wind mit erschreckender Geschwindigkeit näherte.
„Das ist es nicht, ich denke, daß..“ Erschrocken hielt Michael inne, als er erkannte, daß plötzlich ein Armbrustbolzen aus der Stirn des Wagenlenkers ragte. Einen Augenblick saß er noch aufrecht, einen Ausdruck der Verwunderung auf dem erstarrten Gesicht, dann fiel er zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Der Schock durchfuhr Michael wie ein Blitzschlag.
Wir werden angegriffen“, brüllte er aus Leibeskräften, während er sich entsetzt duckte und nach dem Armbrustschützen umsah, doch inzwischen war die gesamte Umgebung von der Wolkenbank eingehüllt, was die Sicht auf wenige Meter begrenzte. Michaels Herz raste. Den nächsten Wagen konnte er im Nebel bereits nicht mehr erkennen und er war sich nicht einmal sicher, daß seine Entführer seine Warnung gehört geschweige denn verstanden hatten. Die Wagenkette war hier oben weit auseinander gezogen, und der Wind tat sein Bestes, um die Verständigung zwischen den Wagen zu erschweren. Michael erwog erneut, lautstark zu warnen, allerdings war ihm auch bewußt, daß er dann die Aufmerksamkeit ihrer Angreifer auf sich lenken würde, und was das bedeuten konnte, hatte er gerade bildlich vor Augen geführt bekommen. Außerdem fiel ihm siedend heiß ein, was seine Entführer ihm über die Folgen von zuviel Lärm erzählt hatten. Verfluchte Situation. Es sah ganz danach aus, als habe er die Wahl von einer Lawine verschüttet, oder von unbekannten Gegnern erschossen zu werden. Warum mußte er nur immer in solche Situationen geraten? Aber zuerst einmal mußte er das verfluchte Lederseil loswerden, das noch immer schmerzhaft in sein Handgelenk schnitt. Behände erkletterte er den Kutschbock und untersuchte mit Widerwillen die Leiche des Wagenlenkers. Erfolglos. Er war nicht bewaffnet gewesen. Hilflos sah er sich nach einer anderen Lösung um und entdeckte ein Stück rostiges, scharfkantiges Blech an der Seitenverkleidung. Einen Augenblick später atmete er erleichtert auf. Er war frei, aber in Sicherheit war er deshalb noch lange nicht. Leise glitt er vom Kutschbock hinunter und bewegte sich zum Ende des Wagens, der inzwischen stand, denn auch das Pferd hatte bemerkt, daß etwas nicht stimmte. Ängstlich rollte es mit den Augen und tänzelte nervös hin und her, während es lautstark schnaubte. Ohne Führung fühlte es sich hilflos. Michael betete, daß die Furcht nicht Überhand gewinnen und es durchgehen würde. Eine schemenhafte Bewegung ließ ihn herumfahren. Schattenhafte, buckelige Gestalten kamen im Nebel den Paß hinunter, und alles was er zur Verteidigung besaß, war ein massiver Stock, mit dem er sich den Berg hinauf gequält und nach Spalten im Eis gestochert hatte. Nicht gerade die beste Waffe, wenn der Gegner eine Armbrust besaß. Was sollte er bloß machen?
 
„Und ich sage dir, da vorne stimmt etwas nicht. Irgendjemand hat gerufen, ich konnte nur nicht verstehen, was“, beharrte Taren auf ihrem Standpunkt, aber Ergo schien nicht überzeugt.
„Ich habe nichts gehört“, brummte er. Doch Taren ließ nicht locker.
„Vielleicht ist Mowin mit dem Wagen vom Weg abgekommen und steckt in Schwierigkeiten. Immerhin kann man in diesem Nebel kaum mehr als ein paar Schritt weit sehen“, versuchte sie es erneut.
„Nicht Mowin. Er ist die Strecke schon so oft gefahren, daß er sie im Schlaf kennt.“
„Möglicherweise hat er sich das ja auch gesagt, ist eingeschlafen und nun.. hey, unser Gefangener will fliehen!“, rief Taren aufgeregt, als plötzlich eine schattenhafte Gestalt im Nebel auftauchte und den Paß hinab auf sie zu glitt. „Ich wußte doch, daß da etwas nicht stimmt.“
Bevor Ergo etwas erwidern konnte, war Taren bereits mit einem Sprung vom Wagen, um den vermeintlich Flüchtenden aufzuhalten und bezahlte für Ihre Kühnheit beinahe mit dem Leben. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor der mit Nägeln bestückte Streitkolben auf sie herunter fuhr, erkannte sie ihren Irrtum und brachte sich mit einem verzweifelten Sprung zur Seite in Sicherheit. Hilflos fiel sie in den Schnee, während sich der Streitkolben ihres Angreifers tief in den Schnee grub. Sofort fuhr der haarlose Kopf des kaum einen Meter großen Dämonen wütend herum und fixierte seine um Haaresbreite entgangene Beute aus gnadenlosen Raubtieraugen. Mit einer Leichtigkeit, die Taren aufkeuchen ließ, riß der Dämon die schwere Streitkeule aus dem Schnee und ging übergangslos zum nächsten Angriff über. Das Ganze hatte keine zwei Sekunden gedauert. Taren, die immer noch am Boden lag, wurde bewußt, daß sie nicht mehr rechtzeitig hochkommen würde. Verzweifelt zog sie die Knie bis an die Brust heran und rammte sie ihrem heran stürmenden Angreifer mit aller Wucht vor die Brust, bevor dieser Gelegenheit hatte, zum nächsten Schlag auszuholen. Zu Tarens Erleichterung, zeigte der Tritt unerwartete Wirkung. Auch wenn ihr Angreifer sich mit einer Leichtigkeit durch den Schnee bewegt hatte, die Taren schaudern ließ, schien er doch nicht allzuviel zu wiegen. Der Tritt katapultierte ihn geradewegs unter den Wagen, wobei ihm seine Waffe entglitt. Zu spät erkannte der Dämon die Gefahr, in der er sich befand, dann erfaßt ihn bereits eines der großen, eisenbeschlagenen Räder. Das hohe Kreischen des entsetzen Dämonen, der unter dem Gewicht des Wagens zerquetscht wurde, brach abrupt ab, doch Taren hatte bereits den Blick abgewandt und nach Ergo Ausschau gehalten, der in arger Bedrängnis war. Gleich zwei der furchterregenden Angreifer waren im Begriff, den Wagen zu entern. Nur mit dem Mut des Verzweifelten und Glück war es Ergo bisher gelungen, die Angreifer unter Einsatz der Peitsche und einiger gut gezielter Fußtritte daran zu hindern, zu ihm auf den Kutschbock zu gelangen. Dumpfe Schreie aus dem Nebel machten Taren deutlich, daß der gesamte Wagenzug angegriffen wurde. All das registrierte sie in dem kurzen Augenblick, den sie brauchte, um wieder auf die Füße zu kommen. Ihre Gedanken rasten. Ich muß ihm helfen, aber wie? Die Angreifer waren stark bewaffnet. Ihre Hand zuckte zu den verborgenen Wurfmessern in ihrer Kleidung, doch dann fiel ihr Blick auf den hölzernen Griff des Streitkolbens, der halb aus dem Schnee ragte. Dies war eine wirkungsvollere Waffe. Mit grimmig entschlossenem Gesicht hastete sie darauf zu. Als sie sich bückte, um ihn aufzuheben, fühlte sie plötzlich einen brennenden Schmerz auf der Kopfhaut, begleitet von einem Zischen und einem dumpfen Aufschlaggeräusch. Mit vor Schmerz verzehrtem Gesicht fuhr sie mit der Hand über ihren Kopf und zuckte erschrocken zusammen, als sie das Blut auf ihrer Hand sah. Dann wanderte Ihr Blick zu dem Wagen, der sich noch immer stockend vorwärts bewegte. In der hölzernen Seite steckte ein Armbrustbolzen. Irgendjemand hatte auf sie geschossen. Hätte sie sich nicht gebückt..... Erschrocken fuhr sie herum und sah ein weiteres dieser abscheulichen Wesen keine fünfzehn Meter entfernt und halb im Nebel verborgen eine bösartig aussehende Armbrust Mithilfe einer kleinen Kurbel spannen. Selbst auf diese Entfernung konnte Taren das bösartige Glitzern in den Augen ihres Gegners erkennen. Die Erkenntnis, daß sie jeden Moment sterben würde, lähmte sie. Aber für eine Flucht oder einen Angriff war es ohnehin zu spät, denn in diesem Moment riß der Dämon die Waffe hoch.
