Sylvia Sagmeister

Leider nicht

Ein Brieflos lag auf Helgas Schreibtisch. Helga setzte sich, wendete das Los zwischen den Fingern. "Weißt du, wie das hier her kommt?", fragte sie Ruth, ihre Kollegin. Ruth tat teilnahmslos. "Keine Ahnung", murmelte sie.
"Ob das Hermann verloren hat?", überlegte Helga. Hermann hatte am Vortag seine Pensionierung gefeiert. Wie alle anderen zuvor hatte auch er sechzig Brieflose von den Kollegen als Abschiedsgeschenk erhalten. Vielleicht hatte er eines verloren. "Hermann kommt nicht mehr", drängte sich Ruths Stimme in ihre Gedanken.
"Ich weiß. Soll ich's öffnen?"
"Wie du willst. G'winnen kannst eh nix." Ruth schnappte Bleistift und Block. "Ich muss. Der alte Lustmolch braucht schon wieder was. Wenn Tom anruft ..."
"Alles klar, geh nur!"
Jeden Tag rief Tom, Ruths Ex-Mann, an und bedrängte ihre Kollegin. Jeden Tag musste sie sich diese ermüdenden Diskussionen anhören und jeden Tag wünschte sie sich weit, weit weg.
"Frau Grabner! Ich brauche das Protokoll von gestern!"
"Sofort, Herr Oberamtsrat, ich bin gleich fertig."
Seufzend schaltete sie den PC ein, wartete, bis er hochgefahren war, ein Lob auf die Technik, Start - Dokumente - Protokoll, ihre Finger flitzten über die Tastatur. Protokoll der Sitzung vom ... für den Herrn Oberamtsrat. Jeden Tag kam er, dieser Herr Oberamtsrat, jeden Tag in diesen fünfzehn Jahren, die sie hier arbeitete, jeden Tag mit einem dringenden Anliegen, zehn Minuten vor Beginn des Parteienverkehrs. Jeden Tag und jedes Mal, wenn der alte Kanzleivorstand - warum der mit seinen 68 Jahren noch immer nicht in Pension gegangen war, verstand sowieso keiner - ihre Kollegin beanspruchte. Mindestens eine Stunde lang. Alter, geiler Bock! In seiner ständigen Lüsternheit diktierte er ihr wahrscheinlich wieder seitenlange Briefe, nur um sich an ihrer zugegebenermaßen guten Figur ergötzen zu können. Na, für Ruth war es nicht schwer gut auszusehen. Keine quengelnden Kinder, kein Mann, der die Wohnung versaute und keinen Finger rührte, Zeit und Geld genug für Fitnesscenter und Beautyfarmen.
Und sie selbst? Gehetzt zwischen Wohnung, Schule und Büro, von dort retour in den Hort und nach Hause, Kinder bekochen, Dreck wegräumen (wieso produzierten zwei so junge Wesen so viel Mist?), die nach eisgekühltem Bier verlangende, immer drängendere Stimme des Mannes ignorieren, es reichte, wenn sie seine stinkenden Socken unter dem Sofa hervorangeln musste, das Bier konnte er sich selber aus dem Eiskasten holen, auf die Gefahr hin, dass er fünf Minuten irgendeines wichtigen Sportereignisses versäumte. Abends fiel sie todmüde ins Bett, gerade, dass sie noch ihre schmerzenden Glieder einer Warmwasser-Duschgel-Behandlung unterzog, fieberhaft nach einer neuen glaubwürdigen Ausrede suchend, um ihren immer bereiten Mann abwehren zu können. Im Kabel fand er sicher eine dieser unzähligen Sex-Shows, Taschentücher lagen genügend neben dem Bett bereit.
Nur nicht an zu Hause denken. Automatisch tippten ihre Finger die Vorlage in den Computer. Einmal nur ausspannen, einmal Urlaub machen, weit weg von allem, ohne Kinder, ohne Mann, ganz allein!
Ihr Blick fiel wieder auf das Brieflos. Und wenn ...? Blödsinn! Noch nie hatte sie etwas gewonnen, warum sollte ausgerechnet in diesem Brieflos das Glück liegen? Aber vielleicht, vielleicht lagen ein paar hundert Schilling darin, dann würde sie sich nach langer Zeit wieder einmal mit einer Kopfmassage beim Frisör verwöhnen lassen. Warum nicht. Eigentlich stand auch ihr ein wenig Glück zu.
