Peter Schönau

Tod der Vergangenheit! Viva die Zukunft!

 

Tagebuchnotizen – ich habe sie aus jener weiter unten erwähnten „Torfkiste“ gerettet und später etwas ergänzt – zwischen ihnen und heute liegt (fast) ein Menschenleben.

Der Leser wird sich, nachdem er sie gelesen hat, vielleicht achselzuckend und mit nachsichtig herablassend geschürzten Lippen fragen: Und? Was ist die Moral von der Geschichte?

Die Vergangenheit ist tot, weil sie nicht wiederholbar ist. Aber sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Ob es uns gefällt oder nicht. Ich blicke weder mit Sehnsucht noch Nostalgie auf sie zurück. Ich liebe sie nicht und ich hasse sie nicht – ich schaue in ihren Spiegel und zwinkere ihr verständnisvoll zu.

Allen Problemen der Gegenwart und allen Zukunftsängsten zum Trotz möchte ich nicht noch einmal vor fast siebzig Jahren geboren werden, sondern: heute! Weil uns eine aufregende Zukunft bevorsteht.

 

Aufgewachsen bin ich in der Kreisstadt R.

Mein Urgroßvater war der Inhaber einer Brauereiniederlage. Er wuchtete jeden Tag die schweren Bierfässer aus Eichenholz auf das Pferdefuhrwerk, mit dem er die Kunden belieferte, und schleppte sie dann steile Kellertreppen hinunter oder lud sie auf dem Hinterhof irgendwelcher Kneipen oder Gaststätten ab. Das war eine schweißtreibende Arbeit, die Durst machte, und es heißt, dass das Pferd abends manchmal allein den Weg zurückfinden musste, während der Lenker des Fuhrwerks seinen Rausch ausschlief. Aber er war so wohlhabend, dass er bei Ausbruch des ersten Weltkriegs zehntausend Goldmark für die Kriegsanleihe geben konnte - für den Kaiser, der fortan nur noch Deutsche kannte und keine Parteien mehr, und das Vaterland. Er gehörte zu den Honoratioren der Stadt.

Mein Großvater kämpfte im ersten Weltkrieg bei der afrikanischen Schutztruppe in Deutsch-Südwest. Er war ein gut aussehender Mann, ein Schürzenjäger, und mit ihm ging die Brauerei in der großen Weltwirtschaftskrise nach dem ersten Weltkrieg pleite.

Meine Großmutter hatte er nur aufgrund eines Seitensprungs, dessen Folge die Geburt meines Vaters war, geheiratet - aus einer Art soldatischen Pflichtgefühls heraus. Die Heirat stand deswegen von Anfang an unter keinem guten Stern und endete auch schon nach wenigen Jahren mit der Scheidung. Großmutter war sehr empfänglich für okkultistische Ideen. Sie gab viel Geld für die Weissagung aus den Karten und das Herauslesen der Zukunft aus dem Bodensatz von Lindes Ersatzkaffee aus. Von der guten Rente ihres zweiten Mannes war deswegen bei ihrem Tod nichts übrig geblieben, wie die Hinterbliebenen empört feststellen mussten, als sie nach dem Begräbnis an einem heißen Sommertag darangingen, ihren Nachlass zu sichten.

Ihr Bruder Heinrich hatte große Ähnlichkeit mit ihr, äußerlich und auch inwendig; bei seiner Geburt musste Bruder Leichtfuß Pate gestanden haben. Schon als Junge war er der kleinbürgerlichen Enge seiner Familie entflohen und zur Handelsmarine gegangen, und wenn er von einer seiner großen Reisen in die Kreisstadt zurückkehrte, gab er für seine Freunde und auch die, die nur bei diesen Gelegenheiten dazu zählten, so lange Lokalrunden aus, bis von seiner Heuer nichts mehr übrig war. Unter seinen Geschwistern und im Freundeskreis hieß er darum nur "Hein Schlund". In der Zeit der großen Arbeitslosigkeit ging er nach Kanada, wo er sich den Lebensunterhalt in den Schlachthäusern und als Holzfäller verdiente. Er starb arm und allein in einem Altersheim.

Eine Steinplatte mit dem Relief des Kopfes eines jungen Mannes und der Jahreszahl 1928, die auf dem Hof meines Elternhauses steht, erinnerte noch lange an ihn.

Als Kinder gingen wir im Sommer häufig zum nahen Fluss und fingen Stichlinge und Glasaale, die wir Zuhause in ein kleines Aquarium setzten, wo sie regelmäßig schon nach kurzer Zeit eingingen.

Mit den Kindern der anderen Straßen lieferten wir uns Bandenkriege, und die Mäuse, die die Katze uns am Morgen als Jagdbeute stolz auf die Fußmatte legte, nahmen wir mit in die Schule und legten sie neben den Tafellappen, was mir, über den Sandkasten mit einem Modell der alten Festung gebeugt, zehn Schläge mit dem Zeigestock einbrachte,

die von der harten Lederhose, die ich trug, recht wirkungslos abprallten.

 

Die frühen Jahre

 

Ein Zug fuhr über die Brücke, die sich in mehr als vierzig Metern Höhe über den Kanal spannte, und ich sah sie sprechen, aber der Lärm des vorüber fahrenden Zuges verschluckte, was sie sagte.

"... Leben ist keine Theatervorstellung, die man beliebig oft wiederholen kann."

"Wolltest du das?"

"Nein, wenn ich nicht wenigstens einige Darsteller des Stücks austauschen könnte."

"An dieser Stelle war ein schmaler Sandstreifen, und am Wochenende haben wir hier manchmal gebadet. Wir sind von der Baracke gekommen. Vorweg Mama in ihrem hell geblümten Sommerkleid und Papa in seiner hellgrauen Hose mit weißem Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, und wir Kinder trotteten barfuss hinterher. Dort, wo damals die Baracken standen, sind jetzt mehrere Wohnblocks, mit netten Balkonen zur Südseite, einem Spielplatz für die Kinder und Rasen vor den Häusern. Nichts erinnert mehr an die "Flüchtlingsbaracken", sie sind Geschichte.

Holzbaracken, ein langer Flur, auf dem wir Kinder uns trafen und spielten, links und rechts des Flurs die Unterkünfte, einheitlich aus zwei Räumen bestehend. Ein Raum diente als Küche und Wohnzimmer, der andere als Schlafzimmer für die ganze Familie. In der Küche stand ein weiß emaillierter Herd, auf dem gekocht wurde und der auch als Wärmespender diente.

Am Kopfende des Flurs wohnten Ellerwalds. Er war ein knorriger Fischer aus Danzig. Die salzige Luft der Ostsee hatte tiefe Runen in sein Gesicht gegraben, in dem dunkle Augen wie zwei Leuchtfeuer glühten. Seine Frau, von uns "Tante Ellerwald" genannt, war - wie Mama immer sagte - von der feineren Art. Wir bewunderten ihre Ringe, die sie in großer Zahl an beiden Händen trug. Mit Gottfried, ihrem Sohn, war ich befreundet. Aber in dieser etwas herablassenden Art, wie sie zwischen Kindern unterschiedlichen Alters häufig üblich ist.

Am anderen Ende des Ganges wohnten Schiefelbeins. Sie hatten einen Sohn in meinem Alter. Wir Kinder standen im Sommer oft auf den Stufen der Treppe, die zu Schiefelbeins Wohnung führte, und horchten auf die Dampfsirenen der Schiffe, die auf dem Kanal in Richtung Nordsee oder Ostsee unterwegs waren. Einmal erregte ich den Zorn der Eltern, weil ich den anderen weis gemacht hatte, dass wir eine große Reise mit einem Dampfer nach Südamerika machen würden. Vater Schiefelbein wurde so wütend, dass er mich ohrfeigte.

In einem Sommer begann Papa auch damit, das alte Rettungsboot, das auf dem Hof lag, wieder seetüchtig zu machen. Es war eine mühselige Arbeit. Die Spanten waren teilweise geborsten, zwischen den Planken konnte man hindurch sehen, so groß waren die Risse. Ich sah ihm manchmal zu. Er war ein methodischer Arbeiter, der nichts überstürzte, lange überlegte und deswegen manchmal unentschlossen wirkte. Doch er besaß durchaus handwerkliches Geschick.