 
Michael war auf der Flucht. Im Höchsttempo kämpfte er sich durch den tiefen Schnee bergab, nur fort von den unheimlichen Angreifern. Allein hatte er keine Chance, darüber machte er sich keine Illusionen. Seine einzige Hoffnung bestand darin, zu den anderen zu gelangen und gemeinsam gegen ihre Angreifer zu kämpfen. Die Furcht, jeden Augenblick von einem Armbrustbolzen durchbohrt zu werden oder vom Weg abzukommen und in eine Spalte zu stürzen, umschloß sein Herz wie eine eisige Faust. Immer wieder drehte er den Kopf und versuchte zu erkennen, ob ihm jemand im Nebel folgte. So übersah er beinahe den Dämon, der plötzlich in seinem Gesichtsfeld auftauchte und eine Armbrust auf ein Ziel links von Michael ausrichtete. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte Michael, wen der Dämon sich zur Zielscheibe auserkoren hatte, und noch etwas wurde ihm schlagartig bewußt, er würde seinen verhaßten Widersacher nicht mehr rechtzeitig erreichen, um Taren helfen zu können.
 
Der Wandler war zufrieden. Überall um ihn herum hörte er die Schreie der Verletzten und das Stöhnen der Sterbenden. Als der Nebel sich für einen Augenblick hob, fiel sein Blick auf ein junges Mädchen, das wie gelähmt auf einen seiner Helfer starrte, der gerade eine Armbrust hoch riß und auf sie anlegte. Den weiteren Ausgang konnte er leider nicht mehr miterleben, da sich der Nebel in diesem Moment wieder herabsank und die brutale Szene gnädig verdeckte. Der Wandler bedauerte für einen Moment, daß er den sicheren Tod dieses Mädchens nicht mehr miterlebte, doch dann hatte er sie auch schon wieder vergessen und bewegte sich zielstrebig weiter auf die Stelle im Nebel zu, wo die magische Aura des Zauberers für ihn wie eine Fackel im Dunkeln leuchtete. Der Wandler grinste tückisch, als er sich überlegte, daß die Magie, die seinem Opfer zur Flucht verholfen hatte, ihm nun zum Verhängnis wurde. Selbst in stockfinsterer Nacht hätte der Wandler sein Opfer aufspüren können, jedenfalls innerhalb eines begrenzten Radius. Der dunkle Umhang des Wandlers wölbte sich unter dem starken Wind und verlieh ihm das Aussehen einer riesigen Fledermaus, als er sich in dem dichten Nebel entschlossen seinem Ziel näherte. Hocherfreut registrierte er, daß seine Diener sich an seinen Befehl gehalten hatten. Der Wagen des Zauberers war der einzige, der bisher noch nicht angegriffenen wurde. Das würde sich nun ändern.
 
Obwohl er wußte, daß er den Dämonen auf diese Entfernung niemals treffen würde, warf Michael seinen Stab in einem letzten verzweifelten Rettungsversuch. Erwartungsgemäß fiel er etliche Meter vor seinem Ziel harmlos in den Schnee. Aber der Dämon hatte die Bedrohung aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen, und das hatte gereicht, um den Schuß abzulenken, so daß der Bolzen buchstäblich um Haaresbreite am Kopf der entsetzten Taren vorbei flog. Erleichtert atmetet sie auf. Die Schicksalsgöttin hatte ihr noch einmal einen Aufschub gewährt, und den wollte sie nutzen. Den Streitkolben über ihrem Kopf schwingend kämpfte sie sich nun wutentbrannt durch den tiefen Schnee auf ihren Widersacher zu, der fieberhaft an seiner Armbrust arbeitete. Ein neuer Bolzen war bereits eingelegt und der Dämon betätigte nun wie ein Besessener die kleine Kurbel zum Spannen der Sehne, während sein Blick zwischen Taren und Michael, die sich stetig näherten, hin und her irrte. Aber so sehr er sich auch beeilte, Taren war schneller und schlug mit aller Kraft, die sie aufbieten konnte, mit dem schweren Streitkolben zu. Umsonst. Mit einem verärgerten Kreischen sprang der Dämon buchstäblich in letzter Sekunde zurück, so daß der Streitkolben ihn verfehlte, nicht jedoch seine Armbrust. Unter der Wucht des Schlages wurde sie ihm aus der Hand geprellt und in Brennholz verwandelt, was an seiner Angriffslust allerdings nichts änderte. Mit einer Wildheit, die im krassen Gegensatz zu seinem eher schmächtigen Körperbau stand, ging der Dämon nun mit seinen natürlichen Waffen zum Angriff über. Sofort gab Taren den Versuch, den schweren Streitkolben aus dem Schnee zu ziehen auf und zog statt dessen in einer fließenden Bewegung ein Messer aus einer Falte ihrer Kleidung, doch der Dämon war bereits über ihr, so daß sie beide in einem wilden Handgemenge in den Schnee stürzten. Verzweifelt wehrte die Taren die Angriffe des Dämonen ab, der versuchte, ihr mit seinen Klauen die Kehle aufzureißen, als Michael den Kampfplatz erreichte.
„Hey, Kumpel, Überraschung“, brüllte er aus Leibeskräften, worauf der Dämon überrascht den Kopf hob und dafür mit dem Anblick von Michaels Stab belohnt wurde, der mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets auf ihn niederfuhr. Es gab ein häßliches Knacken, als der Hartholzstab den Schädel des Dämonen zertrümmerte, der daraufhin sofort zu Staub zerfiel. Sofort half Michael der verwirrten Taren auf die Füße, die sich angewidert den Staub von der Kleidung klopfte. Dabei bemerkte er zum ersten Mal, daß seine Entführerin verletzt war. Ein Rinnsal Blut floss ihr aus einer Kopfwunde über das Gesicht.