Die Uhr zeigte drei Minuten vor halb neun. In drei Minuten begann der Parteienverkehr, dann rotierte sie bis Mittag ohne Unterlass. Ruth würde vor halb zehn nicht kommen. Jetzt oder nie. Mit einem Mausklick speicherte sie das Protokoll ab, drucken, okay, Datei schließen, beenden ... mit zitternden Händen knickte sie das Brieflos an der perforierten Linie, die Kanten ließen sich kaum umbiegen, ihre Fingerspitzen umklammerten den Rand, nun reiß schon ein, du ... vorsichtig, nur abreißen, nicht zerreißen, wie konnte ein einfaches Brieflos soviel Nervosität hervorrufen! Geschafft! Jetzt aufklappen, einmal, zweimal, gleich, gleich würden die Worte erscheinen: "leider nicht" und ihre Kopfmassage würde sich in Luft auflösen, wie alle ihre Träume, die letzte Klappe geöffnet ... das Los entglitt ihren Fingern, blieb in ihrem Schoß liegen.
Das konnte nicht wahr sein! Das war unmöglich! Überdimensional groß stachen ihr die Ziffern ins Auge: ein Einser und sieben Nullen! Zehn Millionen! Das, das konnte nur ein Scherz sein!
Jemand klopfte an die Tür. "Guten Morgen, darf ich eintreten?" Ein etwa sechzigjähriger Mann streckte seinen Kopf durch den Türspalt. Schnell stopfte Helga das Los in ihre Handtasche. "Ja, ja, geht schon."
Nur die Ruhe bewahren, nur nichts anmerken lassen. Er trat an ihr Pult, legte Formulare darauf und fischte mit spitzen Fingern eine Lesebrille aus der Brusttasche. "Sie sehen so blass aus", merkte der Mann über seine Brillenränder hinweg an, "geht es Ihnen nicht gut?"
"Doch, doch, danke."
"Da, nehmen S' ein Naps." Freundlich lächelnd hielt ihr der Mann ein Säckchen entgegen. "Danke, sehr lieb."
Mechanisch nahm sie den Antrag auf, stempelte, unterschrieb, legte ab, eine Partei nach der anderen verlangte ihre Aufmerksamkeit. Ruth weilte noch immer bei ihrem Kanzleivorstand, der ließ sie heute gar nicht fort, zum Glück hatte wenigstens Tom noch nicht angerufen. Helga stempelte die ihr vorgelegten Formulare, grüßte, dankte, dachte nicht nach, konnte nicht denken, unablässig hämmerte es hinter ihrer Stirn: zehn Millionen, zehn Millionen, zehn Millionen. Endlich kam Ruth, gerade als die letzte Partei die Türe hinter sich geschlossen hatte. In ihrer linken Hand balancierte sie zwei dampfende Tassen, in der rechten einen Teller mit marmeladegefüllten Blätterteigecken.
"Ribisel. Spende vom Alten."
"Danke!"
Erschöpft sank Helga in ihren Stuhl zurück. Zehn Millionen, zehn Millionen, zehn Millionen ...
"Hast du das Los geöffnet?"
"Was?", fuhr Helga erschrocken auf.
"Das Brieflos!"
"Ach ja." Nur jetzt die Stimme unter Kontrolle halten, nur nicht zittern.
"Und?"
"Was schon. ,Leider nicht'."
"Hab ich mir gleich gedacht. Da kann man nix g'winnen damit."
Eine Stunde später räumte Ruth ihren Schreibtisch auf. "Ich hab mir Bankstunden g'nommen", erklärte sie. Helga atmete auf. Sie mochte Ruth, sie war nett, hilfsbereit, lieb, aber sie konnte kein Geheimnis für sich behalten. "Mach's gut, bis morgen", verabschiedete sie sich.
"Ciao!"
Helga wartete noch fünf Minuten, bis sie sicher sein konnte, dass Ruth nichts vergessen hatte.
Und jetzt?
Zehn Millionen! Sollte sie heimgehen? Ihren Kindern, ihrem Mann davon erzählen? Sie sah die zehn Millionen förmlich zwischen ihren Fingern zerrinnen. Jürgen träumte noch immer vom Eigenheim im Grünen, die Kinder von Ferien im Disneyland, ihre Mutter verlangte sicher, dass sie der maroden Firma ihres Vaters auf die Sprünge half, die Schwiegermutter die finanzielle Absicherung der Enkerl.
Und sie? Helga P.?
Was wollte sie?
Zeit, sie musste Zeit gewinnen. Keinem ein Sterbenswörtchen verraten, alles geheim halten. Und dann ...
Eines Tages würde sie fort sein, unerreichbar, neu gestylt mit neuem Outfit, weit weg, irgendwo, wo sie in der Sonne sitzen und mit der Seele baumeln konnte, irgendwo, wo ihr keiner die zehn Millionen wegnehmen und für sich verwenden konnte, irgendwo würde sie ein neues Leben beginnen.
Allein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.04.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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