Im Winter machten wir Spaziergänge zum Kanal und beobachteten, wie die Schiffe sich mühselig ihren Weg durch die enge Fahrrinne bahnten, die ein Eisbrecher für sie freigemacht hatte. In unserer Baracke war es nur in der Nähe des Herdes gemütlich, und wir liefen deswegen immer dick vermummt herum, in Pullovern, die Mama selbst strickte."

"Aber morgens gab es an den Fenstern dafür noch richtige Eisblumen, die nur langsam wegtauten."

"Richtig - und inzwischen waren wir zu dritt. Die Pille gab es noch nicht, und für Papa war es vielleicht in jener Zeit das einzige Vergnügen, das obendrein - auf kurze Sicht betrachtet - nichts kostete, und Mama fügte sich. Vielleicht war es deswegen auch ein gewisses Schuldgefühl, das ihn zu unser aller Überraschung bewog, eines Tages in die Stadt zu gehen und ein Radio zu kaufen. Seitdem begleitete Musik Mama beim Kochen und Windelwickeln. Und ich konnte abends vom Schlafzimmer aus manchmal "Die Jagd nach dem Täter" mithören, eine Hörspielreihe, die einmal wöchentlich ausgestrahlt wurde und deren Erkennungsmelodie ich bald von jeder anderen Musik unterscheiden konnte.

Ich erinnere mich an den Tag, als das neue Geld eingeführt wurde. Mama zeigte uns die nagelneuen gold blinkenden Groschenstücke und die kupferroten Pfennige. Sie gab mir einen Morgen fünfzehn Pfennige und schickte mich damit zum Bäcker, um drei Brötchen zu kaufen."

‘Wir sind alle mit vierzig Mark angefangen’, damals waren wir alle gleich", hat Papa später immer wieder gesagt, mit einem bitteren Unterton in der Stimme.

Natürlich stimmte das nur teilweise. Zwar gab es die Kaste der preußischen Junker nicht mehr, zu der Papa mit mildem Spott auch gerne die Verwandten von Mama zählte, die er als "Rittergutbesitzer" bezeichnete, die jetzt versuchten, sich über das Lastenausgleichgesetz für ihren verlorenen Besitz schadlos zu halten. Doch dafür gab es die Schieber auf dem schwarzen Markt, die Bauern, die mit ihrem Pfund gut zu wuchern wussten, und natürlich die, die Grundbesitz in die neue Zeit hinübergerettet hatten. Ein Jahr später tauchte Onkel Kurt bei uns auf. Er war nach knapp vier Jahren aus russischer Gefangenschaft entlassen worden. Unsere Großeltern hatte das Kriegsende nach Schwerin verschlagen, deswegen hatte er sich einen Entlassungsschein nach dort geben lassen. Als er vor mir stand, ein junger Mann mit blassem Gesicht, aus dem die charakteristische spitze Nase der Sühs wie ein Kirchturm herausragte, wusste ich nicht, wer er war, Mama weinte."

Die Kaianlagen des Hafens waren leer, die Ausleger der Kräne ragten wie anklagend erhobene Finger in den Himmel. Ein Getreidefrachter wartete darauf, von dem großen Saugrüssel entladen zu werden, der noch tatenlos in der Luft hing und hin- und herschlingerte. In Höhe des Schiffsausrüsters hatten einige Yachten festgemacht, um sich für die Weiterfahrt zu verproviantieren. Die Schwebefähre hatte gerade abgelegt und glitt, in dicken Stahltrossen an der Eisenbahnbrücke hängend, über den Kanal.

"Als wir in das Haus der Großeltern von Papa in B'dorf zogen, passte der ganze Hausstand auf die Ladefläche eines kleinen TEMPO-Lieferwagens. Die Betten, der Kleiderschrank, das Geschirr und der neu gekaufte Küchenschrank. Wir saßen auf der offenen Ladefläche und froren.

Im Sommer bastelte Papa für mich und Gerhard zwei Fahrräder zurecht, die er aus Teilen alter Vorkriegsdrahtesel, ergänzt um einige neue Teile, die auffielen, weil sie so blinkten, zusammensetzte. Er strich den Rahmen, die Gabel und die Schutzbleche mit schwarzer Lackfarbe an. Es waren stabile, schwere Räder, die noch weitere dreißig Jahre halten konnten, wie er behauptete. Auf diesen Rädern, Mama hatte er eigens zu diesem Zweck ein nagelneues Damenfahrrad gekauft, fuhren wir auch ins Moor, um Torf zu stechen. Die Gießerei, in der Papa arbeitete, erlaubte uns, auf einer Parzelle im Moor den Torf für die Heizung im Winter zu stechen und abzufahren. Der Torf wurde in Blöcken ausgestochen, die in Diemen kunstvoll zum Trocknen aufgebaut wurden. Ab und zu sahen wir im Moor lethargische Blindschleichen und wütend zischende Kreuzottern, die sich über die heißen Sandwege schlängelten. Im rostbraunen Wasser tauchten manchmal Salamander auf, einmal schwamm in einer ausgestochenen Torfkuhle, in die Wasser nachgelaufen war, der von Schrotkugeln zerzauste Kadaver eines Fuchses. Über ihm standen große Libellen und hielten die Totenwache.

Damals warst du noch nicht geboren, und dann machte das Wirtschaftswunder den Torf zum Relikt der hungrigen Nachkriegsjahre, genauso wie Zwangseinquartierungen, Lebensmittelkarten und den schwarzen Markt. Wir heizten mit Koks und Briketts, bevor die Zentralheizung ihren Siegeszug antrat."

"Ich kann mich aber noch an die Torfkiste erinnern. Eine große, grün gestrichene Holzkiste, die Papa aus rohen Brettern gezimmert hatte. Sie stand neben dem Herd in der Küche. Ich musste den Torf in einem aus Weidenzweigen geflochtenen Korb aus dem Stall holen und die Torfkiste damit auffüllen."

"Als ich nach Südamerika ging, säuberte ich die Torfkiste gründlich und packte alles in die Kiste, was ich nicht mitnehmen konnte: Schallplatten, Bücher, die Manuskripte meiner ersten literarischen Versuche. Jahrelang stand sie im Stall, mit einem Vorhängeschloss gegen unbefugte Neugier gesichert. Bis ich sie eines Tages öffnete. Einesteils kam ich mir wie ein Schatzsucher vor, ich fühlte mich aber auch wie ein Eindringling: der Mann, der von den Nachbarn beauftragt wird, während ihrer Abwesenheit die Blumen zu gießen, und mit dem unter der Fußmatte deponierten Schlüssel die Tür öffnet, um ein gleichzeitig bekanntes und doch fremdes, feindseliges Haus zu betreten. Die Bücher waren feucht, die Seiten wiesen Stockflecken auf. Meine literarischen Jugendsünden waren weit weg, erfahrungslos um das eigene Ich kreisend; Narziß warf einen Stein ins Wasser und studierte die Auswirkungen der Wellen auf sein Spiegelbild.

Ich habe gestern den Platz gesucht, wo auf dem Hof früher die Pumpe stand. Es war eine laubgrün gestrichene Pumpe aus Gusseisen, ihr lang gebogener Schwengel quietschte laut, wenn man Wasser aus dem Schacht pumpte. Das Wasser war kühl und klar, im Sommer zogen wir es dem Wasser aus der Leitung vor. In der Küche hing ein blank geputztes Zinnmaß, das wir unter dem Strahl der Pumpe mit Wasser füllten. Als der Griff des Bechers irgendwann abbrach, schickte Opa mich zum Schmied in der Dorfstraße, der ihn wieder anlötete. Ich weiß, dass wir einmal den Deckel auf dem gemauerten Schacht der Pumpe weg schoben, und wir hatten Angst vor den großen Spinnen, die regungslos auf den Steinen kauerten, und auf dem Boden saßen einige große, hässliche Kröten."

"Und wenn es regnete, seid ihr in den Stall gegangen oder habt euch in der Höhle verkrochen, die ihr aus Brettern und Pappkartons gebaut hattet."

"Der Stall war ein langer Gang, links und rechts nicht mehr benutzte Schweinebuchten, im vorderen Teil war der Hühnerstall mit dem Auslauf für die Hühner. Auf dem Gang stand auch die große Korntruhe mit dem Hühnerfutter, auf der sogar am Tage die Mäuse hoch- und nieder liefen, um die verschütteten Körner zu fressen."