„Bist du ernsthaft verletzt?“, fragte Michael besorgt. Taren schüttelte den Kopf und wischte sich das Blut mit dem Ärmel vom Gesicht.
„Nur ein Kratzer“, beschwichtigte sie, aber was in Welfrums Namen sind das für seltsame Geschöpfe?“
„Kreaturen des Wandlers“, erläuterte Michael mit Abscheu in der Stimme. „Er ist hier irgendwo in der Nähe.“
„Also hatte ich doch Recht! Du hast uns etwas verschwiegen. Sind die hinter dir her?“
„Ich erkläre es dir später. Jetzt haben wir erst einmal andere Sorgen.“
Taren wollte gerade eine bissige Antwort geben, als ein tiefes Grollen irgendwo über ihnen sie innehalten ließ. Es klang wie ein weit entferntes Gewitter, doch Taren wußte, daß das eine Täuschung war. Der Lärm des Kampfes forderte seinen Tribut.
„Die weiße Wand!“
Tarens Stimme überschlug sich vor Aufregung. „Wir müssen sofort hier weg und uns Schutz suchen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und kämpfte sich in wilder Panik den Berg hinunter auf ein paar Felsen zu, die im Nebel nur als vage Schemen auszumachen waren. Michael folgte ihr in gesundem Selbsterhaltungstrieb. Inzwischen konnte er das Beben des Bodens selbst durch den dicken Schnee spüren. Etwas Gewaltiges kam durch den Nebel den Berg hinunter auf sie zu, bereit, sie alle zu zermahlen.
 
Der Lenker des Wagens hatte nicht einmal das Herannahen des Wandlers bemerkt. Das Letzte, was er in seinem Leben registrierte, war der gewaltige Ruck, mit dem ihm das Genick gebrochen wurde. Gelangweilt ließ der Wandler sein Opfer vom Bock des Wagens in den Schnee fallen. Das war schon fast zu leicht gewesen. Ein größeres Problem waren da schon die Pferde, die die Anwesenheit des Dämonen instinktiv fürchteten, sich aufbäumten und mit weit geblähten Nüstern ängstlich wieherten. Er mußte sich beeilen, bevor sie ganz durchgehen und ihn in ernsthafte Gefahr bringen würden. Auch er war nicht gegen einen Sturz in eine Gletscherspalte gefeit. Behände glitt er vom Wagen hinunter und begab sich zu dessen Ende, wo er sich ins Innere schwang und auf einer behelfsmäßigen Pritsche sofort sein Opfer entdeckte. Mit einer beiläufigen Bewegung tötete er die Pflegerin, die sich bei seinem Eindringen erschrocken erhoben und ihn entsetzt angestarrt hatte und wandte sich dann seinem Opfer zu, das seinen Blick aus fiebrig glänzenden Augen trotzig erwiderte.
„Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen“, flüsterte der Wandler drohend, dann aber nahm plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit gefangen. Ein tiefes Grollen, das stetig anschwoll und den Wagen vibrieren ließ. Etwas Gewaltiges kam den Berg hinunter. Er mußte sofort hier weg, wenn er nicht sterben wollte. „Sieht so aus, als würde die Natur mir die Arbeit abnehmen“, spottete er und wandte sich zur Flucht. Zu seiner Überraschung prallte er gegen eine unsichtbare Barriere. Die Überraschung wurde zu wilder Panik als ihm klar wurde, was das bedeutete. Der alte Zauberer hatte seine letzte Trumpfkarte ausgespielt und um sie herum eine magische Mauer errichtet. 
„Ich fürchte, wir haben beide eine Verabredung mit dem Tod“, erklang hinter ihm die heisere Stimme des Zauberers, der sich mühsam auf seinem Lager aufgerichtete hatte. In seinen Augen brannte eine wilde Entschlossenheit. Mit einem Wutschrei stürzte der Wandler auf ihn zu.
 
Michael hastete verzweifelt durch den tiefen Schnee. Im Unterbewußtsein nahm er wahr, daß der Kampflärm verebbt war. Dafür gellten jetzt panische Rufe durch den Nebel angesichts der drohenden Gefahr, die sich grollend den Paß hinunter wälzte. Die Vorboten in Gestalt von kleinen Steinen prasselten bereits auf den Treck herab. Jeden Moment würde die nachfolgende Lawine den Treck erreicht haben und alles zermahlen, war ihr im Weg stand.
Auch Michael hatte inzwischen die nackte Panik erfaßt. Er war noch nicht bereit zu sterben. Das darf doch einfach alles nicht wahr sein, ging es ihm immer und immer wieder durch den Kopf, während er sich verzweifelt durch den Schnee kämpfte. Dann tauchten endlich die gewaltigen Felsbrocken aus dem Nebel vor ihm auf, in deren Schutz sich die vorauseilende Taren bereits geflüchtet hatte. Erleichtert atmete Michael auf, als die Rettung zum Greifen nah war. Dann entdeckte er die gewaltige Wand aus Schnee und Geröll, die sich aus dem Nebel heraus schälte und einem D-Zug gleich auf ihn zu raste. Abgelenkt von der drohenden Gefahr stolperte er plötzlich und schlug der Länge nach hin, was ihm kurzzeitig den Atem raubte. Aus dem sicheren Schutz der Felsen heraus erkannte Taren sofort, daß Michael es allein nicht mehr schaffen würde und das, obwohl die Rettung zum Greifen nah war. Mit einem Fluch auf den Lippen sprang sie aus ihrer Deckung und half ihm auf die Füße. Das Donnern der niedergehenden Lawine schmerzte in ihren Ohren und machte eine Verständigung unmöglich. Unter Aufbietung aller Willenskraft verdrängte sie die Panik, die angesichts der hoch aufragenden, in atemberaubenden Tempo auf sie zurasenden Wand aus Schnee und Geröll in ihr aufwallte.
