Yvonne Habenicht

Du liebe Zeit



Mit der Zeit geht es mysteriös zu, denn obwohl sie immer vorhanden ist und von uns penibel in Sekunden, Minuten und Stunden eingeteilt wird, verbringen wir einen Großteil der Zeit damit, zu behaupten, wir hätten keine Zeit. Keine Zeit zu haben, ist sozusagen eine positive Entschuldi-gung, denn damit signalisieren wir gleichzeitig, wie wichtig und beschäftigt wir sind, wie sehr wir gebraucht werden. Nur gesellschaftliche Außenseiter leisten es sich heutzutage, zum Müßiggang und zum Nichtstun zu stehen, und bekennen unendlich viel Zeit zu haben.
Was mich betrifft, wage ich mal offen zu sagen, dass ich für die meisten Dinge, für die keine Zeit zu haben ich vorgebe, ich sehr wohl Zeit hätte. Ich fülle sie nur gern mit anderen Dingen. Ich hätte z.B. seit Wochen hundert Mal Zeit gehabt, den Papierwust auf meinem Schreibtisch zu sor-tieren, ziehe es aber vor, das Internet nach Informationen umzugraben, die ich gar nicht brauche. Ebenso hätte ich Zeit gehabt, mich längst mit meinen alten Bekannten Marie und Werner zu verabreden. Da mir aber Maries Geschwätz und Werners Aufschneiderei auf die Nerven gehen, bekunde ich dauernd am Telefon, wie Leid es mir tut, dass ich wieder keine Zeit habe, weil ich mir Arbeit mit heim nehmen musste, Besuch bekomme; oder was dergleichen wichtige Vor-kommnisse mehr dem im Weg stehen. Wer wäre denn auch so unhöflich, zu sagen: „Sorry, aber ich habe auf eure Gesellschaft keine Lust.“ Das Gleiche trifft auf die Telefonate von Anna zu. Ich kann sie doch nicht kränken, indem ich ihr sage, wie öde ich es finde, mir eine Stunde lang ihre ständigen Familienzwiste anzuhören. Nein, nach 10 Minuten vertröste ich sie auf ein anderes Mal, weil ich gerade jetzt aus diesem oder jenem Grund keine Zeit habe.
Ich bin keine gesellschaftliche Außenseiterin, keine Aussteigerin, keine Stadtstreicherin. Darum kann ich auch nicht zugeben, dass ich im Grunde ungeheuer gern faul bin. Einfach faul und mü-ßig. Ich genieße das Nichtstun, lasse die Zeit dann sanft an mir vorbei streichen als triebe ich auf einem trägen Wasser dahin. Dann lasse ich meine Gedanken fliegen, sinnvolle und sinnlose, logi-sche und verquere. Zugegeben, manchmal meldet sich zwischendrin der gesellschaftlich erwartete Eifer; jede Minute mit sinnvollem Tun zu füllen, mit wichtigen Dingen, die einem für anderes keine Zeit lassen. Ich weiß, dass in der Küche mal wieder der Abwasch wartet, die Balkonpflan-zen nach Wasser dürsten, dass ich dringend einen lange überfälligen Brief schreiben und tausend begonnene Tätigkeiten vollenden müsste. Aber was soll’s? Jetzt gerade habe ich keine Zeit zu alledem, denn ich muss unbedingt faulenzen, mich auf der Couch ausstrecken, eine Fernsehserie sehen und Kekse knabbern.
Ich sage mir, dass mir das nach einer Arbeitswoche zusteht. Schließlich muss ich meine Energie reproduzieren, damit ich die folgenden Tage wieder der beruflichen Tretmühle standhalten kann.
Ich muss meine Nägel maniküren, eine Gesichtsmaske auflegen und zur Schonung meine Augen schließen, damit sie nicht überanstrengt werden. Ich bin heilfroh, allen gesagt zu haben, dass ich keine Zeit habe. So habe ich jetzt Zeit für mich, habe weder jemanden gekränkt noch mich als Faulenzer geoutet.
Nachdem ich noch zwei Anrufern glaubhaft mitgeteilt habe, dass ich keine Zeit habe, beginnt die Zeit um mich her eine eigenartige Wandlung durchzumachen. Das sanft dahin treibende Wasser gewinnt an Tempo, die Uhr mahnt, dass auch dieser Tag endlich ist. Ich rappele mich auf; und mein Alltagsgewissen fragt mich, ob ich mit meiner kostbaren Freizeit nichts Besseres anzufan-gen weiß, als hier herumzuhängen.
Ich beseitige lustlos den Abwasch und betrachte mit Abscheu den Papierhaufen auf dem Schreib-tisch. Nein, das nun doch nicht. Dafür ist die kostbare Freizeit einfach zu schade. Ausgeruht bin ich jetzt. Nun müsste man was unternehmen, mit ein paar Leuten treffen vielleicht, den Tag an-genehm und sinnvoll ausklingen lassen. Allerdings habe ich allen möglichen Leuten zuvor versi-chert, wie es um meine Zeit bestellt ist, die ich nicht habe. Immerhin könnte man sagen, dass die vorgenommene Arbeit doch schneller erledigt war, der Besuch abgesagt hat und der Computer abgestürzt ist. Gesagt, getan, und ich verbringe den Abend in Gesellschaft von ein paar Freunden und finde die Unterhaltung gar nicht so schlecht. Am Ende sind wir uns alle einig: das sollten wir öfter machen, auch wenn wir noch so im Stress sind, man muss sich eben die Zeit einfach neh-men.
So wird die Nacht zum Montag wieder mal zu kurz. Statt ausgeruht vom Faulenzen, ausgeschla-fen und gut gelaunt, komme ich mit kleinen Augen, nachlässig frisiertem Haar und todmüde zur Arbeit. Aber so ist das eben, wenn man nie richtig Zeit hat und das Wochenende immer viel zu kurz ist für die vielen Dinge, die man tun möchte.

Copyright© by Yvonne Habenicht
Berlin 2003

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.04.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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