"Der Kaufmann an der Ecke, der Milchmann und der Bäcker gegenüber." "Sie gibt es schon lange nicht mehr. Der Kaufmann hieß Frerichs. Wir sammelten leere Flaschen und Marmeladengläser, die wir zu ihm brachten, und für jedes Glas - mit Deckel - und jede Flasche bekamen wir zehn Pfennig. Hatten wir sechzig Pfennig zusammen, konnten wir ins Kino gehen.

Fanden wir nicht genügend Gläser oder Flaschen, sammelten wir auch Alteisen, das wir im Blockwagen zum Schrotthändler fuhren, der, nicht weit von unserer Straße entfernt, am Bahnhof seinen Handel betrieb. Dafür, dass wir im Sommer Stachelbeeren, Johannisbeeren und Kirschen pflückten und Erbsen und Bohnen "pulten", bekamen wir nichts - das war selbstverständlich, schließlich waren Sommerferien, und eine Urlaubsreise konnten wir uns ohnehin nicht leisten. Nur für das Unkrautzupfen zwischen den Steinen, mit denen der Hof gepflastert war, und am Rinnstein an der Straße vor dem Haus gab Opa uns hin und wieder zwei Mark."

"Starb Oma nicht in einem dieser heißen Sommer, von denen ihr sagt, dass es sie heute nicht mehr gibt?"

"Ja, sie hatte einen Schlaganfall erlitten, danach lebte sie noch drei Wochen. Sie konnte nicht mehr sprechen, als ich vor ihrem Bett stand. Doch sie erkannte mich. Ich sah es in ihren hellblauen Augen. Als sie

gestorben war, wollte ich sie noch einmal sehen, aber Papa erlaubte es nicht.

Bevor wir nach B'dorf zogen, kam ich in den Ferien häufig auf Besuch in die Meiereistraße. Vor dem Haus standen damals noch drei Lebensbäume, und die Fassade bedeckte giftiggrüner Efeu wie ein dicker Teppich, in dem die Spatzen mit Vorliebe ihre Nester bauten, bis hinauf zur Dachrinne. Oma kochte mir morgens immer ein Zuckerei, sie verrührte das Eigelb in Linde's Ersatzkaffee und tat zwei Teelöffel Zucker hinzu. An heißen Tagen gab es häufig angedickte saure Milch und abends exotische Gerichte wie mit Eigelb eingerührte Kürbissuppe und Buchweizengrütze, die einzige Speise, die ich bis heute nur mit Widerwillen esse."

"Erzähl mir etwas von Opa."

"Opa habe ich immer in seinem blauweiß gestreiften Hemd und der blauen Schürze in Erinnerung, die er trug, wenn er an seiner Werkbank im Stall arbeitete. Er war von Beruf Küffner. Als er die Gießerei verließ, beschäftigte er sich mit seinen Schweinen, den Hühnern, dem großen Garten und dem Haus, wo es immer irgendetwas zu tun gab. Wurden die Stare eine Plage für die Kirschen und Erdbeeren und nahmen die Mäuse und Ratten im Stall überhand, bastelte er auch einfallsreiche Vogel- und Mäusefallen. Er war ein Patriarch, der von seinen sieben Kindern keinen Widerspruch duldete, autoritär, aufgewachsen im zweiten Kaiserreich; als der erste Weltkrieg ausbrach, war er schon dreiundvierzig Jahre alt. Ein nüchterner Mensch, ohne Träume. Er lachte nie laut, sondern schmunzelte nur. Er rauchte Zigarren, aber nur zu Festlichkeiten. Alkohol war er nicht gewöhnt, und wenn er an Geburtstagen zwei Gläser Klaren trank, wurde er gegen seine Gewohnheit redselig wie die Klatschweiber in der Nachbarschaft, die er deswegen auch mied wie der Teufel das Weihwasser. Omas Geburtstag war im August, und weil die gute Stube für die zahlreichen Gäste zu klein war, wurden wir Kinder in die Laube im Garten verbannt. Sie war aus Holz gezimmert, in der Mitte stand ein Tisch, um den herum Sitzbänke aufgestellt waren. Der Küchentisch bog sich unter zweistöckigen Sahnetorten, Topfkuchen und Bienenstich. Die Torten hatte Oma mit Unterstützung einer Nachbarin gebacken. Die Sahne schmeckte süß, und für die goldgelben, butterweichen Tortenböden waren einige Dutzend Eier aufgebraucht worden.

Geburtstage waren, nach Weihnachten und Ostern, das dritte festliche  Ereignis des Jahres. Ich glaube, sie sind nie im Kino gewesen, das war in ihren Augen etwas für die Jungen. Ein Radio hatten sie schon sehr früh besessen, einen kleinen schwarzen Volksempfänger. Doch Fernsehen haben sie beide nicht mehr erlebt. Nach einem Sturz von der Treppe erblindete Opa, als er dreiundachtzig Jahre alt war. Danach lebte er noch zwölf Jahre."

"Und ihre Kinder?"

"Tante Agnes, die Zeit ihres Lebens aussah wie eine Kopie der frommen Helene von Wilhelm Busch und vom Familienrat dazu bestimmte wurde, Opa nach Omas Tod den Haushalt zu führen, kehrte nach seinem Tod nach Hamburg zurück und starb dort, auch sie wurde - wie ihr Vater - fünfundneunzig Jahre alt. "Hein Schlund", der in der Weltwirtschaftskrise nach Amerika ausgewanderte Sohn, starb vor kurzem einsam und arm in einem Altersheim in Kanada. Willi, der Studienrat an der Gewerbeschule in Hamburg war, ist ebenfalls seit einigen Jahren tot, auch Tante Dora, Tante Emma und Oma Ramm, die Frau, mit der Papas Vater in erster Ehe verheiratet war. Nur Tante "Mischi", die in eine Bauernfamilie eingeheiratet hatte, lebt noch."

Über der Eisenbahnbrücke zogen blauschwarze Wolken hoch, die ersten Regentropfen wirbelten den Straßenstaub hoch und bildeten kleine Krater auf der Wasseroberfläche, die sich ausbreiteten und verebbten, als hätte jemand einen Stein ins Wasser geworfen. Blitze gingen über den gemauerten Widerlagern an beiden Ufern des Kanals nieder, auf denen sich früher die alte Drehbrücke gedreht hatte. Der Kellner im Conventgarten trug noch schnell das Geschirr von den Tischen auf der Veranda ab und raffte eilig die Tischdecken zusammen. Und das andere Kanalufer verschwand hinter einer Regenwand.

"Ich habe das Gefühl, diese Stadt lebt unter einer Käseglocke, ein Lesezeichen in einem Buch, das keiner mehr liest, ein Seezeichen auf einem Schifffahrtsweg, der seine Bedeutung verloren hat und das irgendeine Bürokratie vergessen hat abzubauen."

"Sie ist bigott wie alle Kleinstädte. Jeder behandelt hier seine Unterwäsche noch wie "Queen Victoria's Secret". Und jeder der

Eingeweihten kennt die kleinen und großen Laster der anderen. Natürlich schweigen sie darüber, schließlich haben alle irgendeine Leiche im Keller versteckt. Manchmal kommt etwas heraus, wie Eiter, wenn ein Geschwür aufgeschnitten wird, und jemand hängt sich auf oder wird als Wasserleiche angespült. Nur ist das kein Sieg der Moral, sondern die zu Bigotterie pervertierte Moral verlangt diese Konsequenz."

"Und die großen Skandale, die anderswo die Grundfesten eines Gemeinwesens zum Einsturz bringen?"

"Wie alles in dieser Stadt, haben auch ihre Skandale nur Mittelmaß. Doch in Ermangelung des wahrhaft Bösen, Satanischen werden sie ausgewalzt wie ein Kuchenteig und wiedergekaut, bis ihre Ingredienzien zur Unkenntlichkeit verkommen sind."

"Bist du nicht hier zur Schule gegangen?"