Gemeinsam gelang es ihnen, sich im letzten Augenblick in den Schutz des Felsriesen zu werfen, als die Lawine auch schon heran war und alles zerstörte und unter sich begrub, was sich ihr in den Weg stellte. Wie bei einem Schiff auf tosender See brandete sie links und rechts des gut fünf Meter hohen und zehn Meter breiten Felsens an ihnen vorbei. Eilig krochen sie zur Mitte des Felsens und lehnten sich mit dem Rücken zitternd gegen den einzigen Schutz, den sie in diesem Inferno hatten. Aber selbst der Felsen war gegen den Ansturm der Geröllmassen nicht völlig gefeit. Entsetzt spürte Michael, wie der Stein in seinem Rücken von dem Aufprall der gewaltigen Schnee- und Geröllmassen vibrierte. Er wagte sich nicht vorzustellen, was passiert wäre, wenn Taren ihm nicht geholfen hätte. Dankbar wandte er sich ihr zu und griff nach der Hand seiner Retterin, die verstört neben ihm kauerte. Ihre Blicke trafen sich, und Michael formte mit den Lippen das Wort „Danke“, denn das Donnern der grauen Masse, die zum Greifen nah an ihnen vorbei zu Tal rutschte, war noch immer so laut, daß eine Verständigung unmöglich war. Aber das war auch gar nicht nötig. Michael wußte auch so, was Taren fühlte. Der feste, verzweifelte Griff, mit der sie Michaels Hand umklammert hielt, sprach Bände. Die unerbittliche Naturgewalt hatte auf einen Schlag Tarens Sippe ausgelöscht und sie heimatlos gemacht. Mitleid durchflutete Michael beim Anblick der ehemals harten Nomadin, die das donnernde Inferno in ein ängstliches Mädchen verwandelt hatte. Michael fragte sich, ob sie wohl ahnte, daß er sich keinen Deut besser fühlte. Er hoffte nur, daß es den Wandler diesmal endgültig erwischt hatte.
Dann geschah das Unvermeidliche.
Die Schneemassen überspülten den Felsen, in dessen Schutz sich Michael und Taren verzweifelt kauerten. Das Letzte, was Michael wahrnahm, bevor es Nacht um ihn wurde, war der Eindruck, daß der Himmel plötzlich auf sie herabstürzte.
 
Achthundert Meter tiefer hatten die Gefährten mit Bestürzung auf das Donnergrollen, das selbst hier unten noch furchteinflößend klang, reagiert. Ihnen war bewußt, was das bedeutete.
Als der Lärm schließlich verebbte, lastete die plötzliche Stille wie ein Gewicht auf ihnen.
„Glaubt ihr“, Glyfara räusperte sich vernehmlich. „Glaubt ihr, daß er das überlebt hat?“
„Der hat schon ganz andere Sachen überstanden“, versuchte Streitaxt Optimismus zu verbreiten.
„Außerdem kann er schon lange über den Paß sein. Dann hat er davon gar nichts mitbekommen“, spekulierte Grimmbart.
„Oder seine Entführer haben die Lawine absichtlich ausgelöst, um möglichen Verfolgern die Jagd zu erschweren“, warf Grüneich ein. Diese Vermutung fand überwiegend Zustimmung, klang sie doch am plausibelsten.
„Wir sollten nicht herumstehen und wertvolle Zeit mit unnützen Spekulationen vergeuden. Verschaffen wir uns Gewißheit“, knurrte  Grimmbart, worauf sich die Gruppe wieder daran  machte, den Rest des steilen Berghangs hinauf ins Ungewisse zu erklimmen.
Als sie die Schneehöhe erreichten, deutete nichts darauf hin, daß hier vor kurzem eine Lawine hinunter gegangen war. Was für diejenigen, die das Pech hatten, hier oben gewesen zu sein, eine Katastrophe bedeutet hatte, war für den Berg nicht mehr als ein leichtes Kratzen an seiner Oberfläche gewesen.
Dann entdeckten die Gefährten beklommen nach und nach ein paar Trümmerteile, die aus der eintönigen, grauweißen Wüste herausragten und zu ihrer Verwunderung sogar einen einzelnen Wagen, vor dem ein struppiges, schwarzes Pferd angespannt war. Wie es der Katastrophe hatte entkommen können, war allen schleierhaft. Nur von Michael war weit und breit keine Spur zu entdecken.
„Sieht so aus, als hätte ich mich geirrt“, gab Grüneich zu. Während er sich daran machte, das verängstigte Pferd nebst Wagen einzufangen, wandte sich Glyfara dem Wühler zu.
„Kannst du spüren, ob er noch lebt?“, fragte sie besorgt. Der Wühler zog daraufhin die Luft prüfend ein und schüttelte dann bedauernd sein bepelztes Haupt.
„Nicht hier.“
Glyfaras Blick glitt daraufhin prüfend über den steilen Berghang. Was hätte sie getan, wenn sie in der Situation gewesen wäre?
Die Antwort lag auf der Hand.
Sie hätte sich Schutz gesucht, aber wo?
Ihr Blick blieb an einigen Felsblöcken weiter oben am Hang hängen, die gut zwei Meter aus dem Schnee heraus ragten.
„Ich denke, wir sollten dort mit der Suche beginnen“, entschied sie und wies dabei auf die Ansammlung der Felsen.
„Einen Versuch ist es wert“, gab Grimmbart zu. „Wahrscheinlich ragten die Felsen vorher deutlich höher aus dem Schnee.“
„Dann laßt uns dort nachsehen.“
Glyfara wollte dem Wühler gerade den Auftrag geben, dort oben seine Nase einzusetzen, aber der war bereits auf dem Weg. Die Ohren flatterten wie kleine Fahnen im Wind, als er den Hang hinauf eilte.
Die Gefährten folgten langsamer, zumal der Untergrund rutschig war und niemand die Lust verspürte, in den Abgrund gerissen zu werden. Als sie ebenfalls die Felsen erreichten, hatte der Wühler bereits drei von Ihnen untersucht, ohne auf eine Spur von Michael zu stoßen.
Während er sich zu dem größten Felsblock aufmachte, der ein gutes Stück weiter oberhalb aus dem Schnee ragte, gesellte sich Grüneich zu ihnen, der das Pferd nebst Wagen am Zügel durch den tiefen Schnee hinter sich her zog.
„Im Wagen sind ein paar nützliche Sachen zum Anziehen, die wir hier oben gut gebrauchen können“, teilte er den Gefährten erfreut mit. Glyfara nickte dankbar. Ihre notdürftig gegen die Kälte übergeworfenen Decken boten nur unzureichenden Schutz gegen die beißende Kälte, die hier oben herrschte. In diesem Moment sorgte der Ruf des Wühlers dafür, daß sich ihr Blut plötzlich wieder schneller durch die Adern bewegte.
„Gefunden“, rief er voller Stolz. „Lebt“, fügte er erfreut hinzu, während er mit seinen kräftigen Pfoten bereits den Schnee aufgrub. Schnell waren die Gefährten an seiner Seite und gruben mit den nackten Fingern im Schnee. Schon bald spürte keiner mehr seine Gliedmaßen, aber niemand war gewillt, aufzugeben.
Als sie sich schließlich in eine Tiefe von über zwei Metern in den Schnee vorgearbeitet hatten, stießen sie auf einen kleinen Hohlraum, bedingt durch einen Überhang des Felsens, in dem Michael bewußtlos gefangen lag. Erst als sie ihn herauszogen bemerkten sie, daß seine Hand die Hand eines Mädchens umklammert hielt.
Vorsichtig darauf bedacht, die Grube nicht zum Einsturz zu bringen, befreiten sie auch Michaels Begleiterin aus den eisigen Fängen des Schnees und brachten sie nach oben. Glyfara erschrak zutiefst, als sie erkannte, in welchem Zustand sich Michael und seine Begleiterin befanden. Die Gesichter hatten einen bläulichen Schimmer und zeigten, abgesehen von den schwachen Atemzügen, kein Lebenszeichen.