"Ja, die ersten zwei Jahre, bis zu unserem Umzug nach B'dorf. Ich erinnere mich noch an das erste Vogelschießen im Schützengrund mit Sackhüpfen und Eierlaufen. Nachdem wir in B'dorf wohnten, habe ich keinen meiner damaligen Klassenkameraden mehr wiedergesehen. Die Grund- und Hauptschule in B'dorf, damals hieß sie schlicht Volksschule, war eine alte Dorfschule. In der Mitte des Klassenraums war ein Modell der alten Festung in einem Sandkasten aufgebaut. Schien unserem Klassenlehrer eine Bestrafung durch einige Schläge mit dem Zeigestock geboten, musste der Delinquent sich über den Rand des Kastens beugen und die Schläge in dieser Haltung über sich ergehen lassen. Allerdings fielen die Schläge in der Regel milde aus, vielfach noch gedämpft durch die Lederhosen, die damals in Mode waren und die viele von uns im Sommer trugen. Damals war die Welt eben noch in Ordnung, und wer revolutionäre Neuerungen im Unterricht einführen wollte, sich zum Beispiel erkühnte, mit links statt mit rechts zu schreiben, den traf die volle Strenge des Gesetzes in Form eines Schlages mit dem Lineal auf den Handrücken. Linkshänder waren die Ausnahme von der Regel und allein deswegen schon ein subversives Element des Schulalltags.

Von Koedukation war natürlich noch keine Rede, aber einmal im Jahr fand sie dennoch statt, am Tage des Vogelschießens, das in diesen Jahren im Spitzkrug gefeiert wurde. Hier kamen die Mädchen- und Jungenklassen zusammen; es wurde sogar mit verteilten Geschlechtern getanzt. Allerdings war unser Interesse damals für diese Form des Umgangs der Geschlechter miteinander noch nicht sonderlich ausgeprägt. Die Mädchen saßen auf einer Seite des Saals, dessen Ende ein riesiger Kanonenofen zierte, und die Jungen auf der andere Seite. Als Damenwahl angesagt wurde, stahl ich mich davon.

Sicher waren das die ersten Erscheinungen unsozialen Verhaltens oder die Vorboten sexueller Verklemmung, wobei das aus Sicht der Gesellschaft beides gleich schlimm war. Ich erinnerte mich nicht an sie, aber Mama zeigte mir einmal ein altes Foto, auf dem ich mit einem Mädchen im Sandkasten spiele. Meine erste Freundin; ich habe sie nie wiedergesehen.

 

Der Fluss und die Gießerei

 

Der Fluss und die Gießerei bildeten hundertfünfzig Jahre eine Einheit, zusammen mit dem schwefligen Gestank, der bei Winden aus südlicher Richtung über das Dorf zog, und den schwarzen Russpartikeln, die sich auf die Wäsche setzten, die die Frauen im Garten zum Trocknen aufgehängt hatten, und in den Lack der in der Nähe geparkten Autos Löcher fraßen. Auf alten Stichen füllen die rauchenden Schornsteine der Gießerei den Vordergrund, dahinter windet sich der Fluss, ganz im Hintergrund sieht man den Turm der Kirche der auf dem anderen Ufer liegenden Kreisstadt und den rechten Bildrand nehmen am "Holzplatz" vertäute Segelschiffe ein, die Holz aus Schweden oder dem Baltikum entladen.

Hundertfünfzig Jahre waren die rauchenden Schornsteine das gleichnishafte Bild für Prosperität, eine Wirtschaft ohne Grenzen und Arbeit - nicht für alle - aber doch für das ganze Dorf und seinen Einzugsbereich. Die gusseisernen Badewannen des Unternehmens gingen in alle Welt. Als nach einer fast hundertfünfzigjährigen Symbiose zwischen Dorf und Gießerei nach dem Aussterben der patriarchalisch herrschenden Unternehmerdynastie der Konkurs kam, ächzte und schüttelte sich das Dorf unter diesem Schicksalsschlag wie ein Schiff, das aus einem tiefen Wellental zitternd wieder auftaucht, nachdem es für Sekunden den Anschein hatte, dass es unter dem tonnenschweren Gewicht der Wassermassen begraben werden würde.

Ein Aufatmen ging durch die Region, fast körperlich fühlbar wie ein Windstoß, als die kapitalistischen Mechanismen im Räderwerk zwischen Geld, Banken und Politik noch einmal funktionierten und ein neuer Besitzer die Gießerei übernahm. Aber der Siegeszug der Ökologie machte den rauchenden Schornsteinen durch den Einbau von Filtern und einer Fluorgaswaschanlage trotzdem den Garaus.

"Der "Schuttberg" der Gießerei war bis zu dieser Stelle vorgerückt, wo sich heute Hallen und Büros befinden. Unter sich begraben hatte er das alte Bootshaus, wo unser erstes Segelboot seinen Liegeplatz hatte. Der Verein fand seine neue Heimat gegenüber der Werft, wo das Dröhnen der Niethämmer die Luft erfüllte, bis das Schweißen das Nieten eines Tages ablöste. Aber auch dieser Standort war nicht von Dauer. Heute befindet sich an der "Enge" ein richtiger Yachthafen.

Papa nahm uns Älteste mit, wenn er den Fluss bis zum Kanal hoch kreuzte und wir mit achterlichem Wind und hoher Bugwelle durch die "Ahlmannallee", eine Route, die auf einer Seite von Telegrafenmasten und auf der anderen durch die Anlegedalben für die Schiffe, die in der Weiche auf die großen Pötte warten mussten, begrenzt war, zurück zu unserem Liegeplatz liefen.

Manchmal haben wir auch vom Boot aus geangelt. Wir standen nachts auf, um noch vor Sonnenaufgang an unserem Angelplatz zu sein. Irgendjemand hatte behauptet, dass die Fische dann besonders gut beißen.

Wenn wir über Nacht blieben, legten wir Aalschnüre aus. Morgens prüften wir aufgeregt unseren Fang. Ab und zu hatten wir Glück, und einige schöne Aale hingen am Haken. Meistens aber fingen wir Plötze, auf die wir wegen der vielen Gräten keinen großen Wert legten, hin und wieder Barsche und ganz selten einen Zander. Zu Hause kam regelmäßig der weniger spannende Teil des Abenteuers, die Fische mussten entschuppt und ausgenommen werden; die Aale zogen wir mehrmals durch Sand, den wir als Scheuermittel benutzten, um sie zu enthäuten.

Als ich größer wurde, verlor ich das Interesse am Angeln, und auch Papa ging irgendwann nicht mehr Angeln.

In dem Graben, der dort in den Fluss mündete, wo seit einigen Jahren nur noch eine Brandruine an das ehemalige Gartenlokal erinnert, haben wir Stichlinge gefangen, die wir Zuhause in ein kleines Aquarium setzten. Und im seichten Flusswasser machten wir auf Glasaale Jagd.

Direkt am Fluss führte der alte Treidelweg entlang, der an der Biegung, wo der Fluss im Audorfer See endete, in den "Heringsweg" überging." "Heringsweg?"

"Er wurde so genannt, weil er so schmal wie ein dünner Hering war.

Ein Baum bestandener Hang mit Brombeergestrüpp und schmalen Pfaden, der vom Fluss zu den Häusern anstieg, war die grüne Lunge des Dorfs: die Hollerschen Anlagen, die ihren Namen dem Gründer der Gießerei verdankten."

"Ich kann mich noch an die "Liebesbuche" erinnern, die Pinwand für die austauschbaren Bekenntnisse von Generationen junger Töchter aus gutem Hause und Schülerinnen mit Zöpfen, Jeanne d'Arc-Frisur und Petticoats."

"Am Rande der Anlagen stand ein großes Hünengrab, und auf dem angrenzenden Feld fanden wir Schaber und Flintsteinkerne aus der Zeit der ersten Besiedlung nach der Eiszeit."

 

Die Schornsteine rauchen nicht mehr, die Gießerei hat zum zweiten Mal Konkurs angemeldet, nur den Fluss mit seinen Windungen und Biegungen und dem Schilf, aus dessen Rohr wir Pfeile für unsere Flitzbögen schnitzten, würden die Siedler und Jäger aus der Steinzeit wiedererkennen.

 

Wir lernen nicht für die Schule

 

Es war Mittag, die fünfte Unterrichtsstunde musste gerade zu Ende gegangen sein. Die Schwingtüren öffneten sich, lachend, schubsend, drängelnd und stoßend verließen Hunderte von Mädchen und Jungen, zu Fuß, das Fahrrad oder das Mofa schiebend, wie jeden Tag in der Woche von Montag bis Freitag den Unterricht, der sie dem ungewissen Schicksal von Arbeitslosigkeit, Darwinschem Ausleseprozess und der anstrengenden Verwaltung von Familie und Freizeit ein kleines Stück näher gebracht hatte.

"Man hatte die Schule nach einem ehemaligen Bürgermeister der Stadt benannt. Den Westflügel des rotbraunen Klinkergebäudes schmückten einige Skulpturen aus grauem Sandstein. Ich weiß heute nicht mehr, wen sie darstellen sollten, und ob es Männer- oder Frauengestalten waren. Die Klassenräume atmeten diesen unverwechselbaren Geruch aus Kreide, Staub, Pausenbrot und den Ausdünstungen der Schüler, die hier den Vormittag verbrachten."

"Und Eure Lehrer waren wahrscheinlich noch Dinosaurier aus der Vorkriegszeit".

"Nur teilweise. Der jüngste Lehrer, der uns unterrichtete, war nicht älter als fünfunddreißig und gehörte einem der sogenannten weißen Jahrgänge an. Doch sie waren weniger schabloniert als heute, sie waren kantenreicher. Sie zeigten ihre Gefühle; wenn wir sie verletzt hatten, ließen sie sich auch zu physischer Gewalt hinreißen, und hin und wieder wurden Ohrfeigen ausgeteilt. Aber das war unser kalkuliertes Risiko, wir konnten sie in solchen Fällen manchmal sogar verstehen. Wenn wir nach außen auch so taten, als empfanden wir ein solches Verhalten als schreiende Ungerechtigkeit.

Es gab Fälle, in denen der Kampf unentschieden ausging, wie der zwischen "Teddy Cook" und einem meiner Klassenkameraden. "Teddy Cook", seines Zeichens Erdkunde- und Englischlehrer, befand sich in einem Zustand äußerster Empörung. Jemand hatte am Kartenständer, der hinter ihm stand, manipuliert; der Galgen, an dem die Landkarte des Vereinigten Königreichs hing, wackelte gefährlich, und schließlich verlor der Kartenständer sein prekäres Gleichgewicht und schlug krachend auf den Boden. Jemand schrie noch warnend " England wackelt", aber da war es bereits zu spät. "Teddy Cook", auf der Suche nach einem Schuldigen, war von der fixen Idee besessen, dass dieser Jemand der Schuldige sein musste. Er näherte sich dem Objekt seiner Rache in der ersten Bankreihe und kreischte wütend "Kühl, aufstehen!" Nun muss man wissen, dass der Schüler Kühl mindestens einen Kopf größer war als "Teddy Cook" und Hände hatte wie unser Dorfschmied. Lehrer und Schüler standen sich einen Augenblick gegenüber, "Teddy Cook" presste mit einer verzweifelten Geste seine linke Hand auf seinen rechten Arm, wie um diesen von seinem eigentlichen Vorhaben abzuhalten, und sagte schließlich nur: "Kühl, nicht England, die Landkarte hat gewackelt. Setzen."

Der Werklehrer unterrichtete auch in Religion. Als Werklehrer war "Hein Gips", wie er allgemein genannt wurde, durchaus ein nüchtern den Werkstoff, ob Holz oder Metall, bearbeitender Handwerker. Als Religionslehrer hatte er eine Vorliebe für den Okkultismus und berichtete von spiritistischen Sitzungen und Astralleibern, die bestimmt nicht auf dem Lehrplan standen.

Außerdem diskutierten wir darüber, ob die armen Schwarzen, die Japaner und Chinesen nur deswegen nicht in den Himmel kommen würden, weil sie die christliche Lehre nicht kennengelernt hatten.

Unser Mathematiklehrer war, wie es seinem Fach entsprach, gegen derartigen "Unsinn", wie er sich ausdrückte, gefeit.

Über seinen Kollegen milde lächelnd, saß er in seinen Knickerbockern auf einer Kante des Lehrerpults und kratzte sich selbstvergessen an den Hoden.

Unsere Zeichenlehrerin trug den Spitznamen "Eule", wahrscheinlich wegen ihres Brillengestells, das ihrem Gesicht etwas Eulenhaftes verlieh. Wir hatten einen Morgen vor Beginn des Zeichenunterrichts Karbidstücke, die wir am Hafen aufgelesen hatten, in den mit Wasser gefüllten Eimer zum Auswaschen der Pinsel geworfen. Das Wasser brodelte und zischte, und ein furchtbarer Gestank breitete sich aus. Einige Schüler klagten über Atembeschwerden, andere über Brechreiz; es herrschte allgemeine Verwirrung. "Eule" rief: "Fenster öffnen!" und stürzte weinend aus dem Klassenzimmer, um den Rektor zu holen."

"Aber ich nehme an, ihr habt trotzdem etwas "für's Leben gelernt."

"Oh ja, natürlich.

Wir haben gelernt und gebüffelt wie die "Neger". Aber wir sind damals auch zum kritischen Denken erzogen worden. Im Sinne eines liberalen Freimaurertums, dem wenig heilig und nichts unantastbar war. Unsere Lehrer, die alten mehr als die jungen, waren skeptische Demokraten. Nach zwölf Jahren Diktatur und Holocaust, gefolgt von vier Jahren Entnazifizierung, blickten manche mit gemischten Gefühlen auf die zweite Republik, dessen ersten Präsidenten sie sich enger verbunden fühlten als ihrem ersten Kanzler.

Doch als der "Alte" unsere Stadt besuchte, war das für die Provinz das wichtigste Ereignis der letzten Jahre. Der historische Paradeplatz, auf dem er sprach, war schwarz von Menschen. Der Rektor hatte angeordnet, dass alle Klassen mit ihrem Klassenlehrer an der Kundgebung teilnahmen. Wir marschierten geschlossen zum Paradeplatz, um den Kanzler zu hören, denn, wie wir auch unsere Hälse reckten, nur mit Mühe konnten wir einen kurzen Blick auf ihn erhaschen, als er in seinen schwarzen Mercedes stieg und den Menschen, die das Auto mit dem Bundesstander mühsam vor sich herschob wie ein Schiff eine große Bugwelle, durch die Heckscheibe noch einmal zuwinkte. Dieser Tag ging als historisches Ereignis in die Stadtgeschichte ein.

Den Platz gibt es noch, er ist erst vor wenigen Jahren restauriert worden; auch die zweite Republik gibt es noch, und sie reicht sogar wieder bis Oder und Neiße, was unser seit einigen Jahren  pensionierter Klassenlehrer wahrscheinlich mit dem Zitat aus Goethes "Faust" kommentieren würde: "Nur wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.

Und er würde mich fragen, ob ich glaubte, dass Goethe "immer" als Vorbedingung für die Erlösung angesehen hatte."

 

Lehrjahre sind keine Herrenjahre

 

Wenn der Wind ungünstig stand, legte sich ein stechend süßer Geruch aus Blut und Urin auf die Siedlung, der in Afrika die Schakale anlockt. Und die jeden Morgen auf vielen Viehtransportern angelieferten Schweine nahmen diesen Geruch auf, sie drängten sich auf der Ladeplattform enger zusammen, als suchten sie Schutz gegen das nahe Ende im engen Schulterschluss mit ihren Artgenossen. Ihre grunzenden Falsettstimmen wirkten noch einige Töne höher als sonst, wie das Quieken der Neugeborenen. Sie ahnten den Stromstoß, der sie vom Leben in den Tod beförderte, den Mann in blauweiß gestreifter Arbeitskleidung, Gummistiefeln an den Füßen und weißer Mütze auf dem Kopf, der sie an den Hinterläufen an den Haken hängte, und den nächsten in der Kette, der ihnen mit Solinger Stahl die Kehle durchschnitt, damit das Blut auslief. Die Kopfschlachter trennten mit einem Schlag den Kopf vom Rumpf, der in zwei Hälften gespalten wurde, die von der über Kopf installierten Förderschnecke in das Kühlhaus transportiert wurden. Auf einem Nebenstrang wurde das blutige Geschlinge, die Innereien, zum Wiegen befördert.

"Ich hatte viele Chefs, als ich anfing. Mein oberster Chef allerdings war der Hauptgesellschafter des Unternehmens, einer dieser dynamischen, höhensonnengebräunten Mittdreißiger, die die Unsitte haben, ihren Mitarbeitern vorzugsweise vom Autotelefon aus Anweisungen zu erteilen. Er hatte eine ähnliche Angewohnheit wie jener Kommandant des amerikanischen Zerstörers in dem Buch "Die Caine war ihr Schicksal", dessen rechte Hand in der Tasche seines Jacketts ständig mit kleinen Glasmarmeln - oder waren es Metallkugeln? - spielte. Bei ihm waren es Münzen, Pfennigstücke oder Groschenstücke, die er in seiner rechten Jackettasche gegeneinander rieb, als wollte er Funken aus ihnen schlagen. Den meisten Umgang hatte ich mit unserem Einkäufer und unserer Buchhalterin. Lehrte er mich, unsere täglichen Schlachtopfer entsprechend der Marktnotierungen für die verschiedenen Qualitäten günstig einzukaufen, führte sie mich in die Welt der doppelten Buchführung ein und versuchte, mir für mein weiteres Leben begreiflich zu machen, dass die Differenz zwischen Soll und Haben, Aktiva und Passiva, für einen guten Kaufmann nur der Gewinn sein darf, und je reichlicher dieser anfiel, um so besser.