„Wir brauchen Wärme“, entschied Grüneich resolut, wobei sein Blick auf den hölzernen Wagen fiel. Schnell waren ein paar Planken abgebrochen und Mithilfe von etwas trockenem Stroh, das er im Inneren des Wagens entdeckt hatte, im Schutz des Felsens in Brand gesetzt. Michael und seine Begleiterin wurden in dicke Decken gehüllt und so dicht wie möglich ans Feuer gelegt. Bange Minuten verstrichen, bis Michael schließlich als erster mit flatternden Liedern wieder zu sich kam. Erstaunt registrierte er, daß er an einem warmen Feuer lag und lauter Jubel ausbrach, als er versuchte, sich aufzurichten. Glyfaras Gesicht tauchte plötzlich vor ihm auf, die ihn strahlend anlächelte und der Intensität des Schlags nach zu urteilen, mit dem ihm jemand freudig auf die Schulter klopfte, war Grüneich offenbar auch anwesend.
„Was ist passiert?“
„Du wurdest von der weißen Wand verschüttet, und der Wühler hat dich aufgespürt“, erklärte Grimmbart ihm die Situation. Verwirrt rieb sich Michael den Kopf.
Er war verschüttet worden?
Dann kamen die Erinnerungen plötzlich wieder. Sie waren angegriffen worden, und dann waren er und Taren in den Schutz der Felsen geflohen, um der Lawine zu entgehen.
Taren!
Siedendheiß fiel ihm ein, was als letztes passiert war. Eine gigantische Schneewand hatte sie überrollt. Ruckartig richtete er sich auf und entdeckte das leblose Bündel auf der anderen Seite des wärmenden Feuers.
„Taren“, rief er erschrocken. „Lebt sie noch? Sie darf nicht sterben!“
„Ich fürchte, sie schafft es nicht“, antwortete Streitaxt mit einem Seitenblick auf das bewußtlose Mädchen. Energisch arbeitete Michael sich aus seiner Decke und stolperte zur Überraschung seiner Gefährten auf die bewußtlose Taren zu, wo er auf die Knie sank und das Mädchen energisch schüttelte.
„Wach auf“, rief er laut, doch Taren rührte sich nicht.
„Hat sie dich nun eigentlich entführt oder verführt“, fragte Glyfara in einem säuerlichen Tonfall, der nichts Gutes verriet.
„Sie hat mir das Leben gerettet“, erwiderte Michael brüsk, der sich plötzlich daran erinnerte, daß der Schnee nicht das einzige war, vor dem sie ihn gerettet hatte. Während er hilflos vor der bewußtlosen Taren kauerte, erzählte er den Gefährten in Kurzform, was ihm in der Zwischenzeit widerfahren war.
„Der Wandler war hier mit seine Kreaturen“, stellte Glyfara verblüfft fest. „Wie hat er es bloß geschafft, uns zu überholen?“
„Vielleicht gibt es doch mehr als nur einen von dieser Sorte“, überlegte Streitaxt nachdenklich.
„Das könnte einiges erklären“, räumte Grimmbart ein.
„Schade, daß du nicht mehr über den Alten herausbekommen hast“, bedauerte Glyfara. „Das hätte uns vielleicht von Nutzen sein können.“
In diesem Moment schlug Taren die Augen auf und stieß ein entsetztes Keuchen aus, als sie Grüneich entdeckte, der sie über das Feuer hinweg finster anstarrte. Der flackernde Lichtschein verlieh seinem ohnehin furchteinflößendem Anblick einen geradezu dämonischen Anstrich.
„Keine Angst, das sind meine Freunde“, beruhigte Michael sie, der froh war, daß seine Retterin wieder unter den Lebenden weilte.
„Was..“, Taren stockte ängstlich, bevor sie weiter sprach, „Was ist mit meinen Leuten passiert?“
„Die hat es erwischt“, erklärte Grimmbart ihr in seiner typischen, nüchternen Art die Lage, worauf Taren in Tränen ausbrach.
„Meine Anerkennung, du verstehst es, mit Frauen umzugehen“, beschied Glyfara ihm bissig, die sich ärgerte, daß es nun eine Weile dauern würde, bevor man dem Mädchen ein paar brauchbare Informationen entlocken konnte. Immerhin lief ihnen die Zeit davon, denn ewig konnten sie sich nicht in dieser Kälte aufhalten, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen. 
„Ich verstehe etwas von Waffen und Kriegführung“, brummte Grimmbart, der sich über die Zurechtweisung ärgerte,  obwohl er sich eingestehen mußte, daß seine Erwiderung nicht gerade einfühlsam gewesen war. Aber schließlich war er Söldner und kein Kindermädchen. Die Kleine würde sich schon wieder beruhigen. Außerdem gehörte sie zu dem Clan, der einen seiner Gefährten entführt hatte. Das hatte Grimmbart noch nicht vergessen, auch wenn die Erklärung Michaels das Verhalten des fahrenden Volks zumindest ein wenig erklärt hatte. Als das hemmungslose Schluchzen abebbte, konnte Glyfara ihre Neugier nicht mehr zügeln.
„Hast du eine Ahnung, warum ihr angegriffen wurdet?
Hatte das etwas mit diesem geheimnisvollen Alten zu tun, von dem Michael uns erzählt hat?“
„Vielleicht“, räumte Taren zwischen zwei Schluchzern ein. „Was habt ihr jetzt mit mir vor?“, fragte sie mit erkennbarer Besorgnis in der Stimme.
„Das hängt ganz von dir ab“, sagte Grimmbart betont langsam. „Wenn du mit uns zusammenarbeitest, werden wir dich an einem sicheren Ort absetzen, wenn nicht ...“
Grimmbart ließ das Ende des Satzes bewußt offen, was seine Wirkung nicht verfehlte. Michael war zwar empört über die Art, wie der Zwerg mit dem schluchzenden Mädchen umging, mußte aber einräumen, daß die unausgesprochene Drohung ihre Wirkung nicht verfehlte.
„Also  schön, ich werde euch sagen, was ich weiß“, gab Taren nach.
„Wir sind ganz Ohr“, erwiderte Glyfara, die neugierig näher rückte. Taren setzte sich seufzend auf und zog die Decke noch ein wenig enger um ihre Schultern. Mit noch immer tränennassen Augen starrte sie  in das flackernde Feuer und begann stockend zu erzählen.
„Wir waren unterwegs nach Werfsklamm, um uns mit einer anderen Sippe zu treffen. Die Zeiten sind hart und gefährlich, so daß es besser ist, in einer großen Gruppe unterwegs zu sein“, erklärte sie, als sie die gefurchte Stirn Glyfaras entdeckte. „Ungefähr drei Tagesreisen von diesem Paß entfernt, trafen wir auf den Alten. Er stolperte spätabends in unser Lager und bat uns, ihn über den  Paß nach Norden zu bringen. Wir lehnten ab, da unser Ziel weit ab im Osten lag, doch dann bot der Alte uns plötzlich Gold an. Eine Menge Gold, und er versprach uns noch einmal dasselbe, wenn wir ihn nach Norden bringen würden. Damals dachten wir, das wäre ein gutes Geschäft.“ Sie lachte humorlos bei der Erinnerung.