Unser Einkäufer war ein von Nierenkoliken geplagter Choleriker. Sein von kleinen roten Äderchen durchzogenes Gesicht lief blaurot an, wenn einer seiner regelmäßigen Wutanfälle sich ankündigte. Und in seiner Wortwahl blieb er in solchen Fällen auch gegenüber der Damenwelt seinem jahrzehntelangen engen Kontakt mit den Viehhändlern treu, so dass Dispute zwischen ihm und unserer Buchhalterin regelmäßig mit einem Tränenausbruch letzterer endeten. Er verschwand dann, ob solcher Schwäche verächtlich mit den Achseln zuckend, in seinem Büro. Selten habe ich ihn lachen sehen, eigentlich nur dann, wenn er einen unserer Viehaufkäufer noch mehr als üblich über den Tisch gezogen hatte.

Für die Viehhändler, die jeden Morgen in unser Büro kamen, um ihre Abrechnung und ihren Scheck entgegenzunehmen, standen immer mehrere Flaschen Dornkat bereit, den sie - das jedenfalls war das Credo unseres Einkäufers - am liebsten tranken."

"Und jeden Freitag brachtest du einen Schweinebraten nach Hause."

"Das Deputat zu meinem Lohn.

Als das hunderttausendste Schwein geschlachtet wurde, mussten wir alle in frisch gestärkten weißen Kitteln hinter einem silbernen Lorbeerkranz mit der Zahl 100 000 in der Mitte Aufstellung nehmen, und ein Fotograf machte Fotos von uns. Abends wurde das Ereignis im Büro mit gebratenen Hähnchen und Sekt gefeiert, meine Schreibtischunterlage roch noch einige Monate nach Sekt. Ich musste am gleichen Abend eine Tasse Blut trinken, der Initiierungsritus, dem jeder Neue sich unterziehen musste. Das Blut enthielt Gerinnungsmittel, es klebte am Gaumen und roch wie die Blutpfütze, die ich nach einem Verkehrsunfall auf der Straße gesehen hatte. Es schmeckte anders als alles, was ich jemals vorher oder danach getrunken oder gegessen habe. Das Ritual hatte entschieden etwas Vampirisches an sich. Vielleicht hätte ich in den Spiegel schauen sollen, in dem Vampire sich bekanntlich nicht sehen können, um meine wahre Identität zu entdecken.

Damals verliebte ich mich auch in unsere Telefonistin. Sie war für mich allerdings unerreichbar. Blond, kein Dutzendgesicht, mit einer zierlichen Stupsnase, immer lächelnd und freundlich, aber wesentlich älter als ich und bereits verlobt."

"Du hast dich immer in Frauen verliebt, die schon verheiratet waren oder bereits eine feste Beziehung hatten."

"Vielleicht wollte ich auch nur, dass sie für mich unerreichbar blieben, weil ich eigentlich Angst vor ihnen hatte.

Doch sie heiratete bald, kündigte und verschwand aus meinem Leben." "Aber in deiner Buchhalterin hattest du eine Art Übermutter gefunden." "Wen sie nicht sonderlich in ihr Herz geschlossen hatte, den ließ sie es spüren. Sie sah ihre Aufgabe darin, mich für das Berufsleben zu erziehen, und versuchte es mit Zuckerbrot und Peitsche, nüchternem Lob und überschwänglichem Tadel. Trotz unseres Altersunterschiedes bestand so etwas wie eine Seelenverwandtschaft zwischen uns: beide liebten wir klassische Musik und trugen die Nase immer sehr hoch, wie Mama zu sagen pflegte, das heißt, wir befanden uns im Stande des geistigen Hochmuts und sahen auf den "Plebs" um uns herum herab." 

Vielleicht war das nur ein Schutzmechanismus gegen eure "viehische" Umgebung."

"Vielleicht. Tagsüber rechnete ich das Plus oder Minus des Vortages aus, abends stand ich an der Waage und notierte die Verladegewichte der Schweinehälften, und nachts träumte ich von "ausgedrehten" oder "flachen" Schweineschinken.

Manchmal erschienen mir die Schlachter wie die Inkarnation von Dr. Jekyll und Mr. Hyde: tagsüber waren sie Mr. Hyde und nach Feierabend Dr. Jekyll.”

"Du übertreibst. Schlachthöfe sind schließlich eine Notwendigkeit unserer täglichen Diät."

"Trotzdem sind sie ein Reservat, in dem Menschen legal jeden Tag hundertfach die Lust am Töten verspüren dürfen, wie andere die Erektion, wenn sie ihren Körper gegen eine schöne Frau pressen."

"C'est la vie. Das soll heißen, es ist eine interessante Hypothese."

"In meiner praktischen Prüfung musste ich ein Schwein zerlegen. Ich muss zugeben, dass ich etwas stolz darauf war; ich fühlte mich wie ein Pathologe in der Gerichtsmedizin, der eine interessante Leiche obduziert."

"Das ist pervers."

"Ah, und wenn schon...

Aber du hast recht, wir sollten an diesem Abend nicht nur über Schweine und Leichen reden."

Der Fäkaliengeruch der entleerten Mägen und Därme, der bittere Gestank nach Urin und der süßliche Geruch von Blut wurden schwächer, und das Quieken der Schweine war bald nicht mehr zu hören.

 

Jeder hat den Marschallstab im Tornister

 

Über der Tirpitzmole wölbte sich ein bleigrauer Himmel. Eingehüllt in einen Kokon aus feinem Nieselregen, waren die Konturen des einsamen Zerstörers der Lütjens-Klasse nur wie unter einem Tarnnetz zu erkennen. Der Regen verstümmelte die Lautsprecherdurchsagen, und die Abluftgebläse drückten einen Geruch aus Brot und dampfender Suppe außenbords, den der Regen nach einigen Metern auffraß. Der Posten vor dem Schiff stand regungslos und frierend in seinem Häuschen. Ein Offizier ging an Bord und hob kurz die Hand zum Gruß Richtung Flaggenstock.

"Ich traf an einem winterlichen Aprilmorgen in der Garnisonsstadt G. ein. Busse brachten uns in die Kaserne. Von da ab war ich auf einem anderen Planeten: Crew IV/64 - 3. MausBat. - 2. Kompanie - 3. Zug hießen meine neuen Koordinaten.

Die älteren Offiziere und Unteroffiziere hatten alle noch Fronterfahrung, irgendwie respektierten wir sie deswegen mehr als die jungen "Milchreisbubis" von Zugoffizieren. Von vielen erzählte man, dass sie U-Boot gefahren waren oder auf einem Dickschiff.

Die Abkapselung von der Außenwelt trug dazu bei, dass wir uns für etwas besonderes hielten, nicht Fleisch von ihrem Fleisch zu sein, sondern die Speerspitze gegen den kommunistischen Antichrist, die Guten, die gegen die Bösen kämpften.

Am Morgen unserer Vereidigung besuchten wir den Gottesdienst, und in der Kirche fühlte ich mich wie in der Kaserne: die Gralshüter waren unter sich. Abends auf dem Marktplatz, die Fackeln vor ernsten, jungen Gesichtern; wie die Rituale der Beschwörungen sich gleichen.

Kehrten wir vom Drill ins Gelände zurück, marschierten wir singend durch die engen Straßen der Altstadt: "Schwer mit den Schätzen des Orients beladen, ziehen die Schiffe am Horizont dahin ..."

Und vor den Geschäften und Auslagen standen Passanten, Frauen und Kinder, die winkten - wir waren eine in vielen Jahrhunderten zusammengeschweißte konservative Familie, ein Blut- und Bodenbündnis.

Die schwersten Verbrechen waren Schwulsein und Kameradendiebstahl.

Ich glaube nicht, dass wir wirklich überzeugte Demokraten waren, aber wir hatten einen Eid geschworen, und deswegen waren wir Demokraten."

"Konservatives Bollwerk gegen den Weltkommunismus zu sein, das war die Klammer, die euch zusammenschweißte, euer größter gemeinsamer Nenner?"

"Vielleicht - auf jeden Fall war viel zu viel konservatives Blut unter uns, das das Vordringen demokratischen Gedankengutes sicher mehr hemmte denn beförderte: All die von Zitzewitz, von Krummnow, Fritsch, von Manthey, Lindemann - alter preußischer Adel und Söhne hoher Offiziere der Kriegsmarine. Sie hätten eher die "Heilige Allianz" von Metternich aus der Taufe gehoben als in der Frankfurter Paulskirche gegen den obrigkeitsstaatlichen Stachel gelöckt.

Mit "Gruß an Kiel" wurden wir an einem nasskalten Novembermorgen von einem dicht gedrängten Spalier winkender Familien, Freunde und

Freundinnen verabschiedet."

"Wir standen am Kanalufer und haben dir vom Conventgarten aus zugewinkt; wir waren stolz auf dich."

"In der Biskaya wurde ich seekrank. Ich verwaltete in der Vorpiek die Farbenlast. Das Schiff stampfte in der groben See, hob sich mehrere Meter und fiel klatschend wieder ein Stockwerk nach unten. Es war wie in einem Fahrstuhl. Dazu kam der Geruch der Farben. Ich durfte die Farbenlast nicht verlassen und spuckte deswegen in die Farbtöpfe, bis aus dem Mund nur noch ein dünner Faden gelbgrüner Galle kam. Erst in der Hängematte, die ihre Lage nicht veränderte, kam ich zur Ruhe. Abends aß ich große Mengen Kartoffeln, um der See am nächsten Tag ein angemessenes Opfer darbringen zu können. Doch nach zwei Tagen war der Spuk zu Ende.

Mittlerweile hatten wir uns auch an den Vierstundenwachwechsel gewöhnt. Am schlimmsten war die Mitternachtswache von Mitternacht bis vier Uhr morgens, weil um viertel vor sechs schon wieder zum Wecken gepfiffen wurde. Wer die Mitternachtswache ging, kam aber in den Genuss des "Mitternachtswächters", eine heiße, sämige Graupensuppe, die aus großen Alumiumkannen ausgeschenkt wurde.

Auf der Rückreise erwischte uns am dritten Advent in der nördlichen Nordsee ein schwerer Sturm. Wir hatten wachfrei und kauerten in Lee auf dem Backbordseitengang und sahen den Brechern zu, die drohend auf uns zurollten und uns mit weißer Gischt überschütteten. Die Royals hatten wir schon bei den ersten Anzeichen des Sturms eingeholt; Freiwillige enterten hoch und nahmen auch die Oberbramsegel weg. Allerdings, Angst hatten wir nicht. Wir waren gut ausgebildet und stolz auf unser Schiff. Und waren wir nicht die Elite dieses Landes?

Schließlich musste auch das Großsegel geborgen werden, dazu wurde sogar die Freiwache gebraucht. Wir hingen, nach vorne gebeugt, in den Seilpferden, das Gesicht dem beißenden Wind und dem prasselnden Regen ausgesetzt. Mit beiden Händen griffen wir in das steif gefrorene Segeltuch, dass die Fingernägel brachen, und holten Zug um Zug das Segel hoch. Als das Grosegel an der Rah festgelascht war, waren wir erschöpft und stolz, dass keiner von uns versagt hatte.

Dann kam das Kommando "Besanschot an", und aus der Kombüse wurde ein Glas Rum ausgeschenkt, der glühend unsere Kehlen hinunterlief, unsere Gesichter rötete und sich mit der Geschwindigkeit eines Buschfeuers in unseren Eingeweiden ausbreitete.

"Viele fühlen sich berufen, aber nur wenige sind auserwählt", dieses Zitat von Thornton Wilder hätte über der Tür zur Offiziersmesse stehen können, als wir uns nach fünfundzwanzig Jahren auf einem Crew-Treffen wiedersahen. Viele Blütenträume waren nicht gereift, die jungen Helden waren an Schreibtischen gealtert; einige waren gestorben, und man murmelte etwas von einem Suizid."

"Aber viele haben es doch zu etwas gebracht. Zwei deiner Crew-Kameraden haben sich in unserer Stadt als Ärzte niedergelassen."

"Aber unter uns befand sich offensichtlich kein Genie, kein späterer Nobelpreisträger, Minister oder gar Kanzler, von dem man hätte sagen können: wir gehörten der gleichen Crew an."

"Du verlangst immer das Unmögliche."

 

Die Partei hat (nicht) immer Recht

 

Die Kreisgeschäftsstelle der Partei befand sich in einem unter Denkmalsschutz stehenden Gebäude - Nomen est Omen. Das Haus hatte in seiner Geschichte Könige beherbergt, die keine Geschichte gemacht haben, und Emporkömmlinge kommen und gehen sehen, die Geschichte gemacht haben, wie Wallenstein, kaiserlicher Generalissimus und Herzog von Friedland. Im zu Ende gehenden Jahrhundert war die Auswahl der Wichtigen und Mächtigen, deren Gegenwart das Haus sich rühmen konnte, klein geblieben. Selten genug war es vorgekommen, dass Minister oder gar der Kanzler der Republik hier Station gemacht hatten, wie früher die Postillione an einer Relaisstation die Pferde wechselten, auf der Durchreise. In Wahljahren schwoll der Besucherstrom stets an, um dann wieder zu versiegen wie ein Fluss in der großen Ebene in der Dürre.

Wenn die kleinen Mächtigen sich trafen, die Orts- und Kreisfürsten, die ihre Mittelmäßigkeit in der Provinz festgehalten hatte wie ein Hosenträger, der sich am Griff der Toilettentür verfangen hat, ging es nur noch darum, die Weichen für Stadt und Kreis zu stellen: wer in die nächste Ratsversammlung und wer in den nächsten Kreistag einzog, für wen die ehrenvolle Bezeichnung Senator reserviert war, der etwas von Thomas Manns "Buddenbroks" und der Erfurcht vor den Gesetzesmachern auf dem Capitol in Washington anhaftete, wer als Bürgervorsteher nominiert wurde und wer für die Partei in mehr als einen der wichtigen Ausschüsse entsandt wurde.

"Wir waren eine große Familie. Liberale, Sozis und Christdemokraten. Vereint im Streben für das Wohl der Wähler, nicht zu vergessen unser eigenes, die wir auch Wähler waren, nach wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt, größerer Steuergerechtigkeit, sprich weniger Steuern für den von uns gehegten und gepflegten Mittelstand, mehr Anerkennung für die Familie und natürlich weniger Opfer für die Bauern, auf deren Stimmen rot, schwarz und gelbblau gleichermaßen angewiesen waren.

Die Fraktionssitzungen fanden im Sitzungszimmer eines konservativen Hotels statt, in das die auf dem nahen Kanal vorbeifahrenden Schiffe abends mit ihrer Beleuchtung und den exotischen Namen der Heimathäfen am Heck den Geruch jener grenzenlosen Welt hereintrugen, über deren Geschicke hier nur am Stammtisch und nicht in Realitas verhandelt wurde. Und die auf den öffentlichen Versammlungen des Orts- oder Kreisverbandes stets anwesenden Vertreter der örtlichen Presse, die im Grußwort des Vorsitzenden deswegen auch lobend erwähnt wurden, übten sich notgedrungen in Erbsenzählerei, weil die große Politik ausgesperrt war: Die Kosten der Erweiterung des Klärwerks, die Sanierung des Freibades, die neue Namensgebung für die "Ludendorff-Straße", die lokalen Staub aufwirbelte, der Zuschuß für den Tierschutzverein - das waren die kommunalen und den Kreisglobus drehenden Themen. Es folgten die Berichte aus den Ausschüssen, gespickt mit dem Kleingeist der Provinz angemessenen Attacken auf den politischen Gegner, für den der freundlichste Kommentar so ausfiel: "Die dümmsten Bauern haben die größten Kartoffeln", schließlich waren wir ein Land der Agrarier und Milchbauern.

Auf den Mitgliederversammlungen beklagten wir die Überalterung der Partei, ein Debattierklub vergreister Studienräte. Und die wenigen Jungen waren angepasste Quislinge, die auf ihre Chance warteten, das Studium nach dem vierzehnten Semester abzubrechen, um die Lebensversicherung der Parteikarriere abzuschließen".