„Hat er gesagt, wohin in den Norden?“, hakte Glyfara nach.
„Nicht direkt, er sprach von einer Bruderschaft, aber das sagte uns nichts“, räumte Taren ein. Glyfara pfiff bei dieser Information durch die Zähne. Auch die anderen Gefährten waren überrascht.
„Was hat er noch gesagt? Michael erzählte uns, er habe euch vor dem Wandler gewarnt“, fragte Grimmbart.
„Ja, das hat er in der Tat. Wir hielten das jedoch für blanken Unsinn. Immerhin war der Alte schwer krank. Er hatte hohes Fieber, und wir hielten das zunächst für eine Fieberphantasie, bis uns auffiel, daß wir verfolgt wurden.“ Taren lächelte verlegen. „Nun, zumindest dachten wir damals, daß wir verfolgt würden“, korrigierte sie ihren Vortrag.
„Schön, das erklärt, warum ihr Michael entführt habt, aber nicht, warum der Wandler und seine Kreaturen euch aufgelauert haben“, sinnierte Glyfara. „Die Bruderschaft ist ein magischer Kreis. Wenn dieser Alte dorthin wollte, mußte er einen guten Grund gehabt haben. Hatte er irgend etwas in seinem Besitz, daß euch seltsam vorkam oder hat er etwas über seinen Beweggrund verraten?“
Taren schüttelte den Kopf.
„Nicht direkt, aber er hat oft im Schlaf geredet. Irgend etwas über eine Warnung vor einem Verräter und den Fall einer Mauer, wenn ich mich recht entsinne. Wirres Zeug ohne Belang.“ Taren zuckte verlegen mit den Achseln.
„Nicht, wenn man die Hintergründe kennt“, erwiderte Glyfara nachdenklich. Wahrscheinlich würde sie nie erfahren, wer der Alte gewesen war. Aber sie konnte sich zumindest einen Reim auf sein Verhalten machen. Vielleicht war er ein Zauberer gewesen, der etwas über den Wandler herausbekommen hatte und die Bruderschaft warnen wollte. Hierzu paßte das Erzählte ins Bild. Der Fall der Mauer hatte sicher mit dem Artefakt zu tun, das den Bann der Verfemung aufrechterhielt. Aber was hatte er mit dem Verräter gemeint? Glyfara schauderte unwillkürlich, als sie sich die verschiedenen Alternativen durch den Kopf gehen ließ. Offenbar war das Netzwerk des Wandlers erheblich effizienter, als sie befürchtet hatte.
„Wir sollten zusehen, daß wir hier wegkommen“, riß Grimmbart sie aus ihren Gedanken. „Die Nacht hier oben könnte unser aller Tod bedeuten. Wir müssen über den Paß, bevor es dunkel wird.“
Glyfara nickte zustimmend.
„Du hast recht, laßt uns aufbrechen. Wer lenkt den Wagen?“
„Das mache ich! Ich kenne den Paß.“
Verblüfft wandte sich Glyfara Taren zu, die entschlossen aufgesprungen war. Die roten Haare flatterten trotzig wie eine Fahne im Wind. Glyfara bewunderte widerwillig die Energie, die das junge Mädchen plötzlich ausströmte. Fragend sah sie Grüneich an, der zustimmend nickte.
„So soll es sein, aber versuche nicht, uns hereinzulegen. Ich werde vorausgehen, der Rest fährt auf dem Wagen mit“, entschied der Troll resolut. „Und jetzt laßt uns endlich von hier verschwinden.“
 
Taren hatte nicht übertrieben. Sie kannte den Weg über den Berg, lenkte den Wagen geschickt um plötzliche Spalten herum, vermied sorgsam zu rutschigen Untergrund und verstand es, das Pferd zu beruhigen, so daß es nach und nach die Angst ablegte.
Trotzdem dauerte es eine kleine Ewigkeit, bis der schwer beladene Wagen die Passhöhe erreichte. Alle atmeten erleichtert auf, als es nun endlich auf der anderen Seite bergab ging, zumal die Sonne mittlerweile dem Horizont zustrebte. Glyfara, die neben Taren auf dem Bock des Wagens saß, beobachtete mit gemischten Gefühlen die Waldgrenze, auf die sie nun langsam zuhielten. Die dunkle Linie der Bäume hatte etwas Bedrohliches an sich. Michael, der ursprünglich an Glyfaras Stelle neben der unbestreitbar attraktiven Taren auf dem Bock gesessen hatte und von der Elbin mit der Begründung, sie sei besser geeignet als er, auf etwaige Gefahren zu reagieren, verscheucht worden war, steckte neugierig den Kopf durch die halboffene Plane.
„Wie ist die Lage?“, wollte er wissen.
„Ich bin mit nicht sicher“, erwiderte Glyfara zögernd. „ Wir nähern uns der Waldgrenze. Aber nachdem, was wir in letzter Zeit erlebt haben, ziehe ich es vor, nicht bei Dunkelheit in den Wald einzudringen.“
„Vernünftige Idee“, stimmte ihr Grimmbart aus dem Inneren des Wagens zu, der bezweifelte, daß das bessere Beherrschen der Waffen die einzige Motivation der Elbin war, Michael von der unbestreitbar attraktiven Taren fernzuhalten. Er verkniff sich jedoch einen entsprechenden Kommentar. Sie hatten auch so schon genug Schwierigkeiten.
„Das ist auch nicht nötig. Oberhalb der Waldgrenze gibt es eine Hütte, die Unterschlupf und Schutz für Reisende bietet. Dort werden wir übernachten“, erläuterte Taren, die während der Passüberquerung kaum ein Wort gesprochen hatte. Zuviel war ihr durch den Kopf gegangen.
Was sollte nun aus Ihr werden?
Allein würde sie es nie bis nach Werfsklamm schaffen, zumal sie dann erneut über diesen Paß müßte. Verstohlen warf sie einen Seitenblick auf die Elbin, die bei den Worten Tarens nur knapp genickt hatte. Taren konnte sie genauso wenig einschätzen, wie den Rest dieser seltsamen Truppe. Nur zu Michael hatte sie seit dem Erlebnis auf dem Paß ein wenig Vertrauen gefaßt. Leider hatte sie noch immer nicht herausbekommen, was diese seltsame Gruppe vorhatte. Ihr Blick fiel auf Michael, der ihr zum Ärger von Glyfara verschmitzt zu zwinkerte.
„Die erste gute Nachricht heute“, kommentierte er Tarens Erläuterung und verschwand wieder aus ihrem Gesichtskreis. Mit einem warmen Gefühl im Magen wandte Taren ihre Aufmerksamkeit wieder der vor ihnen liegenden Wegstrecke zu. Mit Befriedigung registrierte sie, daß sie die Schneegrenze allmählich hinter sich ließen und der Wagen nun über den steinigen Pfad stetig abwärts rumpelte.