"Du bist ein Zyniker. Die Welt ist nicht nur ein Panoptikum mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde."

"Nein, aber übervölkert mit Möchtegern-Disraelis, Bismarck-Aposteln und Duce-Apologeten (der römische Gruß: "Salve Cäsar" war ja erlaubt).

Vor der Landtagswahl erhielt ich einen Anruf von der Geschäftsstelle.

Der Landesvorsitzende war unter dem "Bürgertelefon" einer großen Boulevardzeitung zu sprechen. Ausgewählte Parteimitglieder wurden gebeten, unter der angegebenen Telefonnummer anzurufen, um ihm Fragen zu stellen. Stichwortfragen natürlich, die ihm die Gelegenheit gaben, aus dem Wahlprogramm der Partei vorzulesen. Außerdem durfte die Aktion kein Flop werden, mit einem stummen Telefon und einem stummen Vorsitzenden."

"Mir fallen noch einige "nom de guerre" ein, wie die "rote Rita" und "Marondiale", die du häufiger erwähntest."

"In der Fraktion sollten alle relevanten Gruppen der Bevölkerung vertreten sein, nicht zu vergessen die Frauen.

Den langen Tisch zierte eine bunt gemischte Runde: Die Hausfrau, die Hauswirtschaftslehrerin, der Lehrer, der kaufmännische Angestellte, der Bankdirektor, der (konservative) Student, der Soldat, der aktive christliche Gewerkschafter, der mittelständische Unternehmer, der Handwerker, der Beamte des höheren Dienstes, der im Seniorenbeirat aktive Pensionär.

Rita organisierte Stadtteilfeste.

Der Bankdirektor blätterte in seinem in schwarzes Leder gebundenen Notizbuch und notierte Termine, wenn andere redeten.

Der mittelständische Unternehmer ließ die Quittung für Verzehr zurückgehen, weil die Mehrwertsteuer nicht extra ausgewiesen war.

Der Soldat berichtete von einem Grillabend, zu dem der Kleingartenverein eingeladen hatte.

Der Lehrer dozierte zum Thema Gesamtschule ja oder nein.

Die Hauswirtschaftslehrerin berichtete ausführlich über die Nebenwirkungen ihrer Menopause und verwies dabei auch schamhaft auf ihr gestiegenes Gewicht.

Der Jungkarrierist mit der gegenwärtigen Berufsbezeichnung Student der Betriebswirtschaftslehre vermisste die soziale Komponente in der Neufestlegung der Tarife für den öffentlichen Personennahverkehr.

Der Bürgermeister, der als Gast anwesend war, langweilte sich, weil der städtische Haushalt aus Zeitgründen heute nicht diskutiert werden konnte. Schließlich glaubte er aber doch darauf hinweisen zu müssen, dass die freie Finanzspitze der Stadt nicht, wie der politische Gegner behauptete, besorgniserregend geschrumpft sei, sondern sich nur auf niedrigem Niveau verstetigt habe. Dann blickte er auf die Uhr und entschuldigte sich, dass er leider schon gehen müsse. Doch er habe noch einen dringenden Termin wahrzunehmen. Zur Verdeutlichung der Unaufschiebbarkeit dieser Verpflichtung stand bereits, die Mütze respektvoll in der Hand, sein Fahrer wartend in der Tür zum Sitzungszimmer. Wir nickten alle verständnis- und gleichzeitig respektvoll und verabschiedeten ihn mit lautem Klopfen der Fingerknöchel auf die Tischfläche. Schließlich wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass ihn ein Ruf aus der Landeshauptstadt ereilt habe, vom Ministerpräsidenten höchstpersönlich ausgesprochen, dem er sich kaum werde entziehen können. Hinter ebenso vorgehaltener Hand wurde deswegen schon heiß seine Nachfolge diskutiert.

Aber die Mehrheitsverhältnisse im Rat waren eindeutig, und seufzend gestanden wir uns ein, dass die Stadt deswegen für die nächsten sechs Jahre wahrscheinlich von einem ehemaligen Bahnhofsvorsteher regiert werden würde.

Sicher waren wir alle Demokraten, aber ein roter Bahnhofsvorsteher, war das nicht etwas zu egalitär?"

 

Die Geschichte von Aufstieg und Fall

 

Die Einheimischen kannten das große weiße Gebäude mit der grauschwarzen Schieferbedachung nur als die "Villa". Als es vor über hundert Jahren erbaut wurde, war es nur einen Steinwurf von dem Fluss entfernt, der über einen Kanal Nordsee und Ostsee miteinander verband. Der nahe Hafen war ein wichtiger Umschlagplatz für Kohle aus England, Eisenerz aus den nordischen Ländern und Holz aus dem Baltikum. Von den Fenstern seines Büros im Erkerzimmer im ersten Stock blickte der Konsul auf den Mastenwald der Schoner und Rahsegler, die im Hafen lagen, Ladung aufnahmen, gelöscht wurden oder nur darauf warteten, die Schleuse passieren zu können.

Dann ersetzte der neue Kanal den alten, der Fluss verlor als Schifffahrtsweg schnell an Bedeutung. Schließlich wurde die Schleuse mit Erde aufgefüllt, und aus dem unteren Flusslauf wurde ein totes Gewässer, das versandete und jetzt drohte, von dem Schilfgürtel auf beiden Ufern allmählich erdrosselt zu werden.

Aber die Villa blieb Sitz der alten Kaufmannsfamilie. Auch als am Stadtrand ein neues Verwaltungsgebäude für die Firmengruppe errichtet wurde.

Doch die Konsuln starben aus, ihre Nachfolger rieben sich in Erbfolgekriegen der verschiedenen Familienzweige auf, mussten im Kampf gegen Rezession und gewandelte Marktbedingungen Terrain aufgeben, waren ohne Fortune und hatten vielleicht auch nicht das Format ihrer Vorgänger, deren in Öl gemalte Porträt im Sitzungszimmer an der Wand hingen.

Irgendwann nach dem Tode des letzten Konsuls wurde die "Villa" als Firmensitz ganz aufgegeben. In dem unübersichtlichen, auf mehreren Ebenen verschachtelten Gebäude blieben noch ein alter Buchhalter und zwei weitere Mitarbeiter, die dort ihrer Pensionierung entgegensahen und im übrigen ein wachsames Auge auf das leerstehende Gebäude hatten, das mit den Jahren mehr und mehr herunterkam.

"Es war an einem kalten Januartag, als ich die "Villa" nach mehr als zwanzig Jahren wieder betrat und von dem alten Buchhalter durch die Räume geführt wurde.

Im Sitzungszimmer sahen mich die Vertreter mehrerer Generationen des alten Kaufmannsgeschlechts aus nachgedunkelten Porträts in Öl an, auf deren Rahmen jahrelang kein Staub gewischt worden war. Sie fragten sich, ob ich ihrem Stammsitz wieder Leben einhauchen konnte oder ob ich vor dieser Aufgabe versagen würde, und als ich hinter dem Buchhalter den Raum verließ, sah ich mich noch einmal um und nickte meinen Vorgängern schüchtern lächelnd zu.

Im Zimmer des alten Konsuls stand noch sein Sekretär. In einer offenen Zigarrenkiste lag eine einzelne Zigarre, daneben ein Zigarrenabschneider. Der ledergepolsterte Stuhl vor dem Sekretär hatte abgewetzte Lehnen, und das Zimmer roch nach Staub und alten Akten.

Die ehemaligen Büros im Erdgeschoß hatten halbhoch verglaste Wände, damit die Abteilungsleiter den Fleiß ihrer Mitarbeiter kontrollieren konnten. Hinter einer Milchglasscheibe mit der verschnörkelten Aufschrift "Privat" hatte der alte Konsul sein Büro, nachdem er an den Rollstuhl gefesselt war und die Treppe in den ersten Stock für ihn ein unüberwindliches Hindernis wurde. Danach war das Erkerzimmer mit dem daran anschließenden Wintergarten verwaist.

Als er starb, wurde die Tür mit der Aufschrift "Privat" zugemauert, wie eine Grabkammer.

Vom Erkerzimmer blickte ich auf den Fluss, das restaurierte alte Packhaus und das zugeschüttete Schleusenbecken, in dem ein kleiner Teich angelegt worden war, den Wasser speiende Figuren einrahmten.

 

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