Den gefährlichsten Teil des Passes hatten sie hinter sich.
Glyfara, der durchaus bewußt war, daß der Pferdewagen für ihr weiteres Vorankommen eine deutliche Verbesserung darstellen würde, zumal sich Taren als ausgesprochen geschickte Wagenlenkerin bewiesen hatte, stellte Taren eine einschneidende Frage.
„Nachdem du jetzt auf dich allein gestellt bist, hast du nicht Lust, dich uns anzuschließen? Wir wollen nach Norden.“
„Laß mich raten, euch zieht es zufällig auch zur Bruderschaft“, tippte Taren ins Blaue. Glyfara verzog verärgert den Mund. Das Mädchen war nicht auf den Kopf gefallen, wie sie sich widerwillig eingestehen mußte.
„Zufällig“, räumte sie widerstrebend ein, „kenne ich ein paar Leute der Bruderschaft, denen ich etwas Wichtiges mitteilen muß. Vielleicht könnte ich dir dort helfen, Fuß zu fassen. Was hältst du davon?“
„Kommt darauf an, ob du mir eine Frage beantworten wirst?“
Glyfara zögerte. Sie konnte sich denken, worauf das Mädchen hinaus wollte.
„Stell deine Frage“, gab sie schließlich nach.
„Also gut, was genau wollt ihr der Bruderschaft mitteilen, und wieso wißt ihr soviel über den Wandler?“
Glyfara seufzte. „Das ist eine lange Geschichte“, fing sie an und berichtete Taren in sehr vage umrissener Weise, wer sie waren und warum sie auf dem Weg zur Bruderschaft waren.
„Du bist wirklich die Tochter des fünften Hüters, des Hohenpriesters der Elben?“. staunte Taren.
Glyfara nickte.
„Und du mußt dorthin, um deinen Vater vor dem Wandler zu warnen, der das Tor zu dem Dämonenreich gewaltsam öffnen will?“
Wieder nickte Glyfara. Indirekt war das keine Lüge. Daß der Hauptgrund jedoch der Schlüssel war, brauchte ihre potentielle neue Gefährtin ja noch nicht zu erfahren.
Taren, die diese Information erst einmal verdauen mußte, nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe. Sollte sie auf den Vorschlag eingehen, würde sie geradewegs in ein Abenteuer stolpern, das sehr gefährlich werden könnte. Immerhin hatte der Versuch des alten Mannes, die Bruderschaft zu warnen, ihm und ihrer Sippe das Leben gekostet, wie sie sich schmerzlich in Erinnerung rief. Taren hatte jedoch Zweifel. Sie war überzeugt davon, daß noch mehr als das bloße Übermitteln einer Warnung dahinter steckte. Ihr Gefühl sagte ihr, daß die Elbin etwas verschwieg. Immerhin konnte ihre Erklärung nur unzureichend begründen, warum sie von einer ganzen Gruppe begleitet wurde, die – sah man einmal von Michael ab – den Eindruck erweckte, geradewegs in den Krieg zu ziehen. Auf der anderen Seite paßte aber wiederum der harmlos wirkende Michael dazu nicht ins Bild.
Taren war verunsichert.
Ihre innere Stimme riet ihr, das Angebot auszuschlagen und sich davon zu machen. Auf der anderen Seite war sie sich aber nicht sicher, wie eine Ablehnung aufgefaßt werden würde. Der Troll machte auf sie nicht gerade den Eindruck, als ob das Wort „Verständnis“ in seinem Wortschatz vorkommen würde. Wer garantierte ihr denn, daß er und seine Gefährten nicht einfach verständnisvoll nicken und ihr dann den Wagen abnehmen würden, nachdem sie kundgetan hatte, daß sie keine Lust verspürte, in den Norden zu reisen?
Niemand!
Sie mußte die Sache also realistisch sehen. Im Prinzip hatte sie keine Wahl, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, auch keine Ahnung, was sie sonst machen sollte. Außerdem hatte sie das Gefühl, daß sie dies ihren Leuten schuldig war. Anderenfalls wären sie völlig umsonst gestorben. Wenn diese Warnung so wichtig war, sollte sie dann einfach aufgeben?
Glyfara, die spürte, daß das Mädchen neben ihr mit sich rang, entschloß sich, ihr die Entscheidung leichter zu machen.
„Wenn wir die Bruderschaft sicher mit deinem Wagen erreichen, garantiere ich dir, daß ich das Versprechen des Alten einlösen werde. Du erhältst eine Belohnung in Gold.“
Das gab den Ausschlag.
Nachdem der Handel per Handschlag besiegelt war, informierte Glyfara die Gefährten über die neue Situation, die die Nachricht positiv aufnahmen. Insbesondere die Zwerge waren von der Aussicht angetan, nicht mehr zu Fuß gehen zu müssen. Entsprechend zuversichtlich war die Stimmung, als Taren den Wagen schließlich im letzten Licht der untergehenden Sonne vor einer solide wirkenden Holzhütte zum Halten brachte.
Die Hütte bot genug Platz sowie eine offene Feuerstelle, auf der schon bald ein prasselndes Feuer für Wärme sorgte. Der Bratenduft zweier fetter Schneehasen, die das Pech gehabt hatten, der Elbin über den Weg zu laufen, sorgten dafür, daß die Mägen der Gefährten einvernehmlich knurrten. Während Taren die Hasen geschickt über dem Feuer zubereitete und mit ein paar Zutaten aus den Tiefen ihres Wagens würzte, stellte sie eine weitere positive Eigenschaft zur Schau. Sie konnte kochen.
„Damit hast du dich endgültig für unseren Club qualifiziert“, lobte Michael und erntete dafür Beifall. Lediglich Glyfara war über die Wendung der Dinge nicht so richtig glücklich. Die Vernunft sagte ihr zwar, daß sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, indem sie Taren ins Team geholt hatte, aber ihr Herz sagte ihr etwas anderes. Widerwillig mußte sie sich eingestehen, daß es ihr nicht gefiel, wie Michael auf diesen rothaarigen Wirbelwind reagierte. Sie spürte, wie sie rot anlief, als ihr klar wurde, daß sie eifersüchtig war. Doch zu ihrem Glück fiel das niemanden auf, da keiner der Gefährten den Blick von den goldbraunen Braten abwenden konnte, die Taren nun zerlegte und verteilte.
Selbst Glyfara mußte einräumen, daß Tarens Kochkunst der ihren eindeutig überlegen war. Sie hatte seit langem nicht mehr etwas derartig Schmackhaftes zwischen die Zähne bekommen. Als schließlich auch der letzte Knochen abgenagt und vom Wühler geknackt worden war, schnitt Grimmbart ein Thema an, daß ihm als Krieger auf der Seele lag.
„Kannst du mit einer Waffe umgehen?“, fragte er Taren, die dabei war, das Fell des Wühlers zu zerzausen, der das offensichtlich sehr genoß. Statt eine Antwort zu geben, beförderte Taren wie aus dem Nichts ein bösartig aussehenden Dolch hervor, den Grimmbart als erfahrener Krieger sofort als gut ausbalanciertes Wurfmesser identifizierte.
„Sieh her“, sagte sie und ließ den Dolch in einem beeindruckenden Tempo zwischen den Händen hin und her wandern, dann warf sie ihn in die Luft, wo er sich ein paar mal um seine eigene Achse drehte, bevor sie ihn geschickt wieder auffing und in den Falten ihres Gewandes wie durch Zauberhand verschwinden ließ. Michael applaudierte spontan, brach aber sofort ab, als er Grimmbarts finsteren Blick auffing. Anscheinend teilte der Zwerg Michaels Meinung ganz und gar nicht, wie seine nächsten Worte belegten.
„Schön, du kannst damit spielen“, brummte er, „aber wir müssen uns auf das Kampfgeschick unserer Gefährten verlassen können.“ Demonstrativ griff er nach seiner Streitaxt, die neben ihm an der Hüttenwand lehnte. „Was willst du im Ernstfall gegen so eine Waffe ausrichten? Glaubst du wirklich, daß dein Spielzeug dann ausreichen würde?“
Statt eine Antwort zu geben, zuckte Tarens Messerhand einmal kurz, während die andere Hand parallel in einem atemberaubenden Tempo zwei weitere Messer aus den Tiefen ihrer Kleidung zutage beförderte, die wie in einem Atemzug dem ersten Messer folgten. Die Gefährten waren vor Schreck wie erstarrt, als sie sahen, wie sich die Messer alle präzise im Halbkreis um Grimmbarts Kopf herum ins Holz der Hüttenwand bohrten, an die sich der Zwerg angelehnt hatte.
„Reicht“, brummte der Wühler beeindruckt und beantwortete damit die Frage Grimmbarts, der wütend aufsprang.
„Bist du wahnsinnig geworden? Du hättest mich beinahe umgebracht!“, brüllte er los, doch Taren winkte grinsend ab.
„Reg dich ab, ich bin Messerwerferin. Damit habe ich zum Unterhalt unserer Gruppe beigetragen, und ich habe noch nie daneben geworfen. Ich treffe sogar eine Fliege auf eine Entfernung von fünfzehn Fuß.“
„Ich bin aber keine Fliege“, brüllte Grimmbart wütend, der immer noch außer sich war, während sich die Gefährten das Grinsen kaum verkneifen konnten. Zitternd vor Wut baute er sich vor Taren auf und funkelte sie zornig an. Doch die blieb gelassen.
„Ich werde versuchen, es mir zu merken“, antwortete sie spöttisch, was Grimmbart noch wütender werden ließ. Um zu vermeiden, daß der Zwerg endgültig aus der Haut fuhr, trat Glyfara zwischen die Streitenden und sah Taren streng an.
„Also schön, du hast bewiesen, daß du mit einer Waffe umzugehen verstehst. Aber unterlasse bitte in Zukunft derartige Demonstrationen, und reize Grimmbart nicht noch einmal. Er ist ein Söldner und versteht keinen Spaß.“
„Humorlos“, bestätigte der Wühler.
„Das nächste Mal könnte er vielleicht auf die Idee kommen, im Reflex etwas zurückzuwerfen“, ergänzte Glyfara mit einem bezeichnenden Blick auf die mörderische Streitaxt in den Händen des wütenden Zwergs, worauf Taren ein wenig blaß wurde.
„Tut mir leid“, räumte sie ein wenig kleinlaut ein. „Aber ich bin in einer rauhen Umgebung aufgewachsen und gewohnt, mich mit Taten zu beweisen“, versuchte sie, ihr Handeln zu rechtfertigen.
„Dann beschränke dich zukünftig auf das Wagenlenken und Kochen“, brummte Grimmbart, „und Respekt“, fügte er widerwillig hinzu, „deine Messerkünste sind beeindruckend. Ich hoffe nur, du hast im Ernstfall auch den Mut, deinen Gegner mit einem Wurf zu töten und nicht nur zwei Zentimeter daneben zu werfen.“
„Das hoffe ich auch“, erwiderte Taren nachdenklich, die sich zu fragen begann, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war, sich diesem Trupp anzuschließen.
 
Eintausendfünfhundert Meter höher pfiff der Wind über die kalte Eiswüste des Nebelpasses. Nichts regte sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung. Nur der Mond, der immer wieder von Wolkenfetzen verdeckt wurde, die der schauerlich heulende Wind gnadenlos über den Himmel trieb, warf gelegentlich einen Blick auf die trostlose, leblose Landschaft, wo die letzten Spuren des Unglücks nach und nach barmherzig mit einem Tuch aus weißem Schnee bedeckt wurden.
Doch in der Nähe der Überreste eines Wagens, die sich trotzig aus den Fängen des ewigen Schnees erhoben, regte sich plötzlich etwas. Nach und nach kämpften sich zwei grauenhafte Klauen aus dem Schnee, gefolgt von einem Kopf, der von einer schwarzen Kapuze nur unzureichend verdeckt wurde. Obwohl der Wandler schwer mitgenommen war, lächelte er grimmig, als er im blassen Licht des Mondes die trostlose Landschaft um sich herum wahrnahm.
Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte kämpfte er sich vollends aus der eisigen Umklammerung und sank erst einmal zitternd zu Boden. So kauerte eine ganze Weile reglos im Schnee, bevor er sich einen Ruck gab und sich mühsam aufrichtete. Befriedigt sah er sich um. Seine ausgestreckten gedanklichen Fühler meldeten ihm, daß hier oben nichts mehr lebte. Sein Ziel war erreicht, wenn auch um einen hohen Preis. Doch den Verlust seiner Diener würde er bald durch eine schlagkräftige Armee ersetzen. Schon vor ein paar Tagen hatte er gespürt, daß ein neuer Riß im Gefüge bevorstand. Er würde vermutlich irgendwo weiter im Norden auftreten, zwar nur für einen kurzen Augenblick, aber der mußte genügen, um eine Elitetruppe seiner wartende Armee Einlaß in diese Welt zu gewähren. Gemeinsam würden sie die Burg der Bruderschaft einnehmen und ihre Bewohner zwingen, ihm das Geheimnis des Artefakts zu verraten, bevor er sie alle vernichten würde. Dann wäre er der Einzige, der um die Macht des Artefakts wußte, und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis es in seine Hände gelangen würde. Ein unheimliches, heiseres Lachen erfüllte die trostlose Ebene, als dem Wandler bewußt wurde, daß die verfluchte Elbin und ihre Gefährten dabei waren, ihm einen riesigen Gefallen zu tun. Dann verhallte das Lachen allmählich im gleichen Maße, wie der Wandler verblaßte. Es war an der Zeit, einen anderen Ort aufzusuchen. Als er schließlich ganz verschwunden war, blieb nur der Wind zurück, dessen Heulen klang, als würde er vor künftigem Unheil warnen.
  

Wird fortgesetzt.............

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.06.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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